Report - Streitobjekt Fahrradhelm
Immer wieder eine auf‘n Deckel
Sie sind jung, schön und fast nackt – die Models für die »Helmkampagne« von Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer im März 2019. Sie räkeln sich im Bett, in Dessous und/oder Unterwäsche. Was bei anderen Auftraggebern sofort böse angekreidet würde – hier ist es von Staats wegen gezielt eingesetzt: Werbung mit Nacktheit für ein Produkt, das mit nackten Körpern überhaupt nichts zu tun hat, schließlich wird nicht für Dessous geworben. Denn die Models haben – teils im Bett – einen Fahrradhelm auf. So weit, so schlecht.
Der Gipfel war für viele nicht der staatlich verfügte Sexismus, der hier vom Verkehrsministerium präsentiert wird – denn so stuft man Werbung für ein Produkt mit Nacktheit offiziell ein, wenn es keinen »Sachzusammenhang« zwischen Ausziehen und Produkt gibt – sondern der Slogan dazu: »Looks like shit. But saves my life«, stand auf den Plakaten, die in einigen Großstädten Deutschlands verklebt wurden. Dass das aktuelle Helmdesign nicht »like shit« auftritt, sollte auch dem Minister auffallen, wenn er denn ab und zu Verkehrsteilnehmer auf dem Fahrrad wahrnimmt. Doch noch skurriler hörte sich die Argumentation des Ministeriums pro Kampagne an: Man habe eine schwer erreichbare Zielgruppe ansprechen wollen, so eine Sprecherin, und dafür brauche es eben besonders auffällige Bilder. Dabei ist diese Zielgruppe der 17- bis 30-Jährigen genau jene Gruppe, deren Lebensstil und Modebewusstsein in Social-Media-Kanälen tagtäglich, ja, minütlich mitgeprägt werden. Schwer erreichbar?
Wirklich »Shit« on our Heads?
Eine andere Perspektive haben naturgemäß Helmhersteller auf so eine Kampagne. Beim deutschen Unternehmen Uvex meinte man lakonisch: »Aufklärung ist wichtig, aber gerne intelligent verpackt«, so war in der Stuttgarter Zeitung zu lesen. Auch den Vorwurf der sexistischen Darstellung an das Ministerium könne man gut verstehen. Und dass ein Helm nicht »shit« aussehe, habe sich (fast) überall herumgesprochen, so die Sprecherin laut der Zeitung. Dem Gros der Hersteller war es jedenfalls nicht der Mühe wert, eine derartige, in Richtung Rufmord gehende Unterstellung zu kommentieren.
Mancher Hersteller drehte lieber den Spieß um: »Looks nice. And saves my life«, demonstriert das der Helmhersteller Casco auf seiner Internetseite. Und unabhängig von der Kampagne bewerben die Kollegen von Kask ihren Urban-Lifestyle-Helm mit »Lifestyle keeps you safe with a vintage inspired design ...« Helme, vor allem für die City, werden schon lange damit beworben, dass sie sehr stylisch wirken. Und mal ehrlich: Wann haben Sie zum letzten Mal das Argument gehört, Helme seien nun mal hässlich?
Der Radfahrer muss den Kopf hinhalten
Eine misslungene Kampagne ist eines. Ihr Ziel aber – für die Helmnutzung Werbung zu machen – ist ein ganz anderer, kommentierenswerter Sachverhalt; vor allem, wenn der Auftraggeber das Verkehrsministerium ist. So meinte die Bloggerin Kiyak in ihrer Kolumne auf Zeit.de: »Es gibt eine immer größer werdende Autokritik, die darauf aufmerksam macht, dass man sich im innerstädtischen oder ländlichen Raum alternativ bewegen kann. Wir erleben gerade einen massiven Umbruch im Denken über Mobilität. Und in diese Stimmung hinein warnt der Verkehrsminister vor den Gefahren des Fahrradfahrens.« Weiter könnte man fragen, weshalb man 400.000 Euro für eine Helmkampagne ausgibt, während man anscheinend nicht willens ist, mehr Geld schon in die Verhinderung von Fahrradunfällen zu investieren – und sei es nur dafür, den lange angekündigten »Abbiege-Assistenten« für LKW zur Pflicht zu machen. Und damit Unfälle zu verhindern, statt zu versuchen, deren Folgen zu minimieren. Immerhin gibt es beim Rechtsabbiegen die meisten tödlichen Unfälle zwischen Radfahrer und Auto. Bei diesen Unfällen kann ein Helm übrigens meist wenig zum Überleben beitragen.
Kollege Matthias Müller von der Bike Bild meinte in seinem Videokommentar auf Facebook dann auch recht deutlich: »... der größte Schwachsinn, den ich je gesehen habe.« Und auch dem sonst eher diplomatisch agierenden ADFC gefiel die Kampagne gar nicht. Der Bundesgeschäftsführer Burkhard Stork meinte laut Westdeutscher Zeitung: »Viele Menschen ärgern sich über so eine Kampagne, viele Menschen fühlen sich überhaupt nicht ernst genommen.«
Schadensbegrenzung statt Unfallverhütung
Womit wir beim vielleicht ältesten wiederkehrenden Helm-Thema wären: die Helmpflicht. Immer wieder gibt es Diskussionen darüber. Man kennt die Argumente für und wider. Helme schützen, das ficht heute kaum mehr jemand an, auch wenn darüber vergessen wird, dass Kopfverletzungen nur einen kleinen Teil der Verletzungen bei Fahrradunfällen ausmachen – mancher argumentiert sarkastisch dafür, eher eine Protektor-Pflicht einzuführen. Oder schlägt vor, erst einmal eine Helmpflicht für Autoinsassen zu erlassen – die Zahl der Kopfverletzungen von Autofahrern ist bei Unfällen deutlich höher.
