
Neue Regierung formiert sich
Interessenverbände stehen Koalitionsvertrag zwiespältig gegenüber
Es ist wie immer, wenn eine neue Regierung versucht, in die Spur zu kommen. Die Regierenden selbst zeigen sich meist zufrieden mit dem ausgehandelten Koalitionspapier, während die Opposition die Pläne in der Luft zerreißt – je nach Colour der Parteien passiert das mehr oder weniger wortgewaltig. Was die jetzt aufgezeigte Richtung der deutschen Bevölkerung bringt, oder auch nicht – das wird die Zukunft zeigen. Auch Interessenverbände formieren sich und kommentieren ihre Sichtweise – dies geschieht vornehmlich argumentativ und weniger polemisch als in den ersten parteipolitischen Reaktionen.
Zukunft Fahrrad
Aus der Fahrradbranche ist zuerst der Verband „Zukunft Fahrrad“ aus der Deckung gekommen. Dort begrüßt man zunächst, dass es „zügig“ zu einer Einigung gekommen ist. Die sicherheitspolitischen, volkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen seien so groß, dass Deutschland schnellstmöglich eine handlungsfähige Regierung braucht.
Wasilis von Rauch, Geschäftsführer Zukunft Fahrrad, erklärt: „Es ist gut, dass die Koalitionäre CDU, CSU und SPD im Koalitionsvertrag neues Wirtschaftswachstum zur Priorität erklärt haben und dem Mittelstand den Rücken stärken wollen. Das Sondervermögen Infrastruktur ist ein richtiger und wichtiger Schritt, um die Leistungsfähigkeit Deutschlands zu sichern – auch im Verkehr. Jetzt gilt es, diese Chance zu nutzen und Fahrradinfrastruktur durch Bund, Länder und Kommunen auszubauen. 70 Prozent der Alltagswege sind in Fahrraddistanz – günstiger als mit Fahrradinfrastruktur ist sichere, zuverlässige und leistungsfähige Mobilität nicht zu bekommen. Zudem ist Infrastruktur eine zentrale Wirtschaftsförderung für unsere Branche. Als Fahrradwirtschaft stehen wir bereit, gemeinsam mit der neuen Bundesregierung die positiven Ansätze umzusetzen und gleichzeitig offen gebliebene Punkte entschlossen anzugehen. Denn davon gibt es insgesamt zu viele. Dazu gehören Maßnahmen und Ziele für den Radverkehr oder auch die gesetzliche Verankerung des Dienstradleasings. Das braucht es, um Deutschland nicht nur als Leitmarkt der Fahrradwirtschaft zu erhalten, sondern nachhaltig auszubauen.“
Der Wirtschaftsverband geht weiter ins Detail und liefert eine Bewertung des Koalitionsvertrag in den drei Teilbereichen Verkehr, Finanzen und Wirtschaft.
Verkehr
• Die enorme Investitionsoffensive im Sondervermögen Infrastruktur in den nächsten zehn Jahren ist wichtig. Die konkrete Mittelverwendung ist noch nicht ausdefiniert. Für die Fahrradwirtschaft ist dabei selbstverständlich, dass Fahrradinfrastruktur Teil der Investitionen sein muss. Zu lange ist von Bund, Ländern und Kommunen zu wenig in Erhalt und Ausbau der Radinfrastruktur investiert worden. Der Investitionsstau ist enorm, könnte aber durch Berücksichtigung im Sondervermögen für Infrastruktur und im Klima- und Transformationsfonds (KTF) gelöst werden. Auch die Länder und Kommunen müssen die neuen Spielräume für Investitionen in Fahrradinfrastruktur nutzen.
• Wenn die Bundesregierung Planungs- und Genehmigungsverfahren wie angekündigt grundsätzlich überarbeitet und beschleunigt, kann das ein wichtiger Schritt zu einer leistungsfähigen Infrastruktur sein.
• Dass sich die neue Bundesregierung im Straßenverkehr am Zielbild der Vision Zero orientieren will, ist zu wenig. Es braucht ein klares Bekenntnis, die Zahl der Verkehrstoten durch konkrete Maßnahmen zu senken und die Straßen für alle Verkehrsteilnehmenden sicherer zu machen.
