17. SPEZIALRADMESSE 2012
DETAILPFLEGE UND DIE LUST AN DER LAST
vor allem die Weiterentwicklungen im Detail und neue Transportlösungen, die Freaks wie Fahrradfans begeisterten. Die Technik, die das Bastler- und Fricklertum mittlerweile meilenweit hinter sich gelassen hat, macht allmählich kleinere Schritte, nachdem in den letzten Jahren vor allem im Trike-Sektor die neuen Produkte am laufenden Band aus den Stuben ihrer Entwickler ploppten.
Eine gewisse Konsolidierung ist im Dreirad-Bereich eingekehrt, stellt auch Veranstalter Hardy Siebecke fest. „Das bedeutet jedoch nicht, dass das Spezialrad an Aufmerksamkeit verliert“, so Siebecke, „es wird für die Öffentlichkeit aber immer selbstverständlicher.“ Und damit zu einem Rad, das für viele interessant wird, zumal der technische Level mittlerweile enorm hoch ist. Mit etwas über 100 Ausstellern ist dieser Stand im Vergleich zu den letzten Jahren praktisch gleich geblieben.
Und wie entwickelt sich der Handel in Zukunft? „Es wird allgemein eine stärkere preisliche Ausdifferenzierung geben“, meint Paul Hollants, einer der Chefs von HP Velotechnik, neben Hasebikes einer der zwei Branchengrößen. „Wir werden ein wesentlich breiteres Angebot im mittleren und unteren Preissegment bekommen, die Premium-Produkte wird es aber nach wie vor geben.“ HP deckt 2012 auch den unteren Preisbereich mit dem schnell und einfach zerlegbaren Einsteiger-Trike Gekko für 1.890 Euro ab. Am anderen Ende der Trike-Skala steht der voll gefederte Scorpion.
Bei Hasebikes setzt man auf Highend: Erstmals auf der Spezi war von den Waltropern das Klimax 5K zu sehen, ein Delta-Dreirad mit 500-Watt-Frontmotor und flexiblem Schlechtwetter-Verdeck für den Alltagspendler für 7490 Euro (international bereits auf der Eurobike vorgestellt).
Der Kampf um die Aufmerksamkeit
Rein medial steht dieses Jahr das E-Bike mehr im Fokus der Öffentlichkeit als das Spezialrad. Und entsprechend stellt der Veranstalter der Spezi etwas weniger Presse-Akkreditierungen als in den letzten Jahren fest. Dass das E-Bike das Spezialrad kannibalisiert, wollen er und die meisten Spezi-Beteiligten aber nicht gelten lassen, schließlich haben viele Hersteller dieser Nische ihre Räder schon elektrisch unterstützt, als der Motor für die breite Radbranche noch ein (Betriebshand-)Buch mit sieben Siegeln war. Auf dem etwas abseits gelegenen Extraenergy-Parcours, der zum zweiten Mal auf der Spezi die Besucher zum E-Testen animierte, waren nur wenige unterstützte Spezialräder vertreten – doch sie waren der Publikumsrenner, was auch für das Spezialrad spricht. Eine interessante Einschätzung: Im Nischenbereich sind manche Händler davon überzeugt, sich dank eines guten Konzepts Angebote mit Motor und die damit einhergehenden umfangreicheren Service-Leistungen sparen zu können – eine Einstellung, die man im Rest der Fahrradbranche nur noch bei sehr sportlich ausgerichteten Händler sieht.
Trotzdem: E-Unterstützung und Spezialrad passen gut zusammen, das zeigen auch viele Velomobile, die es wieder auf der Spezi zu sehen gab und die im Stadtbild immer noch für gehörigen Wirbel sorgen können.
Heavy Tools für schwere Jungs
Doch Detailpflege war einer der zentralen Begriffe der Spezialradmesse 2012. Und die kann weit gehen. Bei Icletta zum Beispiel: Hier gibt es etwa die Heavy-Duty-Variante des ICE Adventure-Trikes. Neben dem fünf Zentimeter breiteren Sitz bedeutet das vor allem einen verstärkten Rahmen, der Fahrern bis zu 150 Kilo viel Spaß am Dreiradfahren verschafft. Damit Vorwärtskommen leichter fällt, gibt es die ICE-Modelle nun auch optional mit Ansmann-Nabenmotor.
Auch beim Liegezweirad gibt’s wieder Bewegung. Flux zum Beispiel kommt mit einem neuen Kurzlieger in ungewohntem Schwarz-Weiß-Design. Das besondere am F 900, das in Baukasten-Modus konzipiert ist: Es kann sowohl mit 24- als auch mit schmalen 26-Zöllern ausgestattet werden. Der tatsächliche Unterschied der beiden Varianten in der Performance dürfte gering sein – „es ist vor allem auch Geschmacksache“, so der Flux-Macher Christian-Uwe Mischner. Harmonisch und agil wirkte das 24-Zöller bei der ersten Probefahrt jedenfalls – und warum sollte nicht auch das Liegerad seine Laufradgrößen-Diskussion haben. Der Einstiegspreis liegt bei 2.280 Euro. Mischner und Zox-Macher Sergio Gomez dachten auf der Messe in diesem Zusammenhang laut über ein Gemeinschaftsprojekt „Flox“ nach; das F 900-Konzept erlaubt bei kleinen Umbauten, das Rad mit Heck- wie auch mit Vorderradantrieb auszustatten – letzteres ist das Erkennungszeichen der Zox-Räder.
