Trend - Bikepacking
Die Tasche macht das Abenteuert
Mal ehrlich: Ein Trekkingbike mit prallen großen Packtaschen in matten Grüntönen und Lowridern im entsprechenden Partnerlook an der Gabel, das versetzt uns gedanklich an den Donau-Radweg, an sanfte Hügel, an die sich schattige Biergärten lehnen. Ein Gravelbike mit Bikepacking-Taschen lässt uns im Kopf hingegen Abenteuer erleben: Visionen von ruppigen Schotterwegen und vielleicht sogar engen Pfaden, die sich an gefährlich steilen Hängen entlangschlängeln, ploppen auf. Es schaben die blockierenden kleinen Stollen auf dem Boden, es staubt, es platscht in der nächsten Senke. Die minimalistische Optik des Rads sowie der Taschen machen es aus – und letztere dürften ein Teil des Erfolges sein, den das Bikepacking derzeit in Deutschland feiert. Bikepacking, das ist eingebautes Abenteuer, das ist aber auch Natur pur und Unabhängigkeit für sportliche Radfahrer, für die das bisher aufgrund von fehlenden Gepäckträgern unmöglich war.
Die Sexyness des Underdogs
So ähnlich sieht es auch der Blogger Martin Moschek (
www.biketour-global.de
). Der Hamburger wuchs in der DDR auf, war als Schüler Leistungssportler. Nach einem Unfall war der Radsport für ihn gestorben, doch nach der Wende entdeckte er das Radreisen für sich. Ganz klassisch: »Sixpack, also mit Packtaschen, Lowrider, allem Drum und Dran.« 151 Länder hat der heute 44-Jährige seither mit dem Fahrrad bereist. Die letzten drei Jahre mit einem Gravelbike mit Bikepacking-Ausstattung. »Als vor gut drei Jahren die Gravel-Geschichte inklusive Bikepacking aus USA herüberschwappte, habe ich mir das genau angesehen. Da ging es um Endurance, um sportliches Fahren, um weite Strecken. Ich sah das skeptisch, wollte es aber mal probieren.« Spätestens beim Tuscany Trail, einem Gravel- und Crossabenteuer durch die Toskana, fing er Feuer. »Bikepacking ist eine totale Bereicherung«, so Moschek. »Dazu kommt: Ich habe in den Jahren meine Ausrüstung so optimiert, dass ich gar nicht mehr so viel Gepäck brauche, wie in klassische Gepäcktaschen passt. Und beim Bikepacking ist sogar das Taschenset deutlich leichter.« Auf der letzten Ostafrika-Reise per Gravelbike waren es gerade mal 12 Kilogramm, die die gefüllten Taschen wogen. Was er damit bekam, war die genannte Bereicherung – die Möglichkeit, flotter und sportlicher unterwegs zu sein, ein neues Reisegefühl.
»Ich sehe natürlich, dass Bikepacking diese gewisse Coolness hat – das ist wie der Underdog, der irgendwo zunächst leise auftaucht. Eine Fahrradkultur, die heute diverser, digitaler, moderner, auch politischer ist. Aber nicht politisch wie etwa der ADFC, sondern linker«, erklärt der Kommunikationsleiter eines großen Unternehmens im digitalen Bereich. »Und das Gravelbike ist im Vergleich zum Reiserad eine Rakete, schon wegen Optik und Sitzposition. Das ist natürlich viel cooler! Klassisches Radreisen ist im Vergleich, wie auf dem Sofa durch die Welt gleiten. Man kann sagen: Bikepacking ist ein bisschen wie Berlin, aber nicht wie das doofe Berlin.« Allerdings stellt sich nach dieser These auch die Frage, wann und wie der Underdog vom Mainstream vereinnahmt werden wird – wie es bei allen Trends ist, die sich halten.
Zunächst geht’s jedenfalls richtig ab: Wer sucht, findet im Netz mindestens 20 mehrtägige Gravel-Veranstaltungen für 2019. Sie und der »Overnighter«, von Brancheninsider Gunnar Fehlau dauerhaft befeuert, fördern die Beliebtheit der kleinen robusten Taschen enorm.
