Markt // Studie Wuppertal Institut
Die Fahrradbranche gewinnt an Gewicht
Schon mit ihrem Titel »Fahrradwirtschaft in Deutschland. Unternehmen, Erwerbstätige, Umsatz.«, zeigt die Studie, dass sie das große Ganze der Branche in den Fokus nimmt. Wenn es darum geht, die Interessen der Branche in das rechte Licht zu rücken, ist es gegenüber politischen Entscheidern überaus hilfreich, dabei auf eindrucksvolle Zahlen zurückgreifen zu können und so die eigene Relevanz zu belegen. Gerade die Fahrradbranche, die oftmals in ihrer wirtschaftlichen Bedeutung unterschätzt wird, kann solche Belege gut gebrauchen.
Das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie und das Institut Arbeit und Technik der Westfälischen Hochschule hat sich dieser Aufgabe angenommen und ein in der Tat beeindruckendes Zahlenwerk geliefert. Den Auftrag dafür gab ein Verbandstrio bestehend aus Bundesverband Zukunft Fahrrad (BVZF), dem Verbund Service und Fahrrad (VSF) sowie dem Zweirad-Industrie-Verband (ZIV).
Bekommen haben sie eine sehr detaillierte Aufschlüsselung der Branchenentwicklung, die bis einschließlich 2019 reicht und damit sehr aktuell ist. Die Pfunde, mit dem die Branche künftig wissenschaftlich belegt wuchern kann, sind zunächst einmal zwei große Zahlen: 37,7 Milliarden Euro erwirtschaften die 281.000 Beschäftigten und Selbstständigen in Deutschlands Fahrradwirtschaft. Damit beschäftigt die Branche mehr Menschen als etwa die Bahnbranche und selbst die deutsche Automobilwelt mit ihren 832.000 Beschäftigten scheint plötzlich gar nicht mehr so fern.
Besonders interessant ist diese Studie aber, weil sie nicht einfach einen groben Überblick gibt, sondern sehr detailliert die Gesamtzahlen aufschlüsselt und die Entwicklung seit 2013 aufzeigt. Das sich ergebende Bild ist eindrucksvoll und belegt einmal mehr die sehr positive Entwicklung der letzten Jahre. Diese zeigt sich in den Beschäftigtenzahlen und setzt sich bei den Umsätzen fort.
Kernbranche scharf im Blick
Bei den Beschäftigten unterscheidet die Studie zwischen den drei Kernbranchen, Herstellung, Handel und Dienstleistungen, sowie vor- und nachgelagerten Branchen der Fahrradwirtschaft.
Rund 66.000 Menschen arbeiten in den sogenannten Kernbereichen der Branche. Die meisten Beschäftigten sind dabei im Handel zu finden, wo 43.000 Menschen sozialversicherungspflichtig oder selbstständig ihr Auskommen verdienen. Es folgt die Industrie mit 21.000 Beschäftigten und mit Abstand der Dienstleistungssektor mit 2100 Beschäftigten. Alle Bereiche haben seit 2014 erhebliche Wachstumsraten zu verzeichnen. Am größten fällt der Anstieg bei Dienstleistungen aus, wo binnen fünf Jahren die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter um über 100 Prozent gestiegen ist. Auch die Herstellung beschäftigt 15 Prozent mehr Menschen als 2015, der Handel gar 20 Prozent.
11.000 Menschen sind zudem in den Bereichen Infrastruktur, Verwaltung, Aus- und Weiterbildung, Lobby- und Informationsarbeit und weitere Dienstleistungen als vor- und nachgelagerte Teilbranchen zusammengefasst. Die meisten werden dabei im Bereich Infrastruktur gezählt, wo 7900 Menschen im Hoch- und Tiefbau, Stadtmöblierung und Betrieb tätig sind. Die Verwaltungen von Bund, Ländern und Gemeinden, die mit dem Radverkehr befasst sind, beschäftigen 1300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und stellen die zweitgrößte Gruppe. Versicherungen, Ladenbau, Speditionen, Messebetriebe, Prüfung, Normung, Werbewirtschaft und Softwareentwicklung stellen mit 1000 Beschäftigten den dritten Block. Es folgen mit je 500 beziehungsweise 300 Beschäftigten im Jahr 2019 die Bereiche Aus- und Weiterbildung sowie Verbände und Fachzeitschriften.
Gehört Tourismus zur Branche?
Für hochgezogene Augenbrauen wird bei einigen Beobachtern die hohe Zahl an Beschäftigten im Tourismusbereich sorgen. Die wenigsten würden beim Blick auf »die Fahrradbranche« eine derart hohe Bedeutung des Radtourismus vermuten. Ganze 204.000 der 281.000 Beschäftigten werden diesem Segment zugerechnet. Das lässt natürlich fragen, ob hier nicht sehr großzügig ein Wirtschaftszweig der Branche zugerechnet wurde, der genauso gut und vielleicht noch besser in andere Branchen gezählt werden könnte. Doch diese Verwirrung lässt sich schnell aufklären.
Gemeint ist natürlich nicht, dass sich in den Tourismusdestinationen 200.000 Zweiradmechaniker verstecken würden, sondern dass so viele Jobs von Radtouristen abhängen. Berechnet wird ein »Beschäftigungsäquivalent«, das sich errechnet aus der »Wertschöpfung durch Fahrradtouristen« geteilt durch das »Volkseinkommen pro Kopf«. Es handelt sich dabei um eine Methodik (von Dunkelberg et al., 2009), die volkswirtschaftlich zu ermitteln versucht, welche Wirkungen der Radtourismus zeigt.