Gomez steuerte auch dieses Jahr wieder ein besonderes Trike bei: ein Rad mit Ladefläche hinter dem Fahrersitz und einer Haltestange für zwei stehende Mitfahrer. Der Arbeitsname Ben Hur trifft die Optik dieses Hop-on-hop-off-Taxis ziemlich genau. Als Shuttle zwischen den einzelnen Hallen wurde das Rad jedenfalls gerne genutzt.
Innovativer Kurvenkratzer
Oft versucht, aber noch nie gelungen: ein intuitiv bedienbarer Kurven-Neigemechanismus für Mehrspurer. Das französische Longabike – auf der Spezi als weit fortgeschrittener Prototyp zu sehen – könnte das Problem lösen. Das Delta-Konzept (ein gelenktes Rad vorne, zwei Räder hinten) arbeitet mit zwei einzeln aufgehängten, gefederten Hinterrädern, wobei sich die Schwingen gegenläufig bewegen und im rechten Schwingendrehpunkt auch das Ritzel für das angetriebene rechte Hinterrad sitzt. Links gibt es einen Nabenmotor. In der Rechtskurve gleicht das rechte Rad den Druck nach oben aus, der durch das aktive In-die-Kurve-Legen des Fahrers entsteht. Das linke schwingt nach unten – das Trike legt sich somit in die Rechtskurve. Der ausgetüftelte Mechanismus fühlt sich für viele Tester nach einer Proberunde fast schon selbstverständlich an. Wenn Christian und Vincent Longagna ihr Rad noch etwas erleichtern und das technische Design filigraner wird, hat das Longabike wohl gute Chancen auf dem Trikemarkt. Der Alltagsfahrer dürfte wegen der angenehmen Fahrdynamik, der mittleren Sitzhöhe und dem großen Gepäckfach hinter der Lehne ziemlich darauf abfahren.
Spaß mit Lasten
Bei aller Kontinuität der Spezi: Dieses Jahr gab es etwas mehr Wechseln bei den Ausstellern. Neu dazu kamen unter anderem zwei italienische: El Ciclo baut vorwiegend E-Bikes im Vintage-Stil. Stahlrahmen, Retro-Farben und gefederte Ledersättel bestimmen das Programm. Leder auch bei den Griffen. Die Stahlrahmen – darauf legt man Wert – werden in Italien hergestellt, unterstützt wird mit einem bürstenlosen Nabenmotor vorn oder hinten. Auch Cargobikes hat El Ciclo im Programm; unter anderem das Allungata, das dem deutschen Velonom Prana von Klaus Schröder ähnelt.Der konnte auf der Spezi erstmals den neu entwickelten rahmenfesten Frontträger für sein Lastenrad vorstellen. Ein im Träger integrierter Ständer sorgt dafür, dass das Rad auch bei schwerer Last an der Front sicher steht. Da der ursprüngliche Prana-Rahmen keine Aufnahmen besitzt, will Velonom im Sommer ein neues Modell vorstellen, das den Träger mit Abstützungen an Ober- und Unterrohr aufnehmen kann. Wie viele Hersteller zielt auch Schröder mit dem neuen Modell stärker auf gewerbliche Kunden und Behörden.
Anders der zweite neue Italiener auf der Messe: Bicicapace setzt auf moderne urbane Mobilität. Das Konzept ähnelt einem Bäckerrad mit kleinem Vorderrad. Der modular gestaltete Aufbau sitzt also vorn, der Fokus steht auf der wasserdichten Shopping-Transportlösung: 100 Liter soll die Kunststoff-Tasche am Steuerkopf fassen – ausreichend für den Wocheneinkauf einer Familie. Deckel zu, alles bleibt trocken, auch das Laptop, das dazu in ein separates, hängendes Etui der Tasche geschoben werden kann. Es gibt aber auch ein Ladeflächen-Modul aus Metall fürs Grobe und die Transportkiste für den Frachtkurier. Nichts für Schnellfahrer, doch die Räder überzeugen mit einem relativ stabilen Auftritt und wirken agil.
Eine große Familie
Auch wenn die Branche seit ihren Anfängen das Bastel- und Freak-Image abgelegt hat: Die Spezialradmesse in Germersheim ist weiterhin ein großes Familientreffen und ein Volksfest. Auf kaum einer anderen Messe findet man so viele Optionen für Kinder, von der beaufsichtigten Spielecke über Hüpfburgen bis hin zum Kinderparcours. Das Trike-Race am Samstag ist in seiner Art einzigartig und dank des actionreichen Parcours von Hasebikes ein starker Publikumsmagnet. Und die viel gerühmte entspannte Spezi-Wohlfühl-Atmosphäre ist in all den Jahren trotz all dem Trubel in den Haupthallen tatsächlich unübertrefflich geblieben.
Doch das und auch das wie gewohnt fast perfekte Wetter konnten nicht für die 10.000 Besucher der letzten beiden Jahre sorgen, der Zähler blieb 2012 bei 9.000 stehen. Vielleicht doch eine Folge davon, dass die Spezialradbranche finanziell nun einmal schlechter ausgestattet ist als die großen E-Bike-Hersteller und der, der lauter schreien kann, auch mehr Aufmerksamkeit bekommt? Wie auch immer, die Aussteller lobten fast schon obligatorisch das starke Interesse der durchgängig vorinformierten Besucher und freuten sich darüber, wie einfach es auf der Spezi ist, Nähe zum Verbraucher zu demonstrieren und aus seinem Feedback wieder Nutzen zu ziehen. Allein dafür lohnt sich auch für die größeren Firmen wie Schwalbe oder Busch und Müller die Teilnahme sicher auch in Zukunft.
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