• Die Potenziale des Radverkehrs und die Notwendigkeit konkreter Maßnahmen sind in den Koalitionsverhandlungen nicht erkannt worden. Ein einzelner Satz zu aktiver Mobilität, dass Rad- und Fußverkehr als Bestandteil nachhaltiger Mobilität gestärkt und gefördert werden sollen, ist zu knapp und ungenau. Er wird der Bedeutung des Fahrrads für zeitgemäße Mobilität nicht gerecht. Die Bundesregierung darf hier nicht hinter den Nationalen Radverkehrsplan 3.0 zurückfallen, der noch von der letzten schwarz-roten Koalition beschlossen wurde.
• Intermodaler Verkehr kommt im Koalitionsvertrag nicht vor, dabei ist die Verknüpfung verschiedener Verkehrsträger ein entscheidender Baustein zukunftsfähiger und einfach zugänglicher Mobilität. Dazu gehört insbesondere der Ausbau von Fahrradparken an Bahnhöfen und Haltestellten.
• Der Verkehr ist nicht auf dem Pfad für Klimaschutz. Die Ankündigung, Mauteinnahmen nur noch für den Verkehrsträger Straße einzusetzen und am bestehenden Bundesverkehrswegeplan und den Aufstellungsverfahren festzuhalten, wird den klimapolitischen Erfordernissen im Verkehrssektor nicht gerecht. Die Chancen des Radverkehrs für Klimaeinsparungen werden nicht genutzt.
• Der europäische Klimasozialfonds soll soziale Härten durch die Ausweitung des Emissionshandels auf den Straßenverkehr und Gebäude ab 2027 im Rahmen des ETS II vermeiden. Die Bundesregierung sollte zehn Prozent der Mittel des deutschen Klimasozialfonds in erschwingliche und attraktive Fahrrad-Mobilität für benachteiligte Gruppen investieren und diese so wirksam in ihrer Alltagsmobilität unterstützen. Im Koalitionsvertrag wird für den Klimasozialplan nur ein konkreter Mitteleinsatz für den Erwerb von E-Pkws angekündigt. Hier müssen sie nacharbeiten.
Finanzen
• Dienstliche Mobilität ist überproportional für die CO2-Emissionen auf deutschen Straßen verantwortlich. Funktionierende Lösungen wie das Dienstradleasing müssen auf eine gesetzliche Grundlage gestellt werden. Leider werden diese einfachen Lösungen für mehr Wahlfreiheit für die individuelle Mobilität noch nicht aufgegriffen. Zukunft Fahrrad wird sich engagiert dafür einsetzen, Dienstradleasing noch in dieser Legislaturperiode im Einkommensteuergesetz zu verankern. Es braucht außerdem eine Entbürokratisierung durch Pauschalierungsregeln für die steuerliche Behandlung dienstlich und privat genutzter ÖPNV-Zeitkarten, Sharing-Mitgliedschaften und Mobilitätsbudgets, wie es sie heute schon für den Dienstwagen gibt.
Wirtschaft
• Die Bundesregierung kündigt im Kapitel zur Automobilindustrie Kaufanreize für E-Mobilität Es ist ein Ungleichgewicht solche Förderungen nicht auch für weitere E-Mobilität wie Pedelecs zu öffnen. Die Fahrradwirtschaft fehlt insgesamt bei den verschiedenen Sektoren des Industriestandorts Deutschland. Das ist eine vertane Chance und wird der Bedeutung unserer Branche für die zukunftsfähige Mobilitätswirtschaft nicht gerecht.
• Der angekündigte Abbau von überbordender Bürokratie wird – wenn konsequent umgesetzt – den Unternehmen der Fahrradbranche sehr helfen. Wir begrüßen, dass unter anderem Dokumentationspflichten reduziert und vereinfacht werden, alle Verwaltungsvorgänge digital gebündelt und mit dem "Once-only"-Grundsatz Daten gegenüber dem Staat nur einmal angegeben werden müssen.
• Die Koalition plant, die regionalen Transformations-Netzwerke und -Hubs der Automobilindustrie fortzuführen. Der Umbau der Mobilitätswirtschaft wird aber nur sektorübergreifend gelingen, dafür gehört die Fahrradbranche mit an den Tisch.
