Radtouristik - Destinationen im Fokus
Es muss nicht immer Malle sein
Es sah alles gut aus für den deutschen Radtourismus. Laut Radreiseanalyse des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs 2020 ist die Zahl der Radreisenden von rund vier Millionen im Jahr 2014 auf circa 5,4 Millionen in 2019 gestiegen. Dazu kommen 330 Millionen Tagesausflüge mit dem Rad. Der ADFC prognostizierte auch, dass der Boom weitergehe – und dann kam Corona. Reisen, auch innerhalb der Landesgrenzen, war nicht mehr möglich. Reisen mussten abgesagt, bereits geleistete (An-)Zahlungen erstattet werden. Die Zahl der Gästeübernachtungen brach von einem Tag auf den anderen ein. So reduzierten sich in Rheinland-Pfalz laut statistischem Landesamt die Übernachtungen im März 2020 um 61 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat, in Brandenburg um 50 Prozent. Auch bei den österreichischen Nachbarn zeichnete sich ein ähnliches Bild ab. In der Region Tirol gingen laut Landestourismusorganisation Tirol Werbung zwischen November und März 2020 die Ankünfte um rund 20 Prozent zurück, allein im Tiroler Tourismus entspricht dies einem Umsatzverlust von rund 1,4 Milliarden Euro. Die Buchungen von Radreiseanbietern wie Hannes Hawaii Tours oder Huerzeler Bicycle Holidays fielen auf null. Eine Ausnahmesituation, deren (Nach-)Wirkungen die Radreisebranche wohl noch lange begleiten und vor große Herausforderungen stellen wird.
Krise als Katalysator
Es ist gleichzeitig eine Situation, die in mancherlei Hinsicht wie ein Katalysator wirkt: Es werden neue Konzepte entwickelt, Hilfs- und Unterstützungsplattformen gegründet und Vorhaben vorangetrieben, die »man eigentlich schon längst hätte angehen wollen«. Oftmals erfährt der Urlaub mit dem Fahrrad vergrößerte Wertschätzung. Österreich fixierte zum Beispiel die Rad-Kampagne »You like it? Bike it!«, die den Radtourismus im Land fördern und Gäste für einen Radurlaub in Österreich begeistern soll, nun auf die kommenden zwei Jahre. Die Tirol Werbung hat Anfang Juni die Kampagne »Es geht bergauf« gestartet, die als Hauptthemen Wandern, Klettern und Radfahren umfasst. Das Land Brandenburg hat Touren erarbeitet, die Urlaubsentspannung abseits überfüllter »Hot-Spots« bieten, Radreiseanbieter Hannes Hawaii Tours hat sein Camp-Angebot vom spanischen Ausland in die Allgäuer Heimat verlegt und die touristischen Regionen Deutschlands schlossen sich zur ersten deutschlandweiten Kampagne »Entdecke Deutschland« zusammen. Der Radtourismus löst sich langsam aus der Pandemie-Schockstarre – und erkennt, trotz des verheerenden Ausmaßes der Krise, darin durchaus auch ein paar Chancen.
Rad- und Wanderangebote werden jetzt verstärkt nachgefragtChristina IhrlichRheinland-Pfalz Tourismus GmbH
Heimat hoch im Kurs
Denn sowohl das Fahrrad als Fortbewegungsmittel als auch das (regulierungsbedingte) Interesse der Menschen an Outdoor-Urlaub im eigenen Land nimmt zu. »Die Zugriffe auf reiseland-brandenburg.de deuten darauf hin, dass die Aktivthemen gefragter denn je sind«, hat beispielsweise Birgit Kunkel, Pressesprecherin von TMB – Tourismus-Marketing Brandenburg GmbH festgestellt. Auch Sören Kliemann, Markt-Manager für Deutschland der Österreich Werbung, die das offizielle Tourismusportal Österreichs austria.info betreiben, vermutet, dass »Betätigungen in der freien Natur wie Wandern oder Radfahren in diesem Jahr hoch im Kurs stehen dürften« – und Christoph Fürleger, Geschäftsführer von Hannes Hawaii Tours, freut sich, dass bereits jetzt das erst im Mai online gegangene Allgäu-Reiseangebot »sehr gut angenommen« wird. »Es ist wahrscheinlich, dass die Nachfrage nach Urlaub in Deutschland nach der Lockerung der Anti-Corona-Maßnahmen bundesweit weiter ansteigt. Die Menschen fühlen sich unter Umständen im eigenen Land sicherer und so manche beliebte ausländische Destination kann noch nicht wieder bereist werden«, vermutet Birgit Kunkel von der brandenburgischen TMB.
Tatsächlich scheint es für Anbieter wie Huerzeler, die ihren Reisefokus hauptsächlich auf Spanien und Griechenland haben, schwieriger zu sein. »Buchungen kommen zum jetzigen Zeitpunkt verständlicherweise nur sehr bescheiden rein», berichtet Huerzeler-CEO Urs Weiss. Noch wisse man nicht, wie beschwerlich Reisen unter Corona-Bedingungen sei oder von potenziellen Gästen empfunden werde. Aber: »Die zwischenzeitlich doch schnellere Grenzöffnung zu Spanien und Griechenland stimmt uns positiv, dass für den Herbst die Nachfrage anziehen wird«, sagt Weiss. Sein Unternehmen setzt auf jeden Fall auf den »Nachholbedarf an Radsportferien« für kommendes Jahr, aber »Wir beobachten die Lage sorgfältig, stehen mit Behörden in Kontakt und schauen, wie wir punktuell unser Angebot anpassen können.« So habe man den Verkauf der mallorquinischen Mieträder in Deutschland beschleunigt, »damit die Gäste ihr Huerzeler-Rad auch zu Hause haben können.«
Entspannt und mit E-Bike
Das Rennrad beziehungsweise ambitioniertes Training scheinen derzeit weniger gefragt zu sein, wenn es um die Gestaltung der freien Tage geht. Selbst bei Triathlonspezialist Hannes Hawaii Tours liegt der Camp-Fokus im Allgäu »eher auf ›Touren mit local Tipps‹« statt gezieltem Feilen an der Form, und zwar »Im Spektrum von drei bis sieben Tagen statt bei zehn bis vierzehn Tagen wie auf den Balearen und Kanaren«, so Christoph Fürleger. Zudem habe man die Fahrradflotte um Mountain- und Gravelbikes erweitert. Die schönsten Strecken finden sich schließlich häufig abseits geteerter Straßen.
Im Land Tirol habe sich bereits vor der Krise verstärkte Nachfrage nach Singletrail-Angeboten bemerkbar gemacht, so Julia Scheiring von der Tirol Werbung GmbH und ergänzt »Ein weiterer Trend ist das E-Bike. Diese Art des Radfahrens passt perfekt zu den Genussradlern, die mit 48 % den größten Teil unserer Zielgruppe ausmachen. Auch jüngere Gäste nutzen dieses Angebot vermehrt. Dementsprechend hat Tirol hier schon früh die entsprechende Infrastruktur mit E-Bike-Routen und Ladestationen geschaffen.«
Christina Ihrlich von der Rheinland-Pfalz Tourismus GmbH beobachtet ebenfalls einen Trend zum E-Bike und zum Urlaub zu Hause: »Rad- und Wanderangebote, sowohl individuelle als auch Pauschalen, werden jetzt verstärkt angefragt und auch die Zahl der Buchungen für die kommenden Wochen und Monate steigt«, sagt sie. »Grundsätzlich eröffnet der wachsende Anteil von E-Bikes vielen Interessierten die Möglichkeit, auch die kurvigen und teils steilen und anspruchsvollen Radrouten in den rheinland-pfälzischen Mittelgebirgen auszuprobieren. Diese Entwicklung ermöglicht es den Mittelgebirgsregionen, sich bei der Gästeansprache breiter aufzustellen. E-Bikes spielen insgesamt eine immer größere Rolle im Freizeittourismus in Rheinland-Pfalz.«
Erhellende Erkenntnisse
All das wird die bereits eingefahrenen und noch zu erwartenden Einbußen nicht komplett auffangen können, schon allein, weil Regionen wie beispielsweise Brandenburg schon bisher sehr gut gebucht waren, der Ausfall also bei normalem Sommergeschäft nicht zu kompensieren sein wird, wie TMB-Pressesprecherin Birgit Kunkel vermutet. Reiseveranstalter Christoph Fürleger rechnet damit, dass »wir die entstandenen Schäden über die nächsten zehn Jahre abbauen müssen«. Die vergangenen Monate haben zumindest ein paar Erkenntnisse bezüglich Stärken und Schwächen des eigenen Tuns und Arbeitens gebracht. Urs Weiss hat beispielsweise durch die Pandemie festgestellt, wie wichtig schnelle, aber gut überlegte Kommunikation mit den Kunden ist. Christina Ihrlich von Rheinland-Pfalz Tourismus hat erleben dürfen, wie flexibel und kreativ die Tourismuswirtschaft auf die Krise reagieren kann und Christoph Fürleger hat durch die Pandemie gesehen, dass »wir mit unserem Geschäftsmodell auf dem richtigen Weg sind. Wir werden weiterhin qualitativ hochwertige Erlebnisse schaffen. Ob auf Hawaii, Lanzarote oder im Allgäu, ist egal.« Es scheint so, als sähen viele Radurlauber das mit der Reisedestination ähnlich.
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