Trocken bleiben, cooler werden
Ein nicht zu überschätzender Gewinn für den deutschen Packtaschen-Platzhirsch Ortlieb ist das Alter der neuen Kunden: »Der Bikepacker ist deutlich jünger als unsere klassischen Gepäcktaschen-Käufer«, sagt Ralf Vogt, Marketing-Leiter bei Ortlieb. Mit enormem Effekt: »Unsere Marke wird dadurch vielfach verjüngt! Und klar – es sind ja auch coole Produkte«, schließt er an. Ein Begriff, den man auf die klassische Packtasche wohl nicht anwenden würde. Und was sind das für Kunden? »Bei uns kaufen das schlicht Tourer und Reisende aller Couleur, die keinen Gepäckträger haben. Grundsätzlich kommt das ja vom Mountainbike, doch wer heute hier zu Bikepacking-Taschen greift, der hat meist ein Gravelbike.«
Nach der Entscheidung für eine Serie ging es schnell: »Vor drei Jahren kam das Seat-Pack, die an Sattelrahmen und -Stütze befestigte Hecktasche. Das lief schnell überraschend gut, sodass wir gleich mit der Lenkertasche, also dem Handlebar-Pack, nachgelegt haben.« Das neue Frame-Pack gibt es jetzt in zwei verschiedenen Größen – schließlich sind auch Rahmen nicht alle gleich groß. Satte Zuwachsraten kennzeichnen die Produktrange: 30 bis 40 Prozent sollen es 2018 gewesen sein. Auch wenn das Unternehmen keine Verkaufszahlen herausgibt: Man darf davon ausgehen, dass sich die Nische sehr gut rechnet – dazu kommt noch die vorher genannte Verjüngung der Kundenstruktur, die ja ohnehin kaum in Geld auszudrücken ist. »Klar, der Backroller (die klassische wasserdichte Gepäcktasche von Ortlieb, die Red.) wird unser Renner bleiben«, meint Vogt. »Aber wir erwarten eine dauerhafte Bikepacking-Sparte auf dem Markt. Wenn in Zukunft weniger verkauft wird, liegt das tendenziell eher an der guten Haltbarkeit der Produkte«, so der Ortlieb-Mitarbeiter. »Der Trend läuft jedenfalls weiter – er ist auch Teil einer Entwicklung hin zu noch mehr Sport in der Natur, die erst so richtig Fahrt aufnimmt.« Das Packtaschen-System bei Ortlieb wird bald ein weiteres Modul bekommen – was, wurde vor Redaktionsschluss noch nicht verraten. Und das Feature »wasserdicht« ist für Bikepacker noch einmal wichtiger, da viele auf Minimalismus setzen und damit häufiger auf Übernachtungen im Freien als die klassischen Radwanderer.
Das scheint auch ein Grund zu sein, weshalb der Trend der kleinen Anschnall-Taschen den klassischen Gepäcktaschen-Markt nicht kannibalisiert: Wer ins Bikepacking einsteigt, macht das zusätzlich – es gibt keine Abwägung zwischen zwei Möglichkeiten, da zum großen Teil das benutzte Rad die Richtung vorgibt.
Also alles paletti in Sachen Taschen? Nicht ganz: Man wünscht sich mehr Öffnung der Händler für den Trend. »Da gibt es natürlich Bikepacking-Händler, die voll mitziehen, aber der klassische Händler tut sich damit oft sehr schwer«, erklärt Vogt. »Bei den Händlern herrscht da manchmal die Konservativität. Und wenn du in zwei Läden bist und nichts findest, bestellst du dann eben im Internet.« Dabei könnte das Produkt selbst ruhig eine Demonstration beim Händler vertragen – schließlich ist die Anbringung am Rad selten selbsterklärend wie bei einer Gepäcktasche mit Hakensystem. Der Hersteller betreibt übrigens die Blogseite bike-packing.com als eine Service-Seite für Bikepacking-Interessierte – die damit natürlich auch an die eigenen Produkte herangeführt werden sollen.
Es lebe der Unterschied: Trails werden möglich
Auch der zweite der großen deutschen Radtaschen-Anbieter, Vaude, hat seit einem Jahr ein Bikepacking-Programm. Die Trail-Adventurer-Reihe besteht aus einer Trailsaddle-, einer Trailfront- und einer Trailframe-Tasche. Damit bedient man auch bei den Schwaben die drei klassischen Bikepacking-Bereiche des trägerlosen Rads. Im Gegensatz zu manchen anderen Anbietern baut man Sattel- und Lenkertasche allerdings modulartig auf: Beide Male ist es ein Holster, der den eigentlichen Packsack aufnimmt. Hierzu kommt 2019 noch das Trail Multi, eine Flaschenhalter-ähnliche Packsack-Aufnahme für die Gabel und ein modulartiger Rucksack; er besteht aus einem wasserdichten Packsack und einem Tragegestell – »damit kann man auf Abenteuer-Fahrt auch mal zum Holzsammeln gehen«, meint Gernot Moser, Vertriebsleiter bei Vaude. Auch diese Produkte sind wasserdicht und sie sind – wie bei Vaude üblich – nach hohen Umwelt- und Nachhaltigkeitskriterien hergestellt. »Das Thema Bikepacking ist ja nicht neu, in Amerika gibt es das schon länger, und auch die anderen europäischen Länder sind da schon etwas weiter.« Bei Vaude ist man relativ spät eingestiegen, was einfach mit Entwicklungskapazitäten zu tun gehabt habe. Natürlich kann heute noch nicht viel über den Erfolg des jungen Programms gesagt werden, doch »vom Start weg haben wir Bikepacking besser verkauft als gedacht«, erzählt Moser. »Wir haben das Programm direkt neben die Aqua-Light-Serie gestellt, es spricht einen ähnlichen Kunden mit minimalistischen Vorstellungen an. Der Unterschied bei Bikepacking-Produkten ist, dass ich Trails fahren kann. Und ja, dafür ist ein Markt da.« Welche Altersgruppe Vaude damit anspricht? »Wir unterscheiden das eher nach dem Mindset, weniger nach dem Alter«, so Moser. »Es gibt den jung gebliebenen Alten genauso wie den konservativen Jungen. Das ist heutzutage sehr vermischt.« Beide haben das Abenteuer-Gen in sich, die Lust, die Freiheit auf dem Rad intensiv zu erleben. »Der MTBler ist zum Beispiel unabhängig von irgendwelchen Hütten, weil er sich damit auch Zelt und Schlafsack ans Rad hängen kann.«
Was den klassischen Bike-Händler angeht, sieht man auch hier noch Platz nach oben. »Die Bikepacking-Systeme sind deutlich unterrepräsentiert bei den stationären Händlern«, so Moser. Es hapert aber vor allem an der Präsentation. »Es ist nicht damit getan, dass man ein paar Taschen ins Regal legt. Die Taschen müssen am Rad präsentiert werden, sonst klappt das nicht.« Die Bikepacking-Systeme sind zu komplex, als dass der Laufkunde sie auf einem Blick verstehen würde. Vaude wirkt dem bewusst entgegen und unterstützt damit den Händler: »Wir haben das grafisch auf den Verpackungen visualisiert. Außerdem empfehlen wir den Händlern, die Produkte an einem Rad aufzubauen.«
Aber wer hat‘s erfunden?