Aber wieso sträubt man sich dermaßen gegen die Helmpflicht? »In anderen europäischen Ländern – siehe Spanien – geht’s doch auch«, ist ein oft vorgetragenes Argument. Richtig, doch in Spanien gilt die Helmpflicht nur außerhalb von Ortschaften, in der City darf man ohne Helm fahren – schließlich sind Städte und Gemeinden dort froh, wenn sie es in ihren überfüllten Stadtzentren leichter und bequemer machen, auf das Auto zu verzichten. Und: In Spanien sind außerorts vor allem die Radsportler unterwegs – und die setzen dort wie auch hierzulande ohnehin zu einem sehr hohen Prozentsatz auf den Helm.
Übrigens: In den Niederlanden gibt es prozentual die meisten Radfahrer – und eine verschwindend kleine Helmtrage-Quote. Kein Wunder: Wo der Radfahrer überall präsent ist, rechnet der Autofahrer konsequent mit ihm; und es passieren tatsächlich viel weniger Unfälle dort.
Und es gibt auch Studien, die dem Helm negative Effekte zuschreiben. So stellte man in Großbritannien fest, dass Radfahrer mit Helm enger überholt werden.
Jedenfalls regte die Gewerkschaft der Polizei im Winter 2018/2019 wieder einmal an, eine Helmpflicht einzuführen – schließlich würden die Unfallzahlen deutlich steigen. Bei dieser Rechnung ließ man allerdings außer Acht, dass auch die Zahl der Radfahrer, vor allem der E-Biker deutlich gestiegen war. Auch wenn es sich kalt anhört: Steigende Radfahrer-Zahlen führen statistisch naturgemäß zu mehr Radfahrer-Unfällen. Zumindest in einem Land, in dem es oft scheint, als wäre das Recht des Stärkeren immer noch das auf der Straße entscheidende.
Dem gegenüber, so ein altes Argument, führe eine Helmpflicht zum Rückgang der Fahrradfahrer – wobei als Beispiel häufig eine solche Entwicklung in Australien angeführt wird. Vielleicht war es die Angst davor, tatsächlich eine Rücknahme der Fahrradfahrer und damit eine neuerliche Zunahme des Autoverkehrs herbeizuführen? Jedenfalls war die Helmpflicht-Idee Anfang 2019 dann doch schnell vom Tisch. Dass das Auto womöglich Platz an den Radfahrer abtreten müsste, ist eine Sache – dass es noch mehr Autofahrer auf demselben Raumangebot gäbe, noch einmal eine ganz andere.
MIPS oder: Wem gehört die maximale Sicherheit?
Um eine Diskussion über wissenschaftliche Ergebnisse, die in ungewohnt scharfer Weise öffentlich ausgetragen wurde, geht es zwischen den Vertretern des schwedischen Helmtechnologie-Unternehmen MIPS und der Marke Bontrager, die dem amerikanischen Trek-Konzern gehört.
MIPS (Multi-directional Impact Protection System) liefert als Technologieanbieter eine spezielle Konstruktionsweise für Fahrrad- und andere Sporthelme, die laut ihrem Anbieter helfen soll, die gefährlichen Rotationen, denen das Gehirn bei einem Sturz ausgesetzt ist, zu vermeiden oder zu verringern. Konkret gelingt das mit einer gleitenden Aufhängung der Innenschale, die es ermöglicht, dass die Helmaußenschale sich bei einem Schrägaufprall etwas weiter dreht, die Innenschale aber zunächst an derselben Stelle bleibt. Mittlerweile bieten zahlreiche Helmhersteller Produkte mit der MIPS-Technologie an.
Treks Zubehörmarke Bontrager hatte nun vor kurzem seine eigene, neue Technologie namens Wavecel vorgestellt, die ebenfalls die gefährlichen Rotationskräfte entschärfen soll. Hierbei ergänzt eine Art dreidimensionales, engmaschiges Kunststoff-Netz die gewöhnliche EPS-Struktur (also den »Styropor« im Helminneren). Nach Angaben des Herstellers sollten damit Gehirnerschütterungen 48-mal besser verhindert werden können als mit normalen EPS-Helmen.
Das wollten die MIPS-Macher so nicht stehen lassen: Sie kündigten Untersuchungen an, maßen im Labor nach. MIPS behauptete danach, keine signifikante Verbesserunge gegenüber Versuchen mit normalem Helm-Aufbau festgestellt zu haben.
Wie geht’s weiter? In der Pressemitteilung vom 2. April dieses Jahres fordern die Schweden, einheitliche Normen für die Labormessung von Rotationskräften zu schaffen – nur so käme man an wirklich vergleichbare Daten.
Schon 2017 gab es übrigens einen ähnlichen Rechtsstreit: zwischen dem Unternehmen POC und MIPS. Der ebenfalls aus Schweden stammende Zubehör-Hersteller hatte eine Technologie entwickelt, die einen wesentlich höheren Schutz versprechen sollte als gewöhnliche Fahrradhelme. MIPS sah in der Entwicklung, die auf der Eurobike 2017 vorgestellt worden war, allerdings eine Patentverletzung und versuchte eine einstweilige Verfügung in Deutschland durchzusetzen. Diese konnte POC jedoch abwenden und erhob seinerseits Anklage gegen das Unternehmen MIPS. Vor einem Jahr dann einigten sich die beiden Parteien und beschlossen, gemeinsam an der Entwicklung neuer Technologien zu arbeiten. Ein Ende wie im Märchen, das beim aktuellen Streit mit Bontrager bis Redaktionsschluss noch nicht abzusehen war.
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