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Zu einem schicken Fahrrad gehört auch ein schicker Helm.
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Report - Helmpflicht

Helmpflichtdebatte und kein Ende

Ewig grüßt das Murmeltier könnte man sagen, wenn es in den Medien wieder mal um Helmtragequoten und die Helmpflicht geht. Dabei verdient das Thema eine durchaus differenzierte Betrachtung. Auch vor dem Hintergrund von Radverkehr als angestrebtem Massenphänomen, E-Bike-Boom, alten Vorurteilen und neuen Erkenntnissen.

Über eines kann man sich sicher sein: Kaum bringt man das Thema Helm und Helmpflicht zusammen mit Radfahren in einem zusammenhängenden Satz heraus, ist Aufmerksamkeit auf allen Kanälen garantiert. Oder wie es Hans-Heinrich Pardey kürzlich treffend in der FAZ formulierte: »Wer im Netz eine wütend hochkochende, emotional völlig überzogene Diskussion lostreten möchte, kann etwas Gemeines über Kinder oder Haustiere durch die Gegend posten. Oder er äußert sich zum Thema Helmpflicht für Radfahrer.«
Neben allen richtigen und wichtigen Argumenten liegt vielfach der Verdacht nahe, dass es einigen tatsächlich eher um die Wahrnehmung der eigenen Person, Institution oder Partei, als um die Sache geht. Wie sonst wäre es beispielsweise zu erklären, dass sich prompt nachdem Frau Dr. Merkel auf der letzten Eurobike ihr Kanzlerwort gegeben und sich gegen eine Helmpflicht ausgesprochen hat, ein Landesverkehrsminister (der SPD) auf Stern-TV publikumswirksam, eloquent und mit bekannten und vielfach zu bezweifelnden Argumenten Stimmung für eine Einführung der Helmpflicht machte? Immerhin von dieser »Front« ist seit der Einführung der großen Koalition nichts mehr zu hören.

Radfahrer in Rüstung?

Auch die Gesellschaft für Ortho­pädie und Orthopädische Chirurgie DGOOC, die im Vorfeld ihres Kongresses im September 2012 ihre Kernkompetenz bei der Unfallforschung entdeckte und zusammen mit der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) ebenfalls öffentlichkeitswirksam in Fach- und Publikums­medien eine Helmpflicht für Pedelecs forderte, ist inzwischen leiser geworden. Offensichtlich wurde den Verantwortlichen bewusst, dass sie mit ihren Empfehlungen zum Tragen von Motorradhelmen (!) bei E-Bikes bis zu 45 km/h in Verbindung mit geeigneter Schutzbekleidung wie Protektoren
»um sich im Falle eines Sturzes vor Abschürfungen und Platzwunden zu schützen« dann wohl doch etwas über das Ziel hinausgeschossen sind.
Für erheblichen Zündstoff in der anhaltenden Diskussion sorgte auch das (zum Zeitpunkt der Artikelerstellung in Revision befindliche) Urteil des 7. Zivil­senats des schleswig-holsteinischen Oberlandesgerichts (Aktenzeichen 7 U 11/12), in dem entschieden wurde, dass eine unverschuldet gestürzte Radfahrerin 20 Prozent ihres aus dem Unfall entstandenen Schadens selbst tragen müsse, da sie keinen Helm trug. Die bemerkenswerte Begründung der Richter zeugt einerseits von einem ganz eigenen Verständnis für die Rolle von Radfahrern im Straßenverkehr und stellt andererseits Zusammenhänge her, die sich zwar durch Allgemeinplätze belegen lassen, allerdings nicht durch Forschung. Denn die kommt mithin zu ganz anderen Ergebnissen. Beispielsweise zu dem, dass ein signifikanter Rückgang der Verletzungen bei einer höheren Helmtragequote nur schwer nachzuweisen ist, oder dass ein Fahrradhelm in seiner derzeitigen Ausführung, genau wie ein Skihelm, vor schwerwiegenden Hirnverletzungen eben kaum ausreichenden Schutz ­bietet.