Beim deutschen Großhändler Cosmic Sports vertreibt man nach eigenen Angaben den Pionier des Bikepackings: Revelate Designs. Die Gründer Eric Parsons und Dan Bailey, beide Bike-Freaks, stellten wohl auf einer Mountainbike-Reise im Himalaya 2002 fest, dass Anhänger für ihre Reiseform ungeeignet seien. Parsons machte sich daran, Gepäcktaschen zu entwickeln, die einerseits auf dem Mountainbike oder Rennrad Platz fanden, andererseits aber genügend Stauraum boten und vor allem das Handling des Rads nicht zu sehr beeinflussten. Schon im selben Jahr hatte man eine Rahmentasche entwickelt, die gleich in Patagonien eingesetzt wurde und die im Prinzip schon die spätere Serie vorwegnahm. 2007 gab es in einem Laden in Anchorage, Alaska, die ersten Taschen, darunter auch die klassische Seatpack, zu kaufen. Damals unter dem Namen Epic Design – was man übrigens beim Bike-Hersteller Specialized nicht gern sah, der eine Bikeserie so benennt, weshalb der Markenname in Revelate Designs geändert wurde. Heute wird Revelate Designs mit seinem großen Angebot tatsächlich als Pionier wahrgenommen. Da ist sehr viel Erfahrung, die in Highend-Produkte floss, die oft sehr ausgefeilt und durchdacht wirken. Die Auswahl ist groß, so gibt es alleine sieben Rahmentaschen im Revelate-Programm. »Wir führen Revelate seit etwa fünf Jahren«, so Peter Baumgärtel, Verkaufsleiter bei Cosmic Sports. »Dazu kommt noch Salsa, die auch ein Pionier in Sachen Adventure und Bikepacking waren. Bei uns wächst derzeit das Angebot noch.« Als Neuheiten gelten derzeit die Packsäcke, die man mit »überdimensionierten Flaschenhaltern«, unter anderem an der Gabel, positioniert. Den Unterschied zu Firmen wie Ortlieb sieht Baumgärtel vor allem in Wasserdichtigkeit und Gewicht: »Ortlieb ist den wasserdichten Weg gegangen, die klassischen Taschen von Revelate Designs sind wasserabweisend, aber vor allem extrem leicht. Außerdem ist das auch eine Frage der Robustheit: Ein wasserdichter Reißverschluss hält oft nicht ewig.« Die einzelnen Module, so sieht man es auch bei Cosmic Sports, sind heute fest definiert. Neuheiten gibt es bei Varianten oder im Detail – wie etwa magnetischen Verschlüssen, die sich immer mehr durchsetzen. »Anfangs dachten wir, unsere Revelate-Taschen wären den Bikepackern zu teuer. Als dann die anderen Hersteller mit teils hochpreisigeren Marken auf den Markt kamen wie Ortlieb und Blackburn, haben wir gesehen: Das wird gezahlt.« Für Baumgärtel und die Leute von Cosmic Sports ist der größte Vorteil der Taschen, dass man als Fahrer eines MTB, Gravel- oder Rennrads auf den Rucksack verzichten kann.
Jedenfalls sieht man den Bikepacking-Trend noch länger ungebrochen. »Wir haben hohe Zuwachsraten, und haben eben Glück mit Händlern, die Salsa oder Surley führen (auch eine Fahrradmarke, die bei Cosmic Sports vertrieben wird, die Red.). Die verstehen das Konzept besser als der klassische Fahrradhändler, weil sie schon länger mit Allrounder-Rädern aus dem Abenteuerbereich zu tun haben.« Beim klassischen Händler sieht man derzeit wenig Chancen: »Da sind die Taschen noch ein Nischenprodukt – solange sie nicht fürs Stadtradeln taugen.« Wie aussichtsreich die Nische geworden ist, zeigt sich kurz vor Redaktionsschluss, als eine Pressemitteilung hereinkommt, dass jetzt auch der coole japanische Bike-Bekleidungshersteller Pedaled unter dem Modellserien-Namen Odyssey (ob »Irrfahrten« hier den Kern trifft, sei dahingestellt) vier Bikepacking-Taschen anbietet.
Ist Bikepacking pures Abenteuer – technisch back to the roots? Jein. Vom Einsatzbereich her sicher, aber der Minimalismus hat seine Grenzen. So sieht es auch Baumgärtel: »Schließlich ist auch der Bikepacker ein Materialfetischist. Da werden extrem hochwertige Nabendynamos in die Adventure Bikes gepackt, die Rahmen sind teils aus Carbon, und die Taschen am besten ultraleicht.« Also back to the roots auf einem neuen Niveau. Heldentum im Minimalismus, das dabei aber ganz schön kosten kann. Reich, aber sexy, um im Berlin-Bild zu bleiben.
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