Report - Reshoring
Eine Frage des Standorts
Schon vor der Corona-Pandemie hat das Thema im Hintergrund der Branche rumort, während und nach den akuten Lieferkettenproblemen und des beginnenden Ukraine-Kriegs kam es mit Karacho in den Vordergrund: Wir brauchen sicherere und kürzere Lieferketten. Eine Produktion im Inland (Reshoring) oder im benachbarten europäischen Ausland (Nearshoring) sei dazu nötig, so die Meinung mancher Industrievertreter. Dabei ist der Trend nicht neu und läuft auch ganz aktuell bereits in erheblichem Umfang. Laut dem europäischen Branchenverband Conebi wurden 2021 mehr als 16 Millionen Fahrräder und E-Bikes in Europa produziert, das sind etwa zehn Prozent mehr als im Jahr 2020. Insgesamt erkennt der Branchenverband einen Trend zum Reshoring, verstärkt von den Effekten der Corona-Pandemie auf Lieferketten und Preise im Fahrradhandel. Der Conebi-Präsident Erhard Büchel sieht in dieser Entwicklung eine Chance für die europäische Industrie. »Reshoring findet statt, und die bekannten Unterbrechungen der Lieferketten lösen eine neue Welle der Industrialisierung in Europa aus«, erklärte er bereits in diesem Sommer. Sind die Weichen also bereits gestellt? Schon vor Jahren wurde in Portugal mit Triangle‘s eine große Rahmenfa-brik aufgebaut, auch Komponentenhersteller wie Magura oder Sram kauften oder bauten dort Fabriken. Bosch hat sich gerade mit einer Produktion für Bosch eBikes Systems in Portugal niedergelassen. Viele der Internationalen Hersteller und Muttergesellschaften bauen in Osteuropa, wie 2020 Giant in Ungarn oder Pon Bike in Litauen. Auch Spanien stellt 2021 ein fast neunprozentiges Inlandswachstum gegenüber dem Vorjahr fest. Ein weiterer Bezugspunkt für die Fahrradwelt ist Belgien, wo schon 2013 Bike Valley, ein Innovationszentrum für den europäischen Fahrradsektor, gegründet wurde.
Täuscht die mediale Berichterstattung den Trend vor?
Offshoring, also Produktion in Übersee, ist andererseits gar nicht mehr so viel günstiger als Herstellung in Europa, wie auch der Schweizer Velojournalist Urs Rosenbaum in einem Beitrag des Schweizer Magazins Republik darstellt. In sämtlichen asiatischen Ländern steigen die Lohnkosten seit Jahren stark. Ist Reshoring nach dem Schock, den die Lieferengpässe 2020 auslösten, also erst recht eine alternativlose Entwicklung?
Der Niederländer Bart Vos etwa sieht das nicht so. Er ist Professor für Supply Chain Innovation an der Universität Maastricht und betrachtet laut dem Magazin Bike Europe Reshoring als »geopolitische Stimmungsmache«. Ist die Rückführung der Produktion also doch nicht die allein selig machende Praxis der Zukunft?
Vorreiter in Sachen Nearshoring
»Riese & Müller ist in den letzten zehn Jahren im Schnitt um je 40 Prozent gewachsen«, erklärt Alexander Eilhauer, Chief Operating Officer des Unternehmens. »Wir mussten schon vor langen Jahren unser Lieferantennetzwerk verbreitern. Mittlerweile ist unser wichtigster Rahmenhersteller Triangle‘s in Portugal. Für andere Produktkategorien hat man meist einige Möglichkeiten, in Europa oder im Inland zu kaufen«, so Eilhauer, »bei Rahmen kaum.« Dass die Lieferanten-basis bei der Dynamik der letzten Jahre mitwachsen musste, ist Grund eins für die Reshoring-Entwicklung des Unternehmens. Als zweiten nennt Eilhauer die Corona-Pandemie und deren Folgen in Sachen Lieferketten. Nachhaltigkeit schließlich ist das dritte große Reshoring-relevante Thema. Auch sie ist bei Riese & Müller schon länger im Fokus. »Mit europäischer Produktion und damit kürzeren Transportwegen kann man den CO2-Ausstoß deutlich reduzieren«, so Eilhauer.
Trotz alledem will man die Zusammenarbeit mit den asiatischen Partnern ausbauen. »Grundsätzlich überprüfen wir aber bei neuen Modellen, ob es Zuliefer-Alternativen in Europa gibt, und können das Modell dann gegebenenfalls entsprechend konfigurieren.«
Die Zahl der Zulieferer wächst auch durch Initiative von außen: Vor allem aus dem Automobilbereich seien Lieferanten auf der Suche. In Sachen Metallbearbeitung arbeitet Riese & Müller bereits mit entsprechenden Partnern.
