Markt - Solid Tires
Die Luft ist raus!
Karl von Drais‘ Fahrmaschine, die letztes Jahr 200. Geburtstag feierte, war zwar dem Fahrrad alles andere als ebenbürtig, sie hatte aber ihren heutigen Artgenossen einen Vorteil voraus: Ein Plattfuß war unmöglich. Der Freiherr setzte mit seiner «Draisine« von Anfang auf Holzräder mit Eisenbeschlägen. Letztere machten die Lauffläche sehr widerstands-fähig – neben dem geringen Rollwiderstand war das bei den damaligen Straßen die wohl wichtigste Eigenschaft. Komfort und Handling litten allerdings eindeutig unter dieser Konfigurierung.
Später im 19. Jahrhundert rollten Einräder dann immerhin schon fast durchgängig auf schmalen Vollgummireifen über immer noch holprige Straßen. Erst gegen Ende des Jahrhunderts machten sich der französische Unternehmer Edouard Michelin und der englische Arzt John Boyd Dunlop daran, einen auswechselbaren, luftgefüllten Reifen aus Kautschuk für Fahrräder zu entwickeln. 1891 gewann Charles Terront die erste Tour de France auf Luftreifen von Michelin, und schon bald wurde die Technik auch für das Automobil adaptiert. Vorteile am Fahrrad waren nicht nur eine deutliche Gewichtsersparnis, höhere Sicherheit, besseres Handling, sondern vor auch viel mehr Komfort. Nachteil: Seither gibt es das Platten-Problem. Ein unablässiger Bestandteil des Pneus ist eben die Luft (Pneuma=Luft). Ist sie nicht drin, verliert der Reifen seine Form und die Funktion verabschiedet sich. Allerdings ist man in den letzten Jahren dem Problem schon umfangreich Herr geworden; hauptsächlich mit einer immer mehr besseren Karkasse und einer Gummi- oder sonstigen Schutzschicht unter der Lauffläche. Der Kompromiss zwischen Fahrsicherheit, Abrieb, Leichtlauf und Komfort ist immer feiner ausdifferenziert worden.
Eigentlich ist das Problem in den letzten Jahren beim engagierten Vielfahrer und Alltagspendler kaum mehr vorhanden: Wer hohe Pannensicherheit braucht, setzt auf Bereifung mit oben genannten Features und nimmt dafür ein etwas höheres Gewicht in Kauf. Doch bei Rädern, die nicht im privaten Besitz sind, sieht das manchmal anders aus – auch wenn sich das oft jenseits unserer Wahrnehmung abspielt: Sogenannte Solid Tires sind bei Leihrädern, aber auch bei Firmenflotten heute schon vielfach vertreten: Die Räder des in Deutschland neuen chinesischen Anbieters Mobike beispielsweise rollen auf einer Art Vollgummireifen.
Nexo: Kommt der Bedarf mit der Mobilitätswende?
Auf der letzten Eurobike konnten die Fachbesucher gleich mehrere Solid-Tire-Erzeugnisse vorwiegend aus Fernost kennenlernen. In einem kleinen Stand eines großen Standkontingents war mit dem Unternehmen Otrajet auch der Hersteller der Reifenmarke Nexo zu treffen. »Unser Reifen ist bereits seit fünf Jahren auf dem Markt«, erklärt Luke Chen, Sales Manager bei Otrajet. Das Chemieunternehmen aus Taichung produziert das Microcell-Material Nexell, aus dem der Grundstoff des Reifens besteht. Der Zugang war klar: »Wir wollten einen Fahrradreifen entwickeln, um den man sich einfach nicht mehr kümmern muss«, so Chen. »Und der Reifen funktioniert«, sagt er. Das Material werde trotzdem noch laufend weiterentwickelt. Den Fokus des Unternehmens sieht er aber derzeit auf andere Herausforderungen gerichtet: »Es ist schwierig, das nötige Vertrauen zu erlangen, damit die Verbraucher den Reifen wirklich ausprobieren. Unsere Herausforderung ist es vorerst, die Menschen überhaupt davon wissen zu lassen, dass es diesen Problemlöser gibt.« Radflotten-Chefs hingegen scheinen die Zeichen der luftlosen Zeit schon erkannt zu haben. »Wir haben viele Unternehmenskunden«, so Chen. »Zum Beispiel gibt es auf dem Google-Campus in Kalifornien 3000 Räder mit Nexo-Bereifung.« Auch Werksgelände sollen beste Einsatzgebiete für Nexo-Reifen sein; vor allem im Stahlgewerbe und überall dort, wo Produktionsbedingungen für eine erhöhte Pannenanfälligkeit von normalen Pneus sorgen, sieht man seine Zukunft.