• Die angekündigte Beschleunigung von Arbeitsgenehmigungen und Anerkennungen von Berufsabschlüssen für qualifizierte Fachkräfte sowie die Verstetigung der Ausbildungsförderung sind wichtige Maßnahmen, um dem auch in der Fahrradbranche vorherrschenden Arbeitskräftemangel zu begegnen. Es ist gut, dass die kommende Bundesregierung modulare, abschlussorientierte Weiterbildungen stärken- und Personen ohne Berufsabschluss durch abschlussorientierte Teilqualifikationen nachhaltig in den Arbeitsmarkt integrieren will.
Einzelhandel sieht Licht und Schatten
Für den Handelsverband Deutschland (HDE) gibt Präsident Alexander von Preen ein erstes Statement zum Koalitionsvertrag ab, in der Verbandschef positive Ansätze, aber auch einige Lücken sieht. So bewertet die Branche insbesondere Entlastungen bei der Stromsteuer, wichtige Schritte beim Bürokratieabbau sowie die Einführung einer wöchentlichen Höchstarbeitszeit sowie das klare Bekenntnis zur Vertrauensarbeitszeit ohne Arbeitszeiterfassung positiv. Dagegen vermisst der Einzelhandel die entschiedene Förderung des Standorts Innenstadt sowie ein klares Bekenntnis zur Tarifautonomie vor allem bei der Festsetzung des Mindestlohns.
„Der Koalitionsvertrag beinhaltet viele richtige und wichtige Dinge. Der Bürokratieabbau beispielsweise muss im Fokus der kommenden Bundesregierung stehen. Das ist richtig benannt. Klar erkannt ist auch der unfaire Wettbewerb mit Blick auf Plattformen wie Temu aus Drittstaaten außerhalb der EU, da müssen wir aber rasch in die Umsetzung von Gegenmaßnahmen kommen. Und auch bei den Stromkosten tut sich mit der Reduzierung der Stromsteuer endlich etwas. Richtigerweise soll außerdem eine dringend erforderliche Investitionsoffensive mit einem Deutschlandfonds auf dem Weg gebracht werden. Auf der anderen Seite bleiben aber ebenso wichtige Punkte offen oder ungenannt. Da muss die Regierung dann jenseits des Koalitionsvertrages ran“, so HDE-Präsident Alexander von Preen.
Kritisch bewertet der HDE insbesondere die ausdrückliche Benennung einer möglichen Mindestlohnhöhe von 15 Euro im Jahr 2026. „Die Tarifautonomie hat in Deutschland aus gutem Grund Verfassungsrang und muss vor politischen Eingriffen geschützt bleiben. Der Staat hat sich aus der Lohnfindung herauszuhalten, politische Zielmarken für die unabhängige Mindestlohnkommission sind auch in indirekter Form seitens der Politik nicht akzeptabel. Der Mindestlohn ist seit 2022 bereits um mehr als 30 Prozent gestiegen. Staatliche Einmischungen beim Mindestlohn produzieren nur Verlierer: Die Wirtschaft, weil sie weiter an Wettbewerbsfähigkeit einbüßt und die Menschen in unserem Land, die mit höheren Preisen und wachsender Arbeitsplatzunsicherheit leben müssen“, so der HDE-Präsident.
Zudem vermisst der HDE ein klares Bekenntnis und Hilfsmaßnahmen für die vielerorts gefährdeten Innenstädte. „Die Sanierung von Straßen, Brücken und Bahn ist wichtig, aber darüber darf man nicht unsere Stadtzentren vergessen. Die Lage ist vielerorts bedrohlich, viele Innenstädte erreichen Kipppunkte. Es braucht jetzt dringend bessere Möglichkeiten zur Abschreibung von Investitionen in Innenstädte. Das ist gut investiertes Geld und mobilisiert privates Kapital“, so von Preen weiter. Die vorgesehene Verdopplung der Städtebauförderung begrüßt der HDE, wobei diese staatlichen Finanzierungsmittel nach Ansicht des Verbandes alleine nicht ausreichen werden, um die Innenstädte zu vitalisieren.
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