Zweifelhafter ­gesellschaftlicher Nutzen

Den gesamtgesellschaftlichen ­Nutzen einer Helmpflicht untersuchte kürzlich auch der Verkehrswissenschaftler Gernot Sieg an der Univer­sität Münster. Selbst unter der äußerst optimistischen Annahme, dass jeder zweite durch eine Kopfverletzung getötete Radfahrer nach Einführung der Helmpflicht überleben könnte und jeder zweite schwer Verletzte nur leichte Kopfverletzungen davontrüge (Anm.: tatsächlich kommen viele Radfahrer durch das Überrollen abbiegender LKWs ums Leben) seien die gesamtgesellschaftlichen Kosten um 40 % größer als der Nutzen. Vor allem durch den abzusehenden Umstieg der Radfahrer auf andere ­Verkehrsmittel.
Nur eine Zahlenspielerei? Keineswegs. Denn die Begründung für Eingriffe des Staates in die im Grundgesetz geschützte allgemeine Hand­-
lungsfreiheit misst sich eben auch immer am gesamtgesellschaftlichen Nutzwert. Bereits bei der Einführung der Gurtpflicht 1976 wurde über das Thema intensiv diskutiert. Letztlich kam man beim Gurt zum Ergebnis, dass das öffentliche Interesse im Hinblick auf die für die Allgemeinheit ­vermeidbaren Unfallfolgekosten so groß sei, dass der verhältnismäßig geringfügige Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit gerechtfertigt wäre.

Mehr Probleme als Lösungen

Wer immer sich oder anderen großen gesellschaftlichen Nutzen durch die Einführung einer Helmpflicht verspricht oder, wie der ehemalige Verkehrsminister Ramsauer, die Helm­tragequote als wichtigen Index beschwört, muss sich den Vorwurf gefallen lassen populistisch zu argumentieren. Denn in Wirklichkeit sind die Dinge wie immer deutlich komplexer als auf den ersten Blick. Mit der Einführung einer Verpflichtung würde beispielsweise dank Helmfrisur und fehlender Möglichkeit zum Wegschließen nicht nur die Fahrradnutzung zurückgehen, auch die vielgelobten boomenden Fahrradverleihsysteme würden wohl verwaisen. Selbst die Idee des multimodalen Verkehrs, einem zentralen Ansatz für eine neue Mobilität, würde voraussichtlich weitgehend ohne das Fahrrad als Verkehrsträger auskommen müssen. Denn wer hat schon immer einen Fahrradhelm dabei, um sich – ganz spontan – von Zug oder PKW auf ein Bike-2-go zu schwingen? Gut, einen Helm kann man leihen. Aber da fangen die Probleme erst richtig an. Größe, Anpassung und nicht zu vergessen die Hygiene sind bislang weitgehend unbedachte und nicht zu unterschätzende Herausforderungen.

Helm: Mittel, aber kein ­Allheilmittel

Für ein entspanntes Verhältnis zum Helmtragen tritt David Cervenka von der jungen Marke Melon ein, die sich mit ihren modernen Designs nicht nur bei der jungen Kundschaft großer Beliebtheit erfreut: »Generell finden wir das Tragen eines Helms natürlich auch als Hersteller gut und richtig. Wir sprechen uns aber sehr gegen eine Helmpflicht und vielmehr für eine der jeweiligen ­Situation angepasste Kleidung und Kopfbedeckung aus. Ob man mit dem Rad auf dem Weg zum Bäcker einen Helm braucht, daran kann berechtigt gezweifelt werden.« Anderseits könnten seiner Meinung nach die Verbreitung von E-Bikes und die damit verbundenen höheren Durchschnittsgeschwindigkeiten, ganz ohne Zwang, automatisch zu einer höheren Helmtragequote führen. Ob die generelle Fokussierung auf das Thema Helm allerdings der Königsweg zu mehr Sicherheit und weniger Verletzten und Toten ist, daran hat auch er ganz erhebliche Zweifel: »Bevor der Gesetzgeber eine Helmpflicht beschließt, sollte er meiner Meinung nach den Rahmen zur allgemeinen Erhöhung der Sicherheit auf dem Rad ausschöpfen.« Dazu gehören nach gängigen Erkenntnissen neben dem Aufbau einer sicheren Radinfrastruktur zum Beispiel auch aktive Totwinkel-Assistenten für LKWs, die Einführung von großflächigen Tempo-30-Zonen, die verstärkte Überwachung des Parkverkehrs, zum Beispiel auf Radwegen und die bessere Ahndung von Geschwindigkeitsübertretungen oder Telefonieren am Steuer. Und auch bei Radfahrern selbst gibt es noch Potenziale. »Für mich ist es zum Beispiel unverständlich, warum einerseits ein Helm gefordert wird und andererseits Kopfhörer bei Radfahrern weiterhin erlaubt sind«, wundert sich Cervenka.

11. Juni 2014 von Reiner Kolberg
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