Grundlage für die Rechnung ist die Berechnung des deutschen Tourismusverbandes e. V. und dwif Consulting. Auch die Radreiseanalyse des ADFC ist bei der Zahlenermittlung berücksichtigt. Wer sich die Herleitung des Beschäftigungsäquivalents genau ansehen will, findet diese Informationen in der vollständig verfügbaren Studie, die bei den involvierten Verbänden frei heruntergeladen werden kann.
Hohe Beschäftigung, starke Umsätze
Die gestiegenen Beschäftigtenzahlen gehen einher mit bemerkenswertem Umsatzwachstum. Dieses fällt prozentual noch stärker aus als bei den Beschäftigten. In der Zeit von 2013 bis 2018 konnte die Industrie ihren Umsatz von 4,7 auf 6,9 Milliarden Euro steigern. Das ist ein sattes Plus um 46 Prozent. Noch besser lief es im Handel, der in diesem Zeitraum auf ein Plus von 55 % kommt und damit 16,7 Milliarden Euro erwirtschaftete. Noch übertroffen wird das Wachstum vom Dienstleistungsbereich, der allerdings von niedrigem Niveau aus startete. Aus den 80 Millionen in 2013 wurden zuletzt 560 Millionen Euro, ein Plus von über 600 Prozent. Das liegt natürlich vor allem an der neuen Bedeutung, die Fahrradleasing, -sharing und -verleih inzwischen haben.
Dazu kommen weitere 11,6 Milliarden Euro aus dem Fahrradtourismus und fast zwei Milliarden aus den übrigen vor- und nachgelagerten Bereichen. Alles zusammengenommen erzielt die Fahrradbranche laut Studie damit einen stattlichen Gesamtumsatz von 37,663 Milliarden Euro. Wem diese Zahl überraschend hoch und fremd vorkommt, der hat vermutlich die Jahreszahlen von ZIV und VSF im Ohr, die deutlich niedriger ausfallen. Der ZIV hat in seinen letzten Jahreszahlen rund 7 Milliarden Euro für die Branche gezählt, der VSF kam auf einen Jahresumsatz 2019 von 6,3 Milliarden. Auch hier ist eine Erklärung notwendig. Die Studie weist darauf hin, dass sich die genannten Zahlen auf den „steuerbaren Umsatz“ der Fahrradwirtschaft beziehen. Der ZIV ermittelt den Verkaufswert der produzierten Fahrräder, der VSF den Umsatz des Fahrradhandels. »Steuerbare Umsätze« sind Nettobeträge und nur solche, die im Inland getätigt werden. Sie sind die Summe von Einzel-, Großhandel und Handelsvermittlung, was zu besagten 16,7 Milliarden Euro Gesamt-Handelsumsatz führt. Darin enthalten sind auch Umsätze jenseits des Fachhandels, wie Online-Vertrieb, Baumärkte, Lebensmitteleinzelhandel und all die anderen branchenfremden Anbieter, die Fahrradsortimente führen. Wie erwähnt beziehen sich die Umsatzzahlen auf den Zeitraum bis einschließlich 2018. Da die nachfolgenden zwei Jahre auch nicht wirklich schlecht waren, dürfte eine aktualisierte Version noch deutlich höhere Umsätze ausweisen.
Weiteres Potenzial soll gefördert werden
Aus all diesen grundsätzlichen Entwicklungen ziehen die beteiligten Verbände sogleich ihre gemeinsamen Schlüsse und leiten daraus Forderungen ab, um das Wachstum fortzusetzen. In ihrem Fazit zur Studie weisen sie auf fünf Punkte hin, die für das Fahrrad sprechen. So gehen sie davon aus, dass der »Boom der Branche« fortgesetzt werden kann und weiter ein hohes Steigerungspotenzial besteht. Die mit der Studie belegte wirtschaftspolitische Bedeutung von Fahrrädern sollte dazu führen, dass der Radverkehr weiter und stärker gefördert wird. Eine Förderung der Branche sollte auch die Lieferketten und damit die Hersteller unterstützen. Zur Stärkung der Branche gehört auch eine Verbesserung der Radinfrastruktur, die finanziell möglich und abgesichert wäre, aber praktisch trotzdem nur sehr langsam umgesetzt wird. »Die Fahrradwirtschaft fordert hier von Politik und Verwaltung eine deutlich höhere Dynamik als bisher«, heißt es im Fazit der Verbände.
Damit einher geht die Forderung nach mehr Engagement von der Politik: »Radverkehrsförderung geht nicht ohne Auswirkungen auf andere Verkehrsträger. Der öffentliche Raum muss neu geordnet (»Mehr Platz fürs Rad«), die Prioritäten neu gesetzt werden (Radschnellwege, Fahrradstraßen, Komfort-Radwege). Innerorts muss die Differenzgeschwindigkeit verschiedener Verkehrsträger verringert und damit die Sicherheit erhöht werden. Die Fahrradwirtschaft erwartet von den politischen Entscheidern konsequentes und wirksames Handeln, um die Mobilitätswende zügig voranzubringen. Ziel sind lebenswerte Städte mit einem leistungsfähigen und klimafreundlichen Verkehrssystem.« Man darf hoffen, dass diese neue Datengrundlage ihren Teil dazu beitragen kann, das Fahrrad an sich und die Branche im Besonderen voranzubringen. //
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