Momentaufnahme
Der Ton in den Fahrradgeschäften wird rauer
Es sind verrückte Zeiten, auch und insbesondere in der Fahrradbranche. Nach dem bundesweiten Lockdown und den Schließungen im nicht systemrelevanten Einzelhandel, blickte man in der Fahrradbranche zunächst sorgenvoll in die nahe Zukunft. Daran konnte auch nichts ändern, dass zumindest die Werkstatt unter strengen Auflagen weiterlaufen konnte. Nach den Lockerungen und der Erlaubnis, dass Fahrradgeschäfte unter Hygieneauflagen wieder öffnen durften, wurden die Fahrradgeschäfte von den Kunden förmlich überrannt. Der Fahrradeinzelhandel ist einer der wenigen Bereichen in der Einzelhandelslandschaft, die in den Wochen nach den Lockerungsmaßnahmen wieder Boden gut machen konnte. Dies zeigen auch die soeben veröffentlichten Zahlen, die der Handelsverband Deutschland soeben veröffentlichte: So verzeichnete der Fahrradeinzelhandel im März 2020 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum ein Umsatzminus von 13,9 %, doch schon im April 2020 lagen die Fahrradhändler im Vergleich zum April 2019 wieder mit 0,5 % im Plus – und das obwohl die Fahrradläden bis Mitte April – in Bayern noch etwas länger – geschlossen bleiben mussten. Zum Vergleich: Der Einzelhandel mit Schuhen lag im März 2020 bei minus 52,9 % und im April 2020 sogar bei minus 68,3 %. Insgesamt rechnet der HDE mit einem Umsatzminus von 40 Mrd. EUR im Nicht-Lebensmittehandel – immer vorausgesetzt, es kommt keine zweite Pandemiewelle.
Lage bleibt angespannt
Von solchen Szenarien ist der Fahrradhandel glücklicherweise weit entfernt. Ganz im Gegenteil: In den letzten beiden Monaten hielt der Besucheransturm in den Fahrradgeschäften weiter an, wie Fahrradhändler im Gespräch mit velobiz.de, aber auch Einschätzungen der Handelsverbände bestätigen. „Die Fahrradbranche hat sich nach dem ‚Lock-Down‘ schnell wieder erholt und konnte aufgrund der allgemeinen Umstände schnell wieder gute bis sehr gute Umsätze einfahren“, heißt es beispielsweise vom Verband des Deutschen Zweiradhandels (VDZ).
Von Entspannung kann aber nicht die Rede sein. Das liegt zum einen an der schleppenden Warenversorgung. „Ein Großteil der Branche muss mittlerweile Umsatzeinbußen aufgrund von Sortimentslücken hinnehmen, die auch nicht wie gewohnt aus den Beständen der Lieferanten aufgefüllt werden konnten, da diese entweder auch Probleme mit ihren Vorlieferanten oder eigene Vorordern storniert haben“, berichtet der VDZ. Aber auch im Kundenverhalten gibt es offenbar drastische Veränderungen. „In den ersten Wochen nach den Lockerungen war die Kundschaft noch sehr verständnisvoll, was Wartezeiten im und sogar vor Einlass ins Geschäft anbelangte“, sagt eine Fahrradhändlerin gegenüber velobiz.de. Mittlerweile steige jedoch die Ungeduld, gerade wenn es um Reparaturen geht, aber auch wenn bestellte Räder nicht ausgeliefert werden können. „Einige Kunden reagieren dann richtig unverschämt, wenn sie erfahren, dass eine längere Wartezeit einkalkuliert werden muss“. Der Ton in den Fahrradgeschäften wird wieder rauer.
Befeuert wird dies durch übervolle Werkstätten in den Fahrradgeschäften. Fehlendes Personal, lange Lieferzeiten bei der Ersatzteilversorgung, aber auch ausverkaufte Ware im Fahrrad- und Zubehörsegment bringen Fahrradhändler immer häufiger in Erklärungsnot – und so manchen Kunden offensichtlich gehörig in Rage. Eine unschöne Mischung und eine Situation, bei der es keine Gewinner gibt.
Facebook-Post geht durch die Decke
Um eine Lanze für den Fahrradfachhandel zu brechen, hat ein Außendienst-Mitarbeiter eines süddeutschen Großhändlers einen Post auf seinem privaten Facebook-Account verbreitet. Dort wirbt er, getrieben von eigenen Erfahrungen bei Besuchen seiner Fachhandelskunden, um Verständnis in der Ausnahmesituation. Mit der Reaktion auf seinen Post hatte der Außendienst-Mitarbeiter nicht gerechnet. Innerhalb kürzester Zeit wurde der Post mehrere hundert Male kommentiert und geteilt. Wer die Kommentare als Fahrradhändler durchliest, braucht jedoch ein dickes Fell: Ein Großteil der Kommentatoren spart nicht mit harscher Kritik und sehr viel Unverständnis für die aktuelle Situation in vielen Fahrradgeschäften. „Jammern auf hohem Niveau“, „Sollen sich nicht so anstellen“ oder „Liegt doch nur an der schlechten Organisation“, sind noch die weniger aggressiven Formulierungen. Dass dabei einige Kommentatoren auch unter die Gürtellinie zielen und sich im Ton vergreifen überrascht angesichts der oftmals üblichen Diskussionskultur in sozialen Kanälen dabei freilich nicht.
Da sollte sicher nicht jedes dort geschriebene Wort auf die Goldwaage gelegt werden. Was aber an der Stelle trotzdem sehr deutlich wird: Von dem Zusammengehörigkeitsgefühl, dem Zusammenhalten, das zu den Hochzeiten der Corona-Pandemie und während des Lockdowns immer wieder spürbar war, und von dem immer wieder berichtet wurde, ist offenbar genauso schnell wieder viel verloren gegangen.
Erleben Sie dies als Fahrradhändler aktuell ebenfalls so in ihrem täglichen Geschäft? Oder haben Sie ganz andere Erfahrungen? Dann freuen wir uns, falls Ihnen aktuell dafür etwas Zeit bleibt, über ein paar Zeilen an velobiz.de. Nutzen Sie bitte die Kommentarfunktion.
für unsere Abonnenten sichtbar.