Handel – Alltagsrassismus
»Es reicht nicht aus, ›kein Rassist‹ zu sein«
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier begrüßte mit dem Satz in der Überschrift am 16. Juni 2020 die Gäste einer Gesprächsrunde zum Thema »Erfahrungen mit Rassismus in Deutschland« im Schloss Bellevue. Dem Zitat folgte ein zweiter Satz: »Wir müssen Antirassisten sein.« Dem Treffen vorausgegangen waren der rassistisch motivierte Terrorakt in Hanau am 19. Februar 2020 mit neun Toten sowie weltweite Großdemonstrationen der »Black Lives Matter«-Bewegung nach der Ermordung von George Floyd durch US-amerikanische Polizisten am 25. Mai 2020.
Die Wurzeln für offenen Hass und Rassismus liegen unter anderem im Alltagsrassismus. Dieser gründet sich auf nicht hinterfragten Vorurteilen hinsichtlich Aussehens, Sprache, Namen und so weiter. Alltagsrassistisches Verhalten führt dazu, dass Menschen in vermeintlich ähnliche ethnische Gruppen eingeteilt werden. Im nächsten Schritt wird die eigene Gruppe auf der Rangliste höher als alle anderen Gruppen eingestuft, deren Mitglieder werden abgewertet.
Neben dieser gängigen negativen Form des Alltagsrassismus gibt es auch eine positive. Spricht man zum Beispiel Schwarzen Menschen im Sport eine »überragende Ausdauer« zu, die wohl »im Blut« liegt, oder wundert man sich über die guten Deutschkenntnisse einer asiatisch gelesenen Person, reproduziert man zweifelsohne alltagsrassistische Erzählungen. Unabhängig von der Form der Ausgrenzung zeigen sich Diskriminierungen entweder über die Sprache oder das Verhalten.
Alltagsrassismus tritt in der U-Bahn, bei der Wohnungssuche, beim Arztbesuch, im Club und Sportverein, beim Shoppen, aber auch bei Polizeikontrollen zutage. Kein Lebensbereich ist frei von ihm. Auslöser dafür können eine nicht weiße Hautfarbe, eine andere Religion oder Staatsangehörigkeit sein. Alltagsrassismus kann offen oder verdeckt, strukturell oder individuell wirken. Kritisiert wird er nicht nur von zivilgesellschaftlichen Organisationen, sondern auch von Bundesbehörden wie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Begründet wird die Kritik unter anderem mit den international anerkannten Menschenrechten und mit Artikel 3 des Grundgesetzes, der jegliche Form von Diskriminierung verbietet. In Bildungseinrichtungen, in der Gesundheitsversorgung, in Bereichen des staatlichen Handelns, im Arbeitsleben und bei Alltagsgeschäften schützt zudem das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), das am 18. August 2006 in Kraft trat, unmissverständlich vor Diskriminierung. »Dabei gilt: Was rassistisch ist, entscheidet immer die Person, die Rassismus erfährt«, engt Klaudia Tietze, Geschäftsführerin des Vereins »Mach meinen Kumpel nicht an!«, den Interpretationsspielraum ein.
Alltagsrassismus im Einzelhandel
Tietze geht davon aus, dass Alltagsrassismus auch im Handel viele Formen und Gesichter hat. So können sich Händlerinnen und Händler sowie Beschäftigte gegenüber der Kundschaft rassistisch verhalten, doch auch die umgekehrte Richtung sei keine Ausnahme. Wie der Name des bereits 1986 von der Gewerkschaftsjugend gegründeten Vereins, dem sie vorsteht, impliziert, gibt es auch den innerbetrieblichen Alltagsrassismus, der unter den Beschäftigten, aber auch vonseiten der Vorgesetzten gegenüber der Belegschaft reproduziert wird.
Klaudia Tietze, Geschäftsführerin des Vereins »Mach meinen Kumpel nicht an!«
»Die Beschäftigten können zum Umgang mit Rassismus geschult werden.«
Erste Zahlen geben Auskunft über das Ausmaß
Einen Einblick in sein Ausmaß im Handel liefert die
Antidiskriminierungsstelle des Bundes
, die im Jahr 2006 dem AGG an die Seite gestellt wurde, damit das Gesetz nicht zum Papiertiger mutiert. In ihrem »Jahresbericht 2020« verweist sie auf insgesamt 2101 Anfragen; im Vergleich zum Vorjahr ein Anstieg um fast 79 Prozent und »ein größerer Zuwachs als in den vier Vorjahren zusammen.« Die meisten Vorfälle fanden im Arbeitsleben und beim Zugang zu »Gütern und Dienstleistungen« statt, wobei die sperrigen Begriffe dem AGG entnommen sind.