Reshoring muss also aus verschiedenen Gründen weiter aufgebaut werden, so die Meinung bei Riese & Müller, die bei ihrem neuen urbanen Modell bereits 75 Prozent der Teile aus Europa verbauen. »Doch in Asien sitzt auch eine starke Expertise, und Reshoring wird zunächst auch eine Preisfrage bleiben. Im preissensiblen Bereich des Marktes wird es die nächsten Jahre nicht umsetzbar werden. Wir wissen, dass wir eine Vorreiterstellung haben.«
Produzieren, wo der Kunde ist
Noch breiter ausgerichtet ist man beim Komponentenhersteller DT Swiss, wie Daniel Berger berichtet. Er ist Chief Product Officer bei den Schweizern. Das Unternehmen entstand 1994 aus einem Management-Buy-out der vereinigten Drahtwerke in Biel. Noch in den Neunzigern fing man an, in den USA Speichen zu produzieren. In den Nullerjahren folgte eine Produktion in Taiwan, 2010 eine in Polen. Neben dem Hauptsitz in Biel gibt es heute auch eine Niederlassung in Frankreich und Deutschland (Oelde). Die High-End-Produkte wie etwa Competition-Speichen werden allerdings nach wie vor in der Schweiz gefertigt. Das Konzept, das dahintersteckt, ist so einfach wie auf den ersten Blick aufwendig: »Wir wollen dort, wo größere Kunden sitzen, die Produkte auch herstellen«, so Berger. Teilweise geschieht das mit einer enormen Fertigungstiefe.
Der DT-Swiss-eigene Freilaufkörper etwa, das sogenannte Ratchet, werde komplett in Biel hergestellt. »Und wenn man CNC-Fräsmaschinen mal im Haus hat, dann kann man auch gleich noch mehr machen«, erklärt Berger. Bei DT Swiss wollte man immer Produzent, nicht einfach eine Marke sein, die etwas zusammenbastelt. Aber natürlich gelten auch für das Schweizer Unternehmen die Gesetze des Marktes. So ist es beispielsweise nicht möglich, hochwertige Laufräder, die per Handarbeit komplettiert werden, in Biel zu produzieren.
Hersteller wie Woom versuchen mit einer diversifizierten Produktionsstrategie möglichen Störungen der Lieferketten entgegenzuwirken.
»Das kann man in der Schweiz nicht zahlen, diese Laufräder werden in Polen hergestellt.« Zudem gilt nicht in allen Bereichen die hohe Fertigungstiefe. Für die Federungssysteme der Schweizer wird ein Gros der Bestandteile zugeliefert.
»Wie viel Reshoring oder Produktion vor Ort wirklich richtig ist, ist sicher individuell unterschiedlich«, so Berger. »Wir wollen eine hohe Qualität und Mengensteuerung. Das müssen wir in den eigenen Händen halten. In der Corona-Zeit hatten wir hohe Transportkosten, weil wir viel aus dem Ausland dorthin liefern mussten.
Nachhaltigkeit ist bei uns kein Nebenprodukt – das war hier schon immer so, auch wenn das Vor-Ort-Sein für uns schon immer das Wichtigste war. So können wir gleichzeitig vom Preis her immer noch sehr fair sein.« Noch einen Grund gibt es für Berger, zunehmend im näheren europäischen Raum zu produzieren: »Viele Kunden sagen, ›wir würden mehr kaufen, wenn mehr in Europa produziert wird‹.«
Achterbahnfahrt am Ende der Pandemie
Zwei Anreize für eine Rückholung der Produktion, die in der deutschen Fahrradindustrie hoch gehandelt werden, sieht Burkard Stork gegenwärtig: »Da ist zum einen die Erwartung bei den OEM-Kunden, dass die Lieferketten deutlich verkürzt werden. Und zum anderen brauchen die Hersteller höhere Resilienz, am besten durch Standorte in verschiedenen nahen Ländern«, so der Geschäftsführer des deutschen Zweirad-Industrie-Verbands ZIV.
Seiner Meinung nach spricht aber, neben allen anderen derzeitigen Pro-blemen, ein wesentlicher Faktor da-gegen, jetzt umzuplanen. Es ist die
Personalknappheit im europäischen Raum, auch zunehmend in Osteuropa. »Es ist schwierig vorherzusehen, was man aktuell wirtschaftlich nachhaltig planen kann. Wir haben schon eine Achterbahnfahrt hinter uns. Wegen des Kriegs in Osteuropa kann man immer noch zu wenig abschätzen, ob es jetzt sinnvoll ist, Produktionen, vor allem von Teilen, nach Europa zurückzuholen. Tatsächlich ist der Personalmangel für viele heute die größte Hürde«. Grundsätzlich »hat die Branche aber Lust darauf, mehr in Europa zu produzieren«, so Stork.
