Reifen und Felgen sind nur der Anfang:
Die Zukunft von Vittoria heißt Graphene
In manchen Fenster in der Produktionsanlage von Directa Plus ist undurchsichtiges Milchglas. Zu geheim ist, was hier beim Hersteller des Graphene-Materials, das Vittoria neuerdings in die Reifen mischt, geschieht. Hinter anderen Fenstern sieht man in einer Maschine ein Licht flackern. Das ist der Plasmastrahl, erklärt Laura Rizzi, die Forschungsleiterin des italienischen Unternehmens. Damit werden Temperaturen von 6700 Grad erzeugt. Heißer ist es in unserem Sonnensystem nur an der Oberfläche der Sonne.
Der Plasmastrahl ist eines der Geheimnisse, um die Kohlenstoff-Atome im Graphit als einlagiges, bienenwabenförmiges Muster anzuordnen. Das Ergebnis dieses Prozesses nennt sich Graphene und wird in der Materialwissenschaft als künftiger Wunderstoff für alle möglichen Anwendungen gepriesen. Bei der EU Kommission, die die Erforschung von Graphene mit Milliardenbeträgen fördert, heißt es, Graphene könnte der verblüffendste und vielseitigste Werkstoff werden, der der Menschheit zur Verfügung steht. Graphene sei um ein vielfaches stabiler als Stahl, wiegt aber gleichzeitig kaum etwas. Der Inhalt eines ganzen Sacks voll Graphene bringt gerademal 200 Gramm auf die Waage.
Kein Wunder also, dass man sich bei Vittoria von dem neuen Werkstoff große Dinge verspricht. Für die Graphene-Entwicklungen von Directa Plus hat Vittoria eine zeitlich unbefristete Exklusivlizenz für die Verwendung im Fahrradmarkt. In Fachkreisen gilt das Chemie-Startup aus dem Umland des Lago di Como als Vorreiter in der Graphene-Entwicklung. Tatsächlich haben Vittoria und Directa Plus gerade erst bei der Material-Fachmesse IDTechEx eine Auszeichung für die beste kommerzielle Graphene-Anwendung erhalten. Eingereicht war ein Carbon-Laufradsatz von Vittoria, der mit Graphene im Epoxy ausgerüstet war.
Somit sind Reifen bereits der zweite Anwendungsbereich, den Vittoria mit dem Kohlenstoff auf Graphit-Basis revolutionieren will. In einem Verfahren, dessen Erforschung einige Jahre und ein Budget von 47 Mio. EUR verschlungen habe, wird das Graphene in die Lauffläche der Reifen beigemischt. Dort soll es beispielsweise die Stabilität und Abriebfestigkeit deutlich erhöhen, was zum Beispiel insbesondere bei Enduro-Reifen mit weichen Stollen die Lebensdauer deutlich verlängere. Oder auch bei Reifen für E-Bikes, die höhere Kräfte aushalten müssen.
Gleichzeitig werde der Grip von Reifen besser und deren Rollwiderstand geringer. Erklärt wird dieser eigentliche Widerspruch mit der Eigenschaft der kristallförmigen Graphene-Partikel, sich bei Reibungswärme aufzustellen, also quasi die Krallen auszufahren. Ein weiterer Effekt von Graphene sei, dass das Reifenmaterial nach einer Beschädigung deutlich schneller in seine Ursprungsform zurückkehre. Demonstriert wurde dieser Effekt mit einem Tubeless-Reifen mit Dichtmilch, der mehrfach über ein Nagelbrett gefahren wurde, ohne dass sich der Luftdruck im Reifen veränderte.
Für Vittoria bedeutet das neue Material jedoch mehr, als nur ein neues Produktmerkmal künftiger Reifengeneration, wie Inhaber Campagne erklärt: „Mit der Materialforschung bricht unsere Produktentwicklung zu neuen Grenzen auf.“ Künftig soll Vittoria nicht einfach nur ein Reifenhersteller sein, sondern vielmehr ein Anbieter ganz unterschiedlicher Graphene-Anwendungen rund ums Fahrrad. So wird etwa schon an Bremsscheiben geforscht, die sich die hohe Hitzeresistenz von Graphene zu Nutze machen sollen. Ein weiterer Bereich, über den man bei Vittoria schon laut nachdenkt, ist Bikewear, die dank Graphene vor Schürfwunden und reibungsbedingten Brandverletzungen schützt.
Dabei sind sich die Italiener durchaus bewusst, dass man nicht für alle Zeiten der einzige Anbieter von Graphene-Anwendungen im Fahrradmarkt bleiben werde. „Wir müssen deshalb schneller rennen als alle anderen“, sagt Giulio Cesareo, der Gründer und CEO von Directa Plus. Der Startschuss ist gestern in Italien erfolgt.
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