Interview - Norbert Haller
Industriedesign definiert sich neu
Herr Haller, Sie beschäftigen sich seit Ende der 90er-Jahre mit der Entwicklung und Gestaltung von Elektro-Leichtfahrzeugen. Lastenräder sind en vogue. Wohin führt dieser Trend und wo sehen Sie die Zukunft?
Lastenfahrräder werden sich weiter entwickeln, da sie eine echte Alternative zum Auto darstellen, vor allem in den Städten. Die Zeichen unserer Zeit, wie Digitalisierung, Nachhaltigkeit, Platzmangel in den Städten und der Bedarf an umweltfreundlichen Transportmöglichkeiten, haben ein Marktsegment mit viel Entwicklungspotenzial geschaffen. Leichte Cargobikes sind heute schon sehr erfolgreich. Für die Zukunft sehe ich eine besondere Bedeutung in Pedelec-getriebenen Microcars und schweren Lastenrädern, die klein, robust und digital sind.
Künstliche Intelligenz und autonomes Fahren bieten zusätzlich ein enormes Innovationsfeld und können uns behilflich sein, unsere innerstädtischen Platzprobleme in den Griff zu bekommen. Mithilfe automatischer Updates der Fahrzeugsoftware werden wir jederzeit in der Lage sein, neue Funktionen mit bestehenden Vehikeln zu verknüpfen. Wenn die Kette Schnee von gestern ist und ein guter Wetterschutz den Komfort und die Sicherheit beim Fahren verbessert, werden auch die letzten Hürden fallen, die manche Menschen heute noch daran hindern, in ein Fahrzeug mit Pedalen zu steigen.
Was wünschen sich Ihre Kunden, wenn sie Ihnen einen Entwicklungsauftrag erteilen?
Unsere Entwicklungsaufträge sind sehr weit gefächert. Die Anfragen reichen von Konzeptskizzen bis hin zu komplexen, mehrjährigen Fahrzeugentwicklungen. Oftmals geht es dabei um die Entwicklung von E-Bikes der nächsten Generation. Entweder mit Integration der verbreiteten Antriebssysteme wie Bosch, Shimano, Brose, und so weiter oder es handelt sich um komplette Neuentwicklungen. In beiden Fällen sind wir für das Design zuständig und in alle Entwicklungsphasen involviert.
»Um erfolgreich zu sein, gehört viel mehr dazu als ›nur‹ das Fahrzeug per se.«
Norbert Haller, IDberlin
Ein häufiger Kundenwunsch sind detailgetreue und fertigungsgerechte technische Ausarbeitungen der Designs. Wir werden auch immer wieder angefragt, die Umsetzung eines Projekts beim Produzenten zu betreuen, was dann meistens in Asien stattfindet. Know-how zum Thema Nachhaltigkeit ist zunehmend gefragt.
Steht der Auftrag, wo fangen Sie dann als Designer an?
Das ist von Projekt zu Projekt unterschiedlich und hängt von den Wünschen des Kunden ab. Zu Beginn gehen wir normalerweise in einen intensiven Austausch, um die Bedürfnisse des Kunden besser zu kennenzulernen. Als Nächstes erstellen wir eine detaillierte Projektplanung, bei der wir alle Schritte des Projekts definieren. Diese können von einer ausführlichen Marktrecherche über das Konzeptdesign, die Konstruktion bis hin zur Umsetzung des Projekts für die Serienfertigung reichen.
Mit unserem Team können wir bei IDberlin viele Schritte des Entwicklungsprozesses umsetzen. Die offenen Bereiche, wie zum Beispiel Elektronikentwicklung, decken wir mit unserem weitreichenden Netzwerk ab.
Wie erleben Sie die R&D-Abteilungen bei den Herstellern? Wie hoch ist deren Professionalisierungsgrad?
Die Bandbreite ist groß. Sie reicht von nicht vorhanden bis zu hoch professionell, das hängt ganz vom Hersteller ab. Wir erleben, dass die Komplexität von Elektro-Leichtfahrzeugen und die Anforderungen an die Produkte stetig steigen. Einen ähnlichen Anstieg sehen wir bei der Professionalisierung der Entwicklungsabteilungen. Die Tendenz ist weiter steigend.
Was sehen Sie als die größte Herausforderung bei der Entwicklung eines erfolgreichen Cargobikes?