Viele Standorte schaffen funktionierende Lieferketten
Zweigleisig hat sich bereits der österreichische Kinderrad-Hersteller Woom aufgestellt. Laut Paul Fattinger, Co-CEO des Unternehmens, gibt es derzeit zwei Werke in Polen, welche die Originalserie von Woom und die E-Bikes des Herstellers produzieren. »Diversifizierte Produktionsstrategie« nennt Woom das. »Zusätzlich gibt es Partnerfabriken in Vietnam, Bangladesch und Kambodscha, sodass wir auf Störungen bei den Lieferketten schnell reagieren können.« Doch mittelfristig will auch der Kinderradhersteller dort produzieren, wo die Kunden sind. »Für kurze, verlässliche und klimafreundliche Lieferketten.« Zu Entwicklungen der deutschen Fahrradindustrie, in Europa wieder Kompetenz in der Produktion aufzubauen, meint Fattinger: Aufgrund der hohen Lohnkosten in Europa »spielt die roboterautomatisierte Fertigung eine zentrale Rolle. Entwicklungs- und Investitionskosten sind allerdings enorm. Da geht es um Entscheidungen, die sehr sorgfältig kalkuliert werden müssen.«
Ähnlich ist es bei Komponentenhersteller Magura. Er hat seit jeher sein Hauptquartier in Bad Urach in der Schwäbischen Alb. Die Montage der Bremsen ist 2011 von dort ins benachbarte Hengen gezogen. Felgenbremsen und ein Teil der eigenen Scheibenbrems-Produktion werden in Deutschland produziert, aber auch in Asien hat man seit gut zwanzig Jahren ein Tochterunternehmen. »Doch die komplette Fahrrad-Vorproduktion, etwa der Bremsgeber, findet in Deutschland statt«, erklärt Fabian Auch, der geschäftsführende Gesellschafter von Magenwirth Technologies, dem Mutterkonzern von Magura. Zusätzlich hat man Anfang 2022 das portugiesische Unternehmen Leomável Moldes übernommen. Kürzere Transportwege werden so ermöglicht, außerdem wird so weiteres Know-how im Werkzeugbau gewonnen. Das Unternehmen stellt Kunststoffspritzguss-Werkzeuge her. »Leomável Moldes war schon vorjähriger Lieferant und ermöglicht sowohl den Zugang zum Sourcing-Markt Portugal als auch Chancen für nachhaltiges Wachstum. Der Standort kann noch deutlich ausgebaut werden.« Auch in Asien werden hochwertige Fahrrad-Scheibenbremsmodelle hergestellt. Die Transportwege zu vielen OEMs sind dadurch kurz. »Natürlich beschäftigt uns die geopolitische Lage im Hinblick auf Taiwan«, sagt Auch, »selbst wenn sie vor Ort oft gar nicht so brisant gesehen wird wie hier.« Doch langfristig bleibt die Produktion in Asien im Fokus. »Auch wir stehen schließlich im globalen Wettbewerb mit Bremsenherstellern, die ausschließlich in Asien produzieren. Wir brauchen die Produktion in Taiwan.«
Reshoring auch als Qualitätsmerkmal
Genauso sieht das auch Günther Schoberth-Schwingenstein, Mitglied der Geschäftsführung und Head of Sales, Marketing and Communication beim Hersteller Corratec, allerdings vor allem bezogen auf den Rahmenbau: »Grundsätzlich hängt das auch von der weiteren Entwicklung der Technologien hier ab«, erklärt er, »aber so schnell werden richtig große Rahmen-Stückzahlen nicht in Deutschland gebaut werden.« Investiert haben die Oberbayern allerdings trotzdem in Europa, wenn auch nicht in Deutschland, da machte laut Corratec die Bürokratie einen Strich durch die Rechnung.