Belastbare Daten zum Thema Anti-Schwarzen-Rassismus für den Bereich »Geschäfte und Dienstleistungen« liefert erstmals der »Afrozensus 2020«, der am 30. November 2021 in Berlin vorgestellt wurde und an dem insgesamt 5426 Personen teilnahmen. 85,1 Prozent von ihnen erlebten demnach bereits Diskriminierungen. Auf die Frage, ob sie aus Angst vor Diskriminierung in den letzten beiden Jahren Geschäfte und Dienstleistungsbetriebe gemieden hätten, antworteten 15,8 Prozent mit »ja«. Bei der Frage nach der Häufigkeit der Diskriminierung in den letzten beiden Jahren gaben 7,3 Prozent »sehr häufig« an, 18,2 Prozent »oft«, 36,1 Prozent »manchmal«, 23,6 Prozent »selten«; »nie« kreuzten nur 14,9 Prozent an. Auf der Homepage der Antidiskriminierungsstelle des Bundes wird auf einen Fall von »Racial Profiling« im Handel aufmerksam gemacht. Dabei führte ein Hausdetektiv eine rassistisch motivierte »Routinekontrolle« aus, die sich ausschließlich gegen eine Schwarze Person richtete, obwohl § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG derartiges Vorgehen verbietet. Deshalb könne auch, so die juristische Einschätzung, der Geschädigte »möglicherweise einen Schadensersatz- bzw. Entschädigungsanspruch« geltend machen. Da das AGG die Beweislast umkehre, müssten in diesem und in ähnlichen Fällen die Geschäftsinhaberinnen und -inhaber beweisen, dass sie nicht gegen das AGG verstoßen haben.
Alltagsrassismus im Arbeitsleben
Im »Afrozensus 2020« wurde zudem der Alltagsrassismus im Arbeitsleben abgefragt. Die Frage nach Diskriminierungserfahrungen beantworteten 4098 Befragte. Von ihnen gaben 15,3 Prozent an, am Arbeitsplatz »nie« diskriminiert worden zu sein. »Selten« kreuzten 22,8 Prozent, »manchmal« 33,0 Prozent, »oft« 18,1 Prozent und »sehr häufig« 10,9 Prozent an.
»Arbeitsleben« umfasst dabei nicht nur die Situation am Arbeitsplatz, sondern schließt auch die Arbeitssuche ein. Ein wichtiger Zusatz, denn die Chancen junger Menschen mit Migrationsgeschichte sind bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz selbst bei ähnlichen schulischen Leistungen und vergleichbaren Interessen nachweislich schlechter. Dies zeigen gleich mehrere Studien, so auch der »Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2018« vom Bundesinstitut für Berufsbildung: So fanden 2016 im Vergleich zu Bewerberinnen und Bewerbern ohne Migrationsgeschichte (42 Prozent) nur 26 Prozent der Jugendlichen mit Migrationsgeschichte eine Azubistelle.
Dass rassistische Motive hinter diesen Zahlen stehen, unterstreichen die Ergebnisse einer Bertelsmann-Studie von 2015, die das Verhalten der Arbeitgeber, die bis dato noch keine Jugendlichen mit Migrationsgeschichte ausgebildet hatten, unter die Lupe nahm. Demnach befürchteten mehr als ein Drittel (38 Prozent) Sprachbarrieren oder zu große kulturelle Unterschiede (14,7 Prozent), »die sich belastend auf das Betriebsklima auswirken«.
Was von Rassismus Betroffene tun können
Neben der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gibt es auch auf Landes- und kommunaler Ebene Beratungsstellen. In Nürnberg übernimmt das Menschenrechtsbüro der Stadt diese Funktion. 2010 entwickelte dieses eine Antidiskriminierungsklausel für das Gewerbe, die auch die IHK und die Handelskammer Mittelfranken mittragen. »Die Stadt Nürnberg hat den Anspruch, einen umfassenden Diskriminierungsschutz umzusetzen. Niemand soll wegen seiner ethnischen Herkunft oder anderen diskriminierenden Gründen Benachteiligungen erleben müssen«, berichtet die Nürnberger Beauftragte für Diskriminierungsfragen Christine Burmann. »Pro Jahr haben wir ca. 200 Anfragen zum Thema Diskriminierung, diese beziehen sich jedoch auf alle Bereiche des Lebens, also auf das Arbeitsleben, den Bereich Wohnen oder aber den Zugang zu Gütern und Dienstleistungen.« Kommt es im Betrieb zu rassistisch motivierten Entgleisungen, können sich Betroffene an Burmann wenden. »Ich berate die Personen und gebe eine rechtliche Ersteinschätzung zum Vorfall ab. Ich kann darüber hinaus Stellungnahmen anfordern und in Konfliktfällen auch eine Mediation oder eine Unterstützung bei einem Gespräch zwischen den Konfliktparteien anbieten«, beschreibt sie ihre Möglichkeiten. »Das Angebot ist kostenfrei und vertraulich. Ich zeige Betroffenen Möglichkeiten auf, sie entscheiden, welcher Weg gegangen werden soll.«