Die extreme Komplexität des Fahrzeugs an sich und der Prozesse darum herum. Das Fahrzeug muss eine lange Checkliste von Anforderungen erfüllen. Es soll eine möglichst hohe Nutzlast bei möglichst geringem Eigengewicht haben, höchste Sicherheitsstandards erfüllen und mit Langlebigkeit punkten. Ebenso wichtig sind Kriterien wie Servicefreundlichkeit, Wettbewerbsfähigkeit und vielseitige Einsatzmöglichkeiten.
Aber um erfolgreich zu sein, gehört viel mehr dazu als »nur« das Fahrzeug per se. Eine große Rolle spielen dabei auch das passende Geschäftsmodell, entsprechende Zahlungsmodalitäten, die richtigen Marketingstrategien und ein breit aufgestelltes Servicenetz.
Die Rolle des Industriedesigns ändere sich gerade zu einem umfassenderen Ansatz.
Um Absatzzahlen zu generieren, ist es entscheidend, dass das Fahrzeug als multifunktionale Plattform gebaut ist, die verschiedenste Anwendungen und Marktsegmente bedienen kann.
Nachhaltigkeit ist hoch im Kurs. Wie wirkt sich das auf die Fahrzeugentwicklung aus?
Als Designer ist es unsere Aufgabe, das Fahrzeug und die damit verbundenen Prozesse als Ganzes zu betrachten. Der Anspruch der Nachhaltigkeit betrifft den gesamten Zyklus eines Produkts, von der Entstehung bis zur Entsorgung, und wirkt sich massiv auf die Entwicklung- und Produktionsprozesse aus. Schon bei der Konzeption des Fahrzeugs und beim Aufbau der Lieferketten gilt es, auf Nachhaltigkeit zu achten. Ebenso wie bei den verwendeten Materialien, den Produktionsprozessen, beim Vertrieb und schließlich beim Recycling.
Nachhaltigkeit umfasst also weit mehr als nur den Fokus auf regionale Lieferanten und Materialien aus nachwachsenden Rohstoffen wie zum Beispiel Flachs, Schaumstoff oder Textil. Wir müssen die Aspekte der Kreislaufwirtschaft in den gesamten Design- und Entwicklungsprozess integrieren.
Um dieser Herausforderung besser gerecht zu werden, beteiligt sich IDberlin zurzeit an einer Studie, die sich mit dem Bau einer Cargobike-Plattform aus rein biologischen Materialien befasst.
Welche Rolle spielt das Industriedesign für die Mobilität von morgen?
Die Rolle des Industriedesigns verändert sich gerade grundlegend. Aus Produktgestaltung wird Prozessdesign. Es geht nicht mehr nur um Look und Funktion eines Produkts, sondern gleichermaßen um alles, was vor und nach der Herstellung geschieht.
In der Praxis ist es daher wichtig, dass das Designteam von Anfang an in den Entwicklungsprozess einbezogen wird und auch nach Beginn der Serienproduktion weiterhin involviert bleibt. Denn auch neue Funktionen, die beispielsweise durch ein Aftersales-Softwareupdate dem Fahrzeug hinzugefügt werden, wollen gut gestaltet sein.
Für die Mobilität der Zukunft sehe ich eine der größten Aufgaben für uns Designer darin, die Art und Weise, wie wir Menschen ein Fahrzeug wahrnehmen und was wir davon erwarten, neu zu definieren. Eine neue Mobilität erfordert eine neue Designsprache. Um das passende »Wording« für diese Sprache zu finden, können wir Schlüsselelemente wie Wetterschutz, Sicherheitsfeatures, Nachhaltigkeit und Digitalisierung heranziehen. Diese bieten enorme Möglichkeiten für neue Gestaltungsansätze, aber auch große Herausforderungen.
Wir müssen uns vor Augen führen, dass gewerblich genutzte Cargobikes Arbeitsplätze sind für Menschen, die bisher einen Mercedes Sprinter oder Ähnliches gefahren sind. Die Messlatte liegt also hoch und daran müssen sich künftige Lieferfahrzeuge in puncto Komfort, Ergonomie, Sicherheit, Funktionalität und Benutzerfreundlichkeit messen, den Coolness-Faktor nicht zu vergessen!
Insgesamt wird unsere moderne Mobilität immer komplexer. Nachhaltigkeit und Digitalisierung befeuern diesen Trend. Ein erfolgreiches Fahrzeug zeichnet sich nach wie vor dadurch aus, dass es dem Kunden und dem Nutzer insgesamt die bestmögliche Lösung bietet. Und genau das ist die Aufgabe des Designteams, sich bei aller Komplexität auf die beste Lösung für die Zielgruppe des Produkts zu fokussieren. //
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