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Portrait - fahrstil

Kultur schaffende

Velonauten nennen sich Chefredakteur H. David Koßmann und Herausgeber ­Gunnar Fehlau – die Macher von fahrstil – dem mehrfach preisgekrönten »Radkulturmagazin«. Zeit für eine Reise in den Kosmos der beiden Fahrradenthusiasten.

Was kommt dabei heraus, wenn man Herzblut, Professionalität und eine ordentliche Portion freigeistigen Unternehmertums zu einer neuen Melange verrührt? Nichts Langweiliges auf jeden Fall. Das war so bei der Gründung des Pressedienst Fahrrad und das hat sich fortgesetzt, als ein neues Magazin ins Leben gerufen wurde, das etwas ganz anderes sein wollte als alles bislang da gewesene. »Wir hatten die Nase voll von den immer gleichen Artikeln zu Neuheiten der Saison, Übersichten zu Einsteigermodellen und der scharfen inhaltlichen Trennung zwischen Radreisenden, Rennradfahrern oder Mountainbikern«, erläutert Gunnar Fehlau die Motivation, neue Wege zu gehen. »Natürlich haben solche Magazine ihre Berechtigung, aber uns ging es um etwas vollkommen anderes: Unser Anliegen war und ist es Horizonte zu öffnen, tiefer zu gehen und den Menschen da zu verorten, wo er seinem Kern nach zu Hause ist. Unterwegs in der Natur und in unserem Fall eben auf dem Rad. Dabei geht es zentral um den Menschen, nie um eine Definition über den jeweiligen Radtyp. Insofern vereinigt fahrstil seine Leser auf einen gemeinsamen Nenner: Radfahren.«

Unmöglichen Ideen Raum geben

Wann haben wir uns das letzte Mal erlaubt, vom Schreibtisch aufzustehen und einfach die Gedanken fliegen zu lassen? Ohne Begrenzungen zu setzen? Mit Partnern, die diese Auffassung nachempfinden und mitgestalten können? fahrstil hat es sich explizit zum Ziel gesetzt, Grenzen zu sprengen, neue und alte Formen der Fahrradkultur aufzuspüren und zu sezieren, vor- und mitzudenken. Aber Mitte der 1990er Jahre, als Gunnar Fehlau zwar gedanklich erste Konzepte entwickelte, seine Brötchen aber noch ausschließlich als Journalist verdiente, war die Zeit dafür einfach noch nicht reif. Radkultur war vorhanden, wurde aber trotz Tour-de-France-Gewinn von Jan Ullrich und aufstrebendem MTB-Kult nur von einem kleinen Kreis aktiv gewürdigt und gelebt. Gleichzeitig ist ein neues Magazin natürlich nie ein leichtes Unterfangen, wenn man nicht grade ein zweites Ass im Ärmel oder einen starken (und geduldigen) Verlag hinter sich hat.

2009: Die Zeit ist reif

für Radkultur

Ganz anders stellte sich die Situation 2009 dar. Zum Team des Pressedienst Fahrrad war H. David Koßmann gestoßen, den Gunnar Fehlau schon während eines früheren Praktikums als Bruder im Geiste entdeckt hatte. Auch mit der Corporate-Design-Agentur echtweiß gab es einen Partner, der die gemeinsame Auffassung teilte, Dinge einmal ganz ohne Druck von Chefs und Kunden perfekt machen zu wollen. Dazu kam, dass sich seit Jahrzehnten zum ersten Mal so etwas wie eine Kultur des Radfahrens im Alltag zu etablieren begann. »Durch unsere Arbeit konnten wir genau die Entwicklung verfolgen und entdeckten beim Thema Fahrrad die Kristallisation von Lifestyle«, beschreibt H. David Koßmann die Situation. »Immer mehr Fotografen und Modemagazine fragten Räder an, Journalisten, die sich seit Jahren nicht mehr mit dem Thema beschäftigt hatten, ließen sich zu den neuesten Entwicklungen briefen, und für Pedelecs interessierten sich plötzlich Kundengruppen, deren letzter Radkauf Jahrzehnte zurücklag.«
Der Rest der fahrstil-Genesis ist schnell erzählt: Erstes Planungstreffen mit potenziellen Partnern – allgemeine Begeisterung und der Wille, das Projekt zu unterstützen – steile Lernkurve bei der Gründung eines eigenen Verlags – viel Arbeit und hohes Engagement bei allen Beteiligten (neben echtweiß viele andere, die mit großer Begeisterung auch ehrenamtlich am Projekt mitwirkten). Dann im Mai 2010 die erste Ausgabe, Thema »handmade«.


-Als die Öffentlichkeitsarbeiter David Koßmann (links) und Gunnar Fehlau auf ein zunehmendes Interesse am Fahrrad als Lifestyle-Thema stießen, fanden sie die Zeit reif für fahrstil.-

Mittelmaß ist nicht

der richtige Maßstab

Die Reaktionen auf die ersten Hefte waren gespalten, ja sogar das, was man im Allgemeinen polarisierend nennt. Für die einen (leider auch manchen Marketeer aus der Fahrradbranche) ist fahrstil im Vier-Augen-Gespräch zu wenig »mainstreamig« – für andere (darunter viele Multiplikatoren aus der Medien-, Journalismus- und Kreativszene) ist das Magazin dagegen eine Offenbarung.
Wer jetzt aber denkt, dass Chef-Redakteur und Herausgeber, Autoren und Mitarbeiter, deren Liste sich übrigens wie das Who is Who der Fahrrad- und Designszene liest, einknicken, der irrt gewaltig, denn hier herrscht nach Goethe das Motto »Mittelmäßigkeit ist von allen Gegnern der schlimmste«. »Kein Thema und keine Idee sollte in diesem Heft zu schräg, zu sperrig oder zu speziell sein, um nicht realisiert zu werden«, stellt H. David Koßmann klar. »Das gilt übrigens nicht nur für die Themenauswahl, sondern auch für die Autoren, die Fotografen und das Layout. Und genau das ist auch der Grund, warum wir so viele Mitstreiter für das Heft begeistern konnten.«

Der Zauber steckt im Detail

Erst bei genauem Hinsehen und beim Nebeneinanderstellen der Hefte wird klar, wie der Anspruch der Macher zu verstehen ist, wenn sie davon sprechen, Räume für Grafik, Fotos, Texte und Ideen eröffnen zu wollen.


Die fahrstil-Macher sträuben sich gegen eine zu starke Kommerzialisierung des Magazins, ausgedrückt auch durch Fake-Anzeigen.

Viele Details erschließen sich beim ersten Durchblättern nicht sofort und auch die schlichten Titel wirken erst einmal sperrig: handmade – zeit – träume – gekauft – arsch – strom – mode heißen die sieben bislang erschienenen Ausgaben.

»Ich freue mich arg, dass ihr so ein wunderbares Werk kreiert habt.«Lesermeinung zu fahrstil

Im Innern der Hefte setzt sich die kreativ-nuancierte Linie fort. Dabei scheut das fahrstil-Team auch nicht vor dem schmalen Grat zwischen langsamer Erhellung und erstauntem Unverständnis zurück. Zum