»So schnell werden richtig große Rahmen-Stückzahlen nicht in Deutschland gebaut werden.«
Günther Schoberth-Schwingenstein, Corratec
2021 wurde daher eine Fabrik am rumänischen Standort Timişoara für einen zweistelligen Millionenbetrag gekauft, seit Januar dieses Jahres läuft die Fahrradproduktion dort. »300.000 E-Bikes und Fahrräder im Jahr sind auf lange Sicht möglich«, erklärt Schoberth-Schwingenstein. Das neue Werk bringe viele Vorteile: Geringere Abhängigkeit von den Lieferketten, kürzere Wege und damit Zeitersparnis und »wir können damit pro Jahr etwa 700 Tonnen CO2 einsparen.« Dazu kommt in Sachen Nachhaltigkeit, dass das Werk in Rumänien mit dem Strom der eigenen Solaranlagen betrieben wird, »was hier in Raubling auch noch umgesetzt werden werden soll«, so Schoberth-Schwingenstein. Derzeit gibt es etwa 100 Arbeitsplätze in Timişoara, insgesamt könnten es in Zukunft 300 werden. Einige Bereiche, wie etwa der Laufradbau, werden derzeit schon aus Asien dorthin verlagert. Fördergelder gab es laut dem Head of Sales für die Investition nicht.
Reshoring als allgemeiner Trend? Das sieht man bei den Raublingern nicht. »Ein Großteil der energieintensiven Unternehmen wird Deutschland verlassen«, glaubt Schoberth-Schwingenstein, vor allem zugunsten der günstigeren Energiekosten in den USA. »Wer hier oder in Europa bleibt, der sollte mit Qualität und Innovationen auftrumpfen. Der Endverbraucher sieht nun, dass nicht nur die Quantität, sondern die Qualität zählt«, sagt er und verweist auf die große eigene Entwicklungsabteilung. »Unsere Strategie ist Qualitätsführerschaft. Die kurzen Wege und andere Nachhaltigkeits-aspekte kommen da noch hinzu.«
Reshorig – eine zu einseitige Sichtweise?
Beim VSF, der ja in erster Linie ein Handelsverband ist, spielt das Thema noch keine allzu große Rolle, erklärt Geschäftsführer Uwe Wöll. »Natürlich haben wir einige Fahrradhersteller als Mitglieder wie Riese & Müller, die viel in Portugal produzieren, und auch bei ein, zwei anderen gibt es Überlegungen.« Er schiebt aber gleich hinterher, dass das Thema derzeit oft zu einseitig gesehen wird: »Es geht ja nicht nur darum, Produktionen nach Europa zu holen. Ein großes Problem sind doch die Rohstoffe, die in Deutschland und in Europa fehlen oder eben nicht in hoher Güte verfügbar sind, wie etwa Stahl.«
Dennoch gelte: »Alles, was die Lieferwege verkürzt, ist aus Kosten- und Nachhaltigkeitsgründen sinnvoll. Da sind wir gern dabei. Das wird aber erst in Zukunft zu einem wirklich großen Thema werden. Denn in Zeiten, in denen Lieferknappheit herrscht, kann man als Händler nicht noch neue Kriterien an die Zulieferer oder Hersteller richten, da kann man gerade einmal Wünsche äußern«, so Wöll. Der Trend zur Produktion in Europa wird aber anhalten und ausgebaut werden, glaubt man beim VSF. »Wir haben ja auch gesehen, dass die geringeren Logistikkosten die höheren Lohnkosten in Europa zum Teil wieder aufheben. Und die derzeitige Abhängigkeit ist einfach zu stark, das haben wir ja in den letzten Jahren sehen müssen. Dazu kommt noch, dass man zusätzlich zum Vorteil in Sachen Nachhaltigkeit gegebenenfalls auch mit Steuervorteilen rechnen kann. Der finanzielle und der Umweltschutz-vorteil kommen dann also zusammen«, glaubt Wöll.
Hohe Komplexität für die Industrie
Reshoring jetzt oder in Zukunft oder als Teil eines Konzepts zur Produktion in Kundennähe? Oder Offshoring komplett beibehalten und auf Masse setzen? Das Thema ist schon ohne die aktuellen Problemsituationen komplex genug und in Anbetracht der geopolitischen Lage extrem schlecht planbar. So weit sind sich die meisten Industrievertreter einig. Es zeichnet sich aber ab, dass man gern mit einem größeren Teil der jeweiligen Produktion in Deutschland oder zumindest im nahen europäischen Raum planen möchte, wenn es die Umstände erlauben. Denn die Lohnkosten werden in den asiatischen Ländern auch in Zukunft weiter wachsen, und das ist vielleicht das einzige für alle geltende Argument. Zudem hätte man gern die Kompetenzen wieder vor Ort. Auch Nachhaltigkeit wird ein immer besserer Grund, vor Ort zu produzieren. Doch tatsächlich könnte gerade Nachhaltigkeit auf lange Sicht dafür sprechen, kleine Produktionen in anderen Ländern anzustreben. Das hängt nicht zuletzt von der Entwicklung des globalen Fahrradmarkts ab. Die stattfindenden Bewegungen in den aktuellen und potenziellen Produktionsstandorten werden noch lange anhalten. //
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