Der Endverbraucher ist zwar auch Wunschpartner, doch der Brückenbau zu ihm scheint noch nicht weit fortgeschritten. Laut Chen kann man den Reifen über die englischsprachige, internationale Seite von amazon.com bestellen und erhält dann einen Nachlass direkt von Nexo, der Zoll- und Versandkosten ausgleichen soll. So soll man auf etwa 120 Euro für ein Paar Reifen kommen. Neben dieser psychologischen und organisatorischen Hürde ist auch die Montage des Reifens nicht ohne. Das Zweier-Set wird grundsätzlich mit einem Montage-Kit geliefert, das die passende Anzahl an sogenannten T-Bolts enthält, die patentierten Adapter für den Reifen, der ihn erst auf der (handelsüblichen) Felge halten, sowie ein Meißel-ähnliches Montage-Werkzeug, mit dem die T-Bolts in die Felge gedrückt werden. Was die Felgenbreite anbelangt, kommt man mit zwei unterschiedlich breiten T-Bolt-Varianten aus, so Chen.
Der Nexo-Reifen soll ähnliche Reibungs- und Leichtlauf-Eigenschaften wie ein normaler Reifen haben. Mindestens 5000 Kilometer Laufleistung garantiert der Hersteller, der die Reifen in Taichung bislang selbst herstellt. Seine Größen: Von 16 bis 29 Zoll und in verschiedenen Breiten. Derzeit hat Nexo 18 Angestellte – die Weichen stehen auf Wachstum.
Tannus: Sport als Aushängeschild
Das Unternehmen Trendwizzard mit Geschäftsführer Jens Krumbiegel ist für den Vertrieb von Tannus in der DACH-Region zuständig. Hier ist man also schon einen Schritt weiter. Tannus ist die Tochter einer koreanischen Chemiefirma, die unter anderem Sohlen für Nike produziert – kein schlechter Leumund. Seit 13 Jahren ist man bereits auf dem Reifenmarkt vertreten, mit dem neuen Tannus-System Aither 1.1 allerdings erst einige Jahre. Nicht zufälligerweise ist das System dem von Nexo sehr ähnlich – es gibt eine gemeinsame, aber wohl nicht gern erzählte Geschichte. Auch der Aufbau ist ähnlich: Das einteilige Tannus-Modul wird allerdings nicht per T-Bolzen, sondern durch eine Vielzahl kleiner Sicherungsstifte auf der Felge gehalten. Das Werkzeug, mit dem die Stifte so in die Felge gedrückt werden, dass sie von den beiden Felgenhörnern gehalten werden, gleicht dem Nexo-Werkzeug. In USA gibt es einige Partnerschaften mit großen Herstellern, darunter Specialized, die für Commuter-Räder Tannus-Reifen einsetzen. Doch Tannus wagt sich auch in den Sport: Das ukrainische Bahnrad-Team wurde 2017 mit Tannus-Reifen ausgestattet. Hier spricht man von einer Laufleistung von 10.000 Kilometern bei 1,5 Millimetern Abnutzung. – so weit kommt ein durchschnittlicher Tourenreifen selten. Das Ziel des fahrradbegeisterten Koreaners Yk Lee, Chef von Tannus und Sohn des Gründers: ein Tour-de-France-Team mit seinen Reifen auszustatten. Für etwa 65 Euro kann man im Internet einen Tannus-Reifen bestellen. Wie bei Nexo ist die Farb-Palette sehr bunt.
Continental: Mit herkömmlichen Reifen näher am Kunden
Reifen, die womöglich die Lebensdauer eines Fahrrads pannenfrei überdauern – diese Vorstellung drängt sich für Alexander Hänke, Produktmanager beim Reifenhersteller Continental nicht unbedingt auf. Im MTB-Bereich nutzt sich das Reifenprofil notwendigerweise je nach Einsatz ab, und ein Reifen-Durchschlagschutz wie der Huck Norris erhöht die Pannensicherheit des handelsüblichen MTB-Reifens enorm – wozu Reifen ohne Luft, die dann wieder andere Herausforderungen mit sich bringen?
»Im urbanen Einsatzbereich sähe ich da vielleicht Sinn«, so Hänke, »für das Leihrad oder das Rad, das ich am Bahnhof stehen lasse, und an das ich keine anderen Ansprüche habe, als dass es funktioniert, sprich, der Reifen nicht platt ist.« Dennoch hat man bei Conti auch in diesem Bereich Bedenken: »Die verwendbaren Schaumstoffe unterliegen natürlich auch einem gewissen Verschleiß, und der Reifen lebt auch dadurch, dass er in unterschiedlichen Bereichen mit unterschiedlichem Luftdruck gefahren werden kann.« Man setzt eher auf die klassische Methode: Spezielles Gewebe oder Gummi-Einlangen unter der Lauffläche. »Gewebe-Breaker laufen allerdings leichter, der Reifen ist daher schneller«, schiebt Hänke nach. Und Produktmanager Tobias Fischbach ergänzt: »Zum Anspruch von Conti gehört auch ein sportliches Fahrgefühl, da kommt man einfach um Luft und Gummi nicht drumherum. Den Kunden, der sein Rad liebt und pflegt, den macht man damit sowieso nicht glücklich. Und auch ein Baukasten-System, wie ich es mit dem herkömmlichem Reifen nutzen kann, scheidet beim Reifen ohne Luft auch aus: Beim Pneu kann ich beispielsweise einen Light-Schlauch für sportliche Zwecke einlegen, oder einen Pannenschutz-Schlauch. Grundsätzlich gilt: Wir sind einfach näher beim Endkunden als die Solid-Tire-Hersteller, deshalb ist das derzeit für uns auch keine Option.«
Schwalbe: weiche Schale, harter Kern
Wenn Schwalbe mit einem Solid-Tire-Produkt auf den Markt kommt, weckt der deutsche Hersteller damit vielleicht mehr Interesse als die schon jahrelange Existenz der asiatischen Produkte. Der Grund, warum sich der deutsche Anbieter von seinem neuen Airless-System deutlich mehr verspricht als von den bisherigen, liegt unter anderem im verwendetem Material, einem thermoplastischen Polyurethan: Das BASF-Erzeugnis Infinergy hat eine höhere Rückschnellkraft als die bisherigen für Solid Tires verwendeten Schaumstoffe. Das bedeutet im Falle des Reifens: Er soll ähnlich wie Luft unter Druck dämpfen und vor allem: sehr schnell wieder in seine Ausgangsposition zurückkehren. »Wir hatten den luftlosen Reifen natürlich schon länger im Blick«, erklärt Doris Klytta, Pressesprecherin von Schwalbe-Anbieter Ralf Bohle. »Wir wurden irgendwann auf ein Start-up aus den Niederlanden aufmerksam, das mit dem neuen Material experimentierte. So kam es zur Beschäftigung mit dem speziellen Material. Das System besteht nicht wie bei den anderen Anbietern nur aus Befestigungshilfe und Solid Tire: Der Reifen selbst ist ein marginal veränderter E-Bike-Reifen, wie Schwalbe ihn bereits im Programm hat, der Schaumstoff-Ring ist davon separiert.
Und noch ein wesentlicher Unterschied: »Man kann den Reifen, wie einen Motorradreifen, nur beim zertifizierten Händler montieren lassen. Der Reifenwulst des Energizer wurde verstärkt, da er besonderen Druck aushalten muss. Um ihn in der Felge unterzubringen, muss man mit einer Maschine arbeiten: »Zuerst wird der blaue Ring, etwa wie ein Felgenband, in die Felge eingelegt«, so Klytta. Dann legt man den Reifenwulst auf einer Felgenseite komplett ein. Für den letzten Montageschritt braucht man besagte Maschine. Für den Händler erschließt sich vielleicht damit eventuell ein neuer Kompetenz- wie Umsatzbereich.
Im Unterschied zu Nexo hat Schwalbes Airless-System, zumindest perspektivisch, die Möglichkeit zu einem Baukasten-System. Denn der modulare Aufbau macht es möglich, unterschiedliche Reifendecken als Airless-Reifen auf den Markt zu bringen. »Allerdings muss man beachten: Die Werkzeugform für den Airless Tube ist sehr teuer. Deshalb starten wir zunächst auch mit der einfachen Standard-Größe.« Aber die Entwicklungen sind nie ganz vorhersehbar: »Auch beim Marathon Plus dachten wir zunächst nur an eine Variante. Daraus ist ein ganzes Programm geworden.«
Trotzdem: Bei Schwalbe wird klar, dass man derzeit die Zukunft zumindest des Sportreifens nicht im Solid Tire sieht: »Der gefühlte Luftdruck des Airless liegt bei 3,5 Bar. Alles, was einigermaßen sportlich laufen soll, ist also mit einem Luftsystem derzeit besser aufgehoben«, so Klytta. Das liegt unter anderem am Gewicht und am Roll-widerstand; beides soll etwas höher liegen als beim herkömmlichen Pneu.
Dennoch spricht die Entwicklung Schwalbes für einen gewissen Marktdruck: Die Verleihspezialisten haben den Solid Tire entdeckt, und ein breit aufgestellter Hersteller sieht sich deshalb vielleicht heute gezwungen, mit einem eigenen Produkt mitzuziehen. Aber einen eindeutigen Vorteil hat das Produkt der Pressesprecherin nach: Mit dem separaten Gummi-Mantel in der Größe 40-622 sieht man sich in Sachen Handling und Sicherheit deutlich vor der Konkurrenz – und natürlich auf der hohen Qualitätsebene herkömmlicher Reifen. Hier kommt der komplette Reifen auf 84,90 Euro.
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