Christine Burmann, Beauftragte für Diskriminierungsfragen bei der Stadt Nürnberg
»Wo sich Menschen wohlfühlen, werden gute Ergebnisse im Arbeitsleben erzielt. Dies ist messbar und hat dann natürlich auch Auswirkungen auf Kundinnen und Kunden.«
Was der Handel tun kann
Daneben berät Burmann auch Händlerinnen und Händler, denn »Arbeitgeber sind verpflichtet, für ihre Beschäftigten ein sicheres Arbeitsumfeld zu schaffen. Eine klare Haltung der Geschäftsleitung, Bekenntnisse zu Vielfalt und Respekt und das konsequente Vorgehen bei Verstößen gegen das Diskriminierungsverbot sind wesentliche Säulen für ein diskriminierungsfreies Miteinander. Letztlich kommt ein gutes, respektvolles Arbeitsklima allen zugute. Wir unterstützen bei der Entwicklung von Leitlinien und Umsetzungshilfen zum AGG im Betrieb.«
Klaudia Tietze vom Kumpelverein nimmt auch Ausbilderinnen und Ausbilder sowie Lehrkräfte in die Pflicht: »Bewusst oder unbewusst, gezielt oder zufällig agieren Ausbilderinnen und Ausbilder sowie Lehrkräfte an berufsbildenden Schulen nicht nur als Lehrpersonen, sondern auch als Vorbilder. Ihre Verhaltensweisen werden von den jungen Menschen beobachtet, aufgenommen und gelernt. Die persönlichen Einstellungen des Berufsbildungspersonals im Umgang miteinander und in Konfliktsituationen spielen eine wichtige Rolle. Sie wirken bereits, bevor die Lehrkräfte aktiv Maßnahmen ergreifen. Darum sind Solidarität, Kooperationsbereitschaft und Konfliktfähigkeit grundlegende Voraussetzungen für das demokratische Zusammenleben, auch im Betrieb und in der Schule. Die aktuelle betriebliche Praxis zeigt, dass die Ausbilderinnen und Ausbilder viele Möglichkeiten haben, das Thema Rassismus mit ihren Azubis zu bearbeiten. Sie können Rahmenbedingungen schaffen, in denen die Auszubildenden eigene Projekte starten. Als Anlass kann hier der jährliche Wettbewerb ›Die Gelbe Hand‹ dienen. Sie können Bildungsmaßnahmen externer Träger in Anspruch nehmen oder selbst aktiv werden und Bildungsmaßnahmen durchführen. Der Kumpelverein hat hierfür diverse Materialien erstellt.«
In Unternehmen mit Betriebsrat rät Tietze zudem zu Betriebsvereinbarungen, »die den Rang eines verbindlichen Vertrags« haben. Kommt es zu Verstößen dagegen, ist der Arbeitgeber verpflichtet, etwas zu unternehmen. »Gleichzeitig ist auch die Belegschaft an die Vorgaben gebunden«, so Tietze weiter. »In Unternehmen ohne Betriebsrat kann der Arbeitgeber selbst Verhaltensregeln aufstellen, an die sich alle Beschäftigten halten müssen.« Eine Regel, die sich Händlerinnen und Händler dabei selbst auferlegen können, ist eine klare Kommunikation, dass Rassismus am Arbeitsplatz nichts zu suchen hat. Das Umstellen des Bewerbungsprozederes auf anonymisierte Bewerbungen sorgt zudem dafür, dass die Belegschaft diverser wird.
Betriebe können auch gegenüber ihrer Kundschaft signalisieren, dass sie rassistisches Verhalten in ihrem Geschäft nicht dulden und Vielfalt als Bereicherung sehen. Städte wie München bieten Unternehmen Aufkleber wie »München ist bunt« an, die in Schaufenstern und an Türen platziert die innerbetriebliche antirassistische Haltung nach außen dokumentieren. Auch das Aufhängen und Verteilen von Plakaten und Info-Flyern bzw. die aktive Teilnahme an den »Internationalen Wochen gegen Rassismus«, die jährlich bundesweit stattfinden, dieses Jahr vom 14. bis 27. März 2022, stärkt neben expliziten Schulungen und Weiterbildungen das Bewusstsein im Betrieb gegen Rassismus. »Prävention soll immer im Vordergrund stehen. Handeln, bevor eine Beschwerde entsteht, ist immer die beste Lösung für ein gutes Betriebsklima ohne Rassismus«, ermuntert dazu Tietze alle Beteiligten im Handel.
Lesetipp: Mach meinen Kumpel nicht an! – für Gleichbehandlung, gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus e. V. (Hg.): »So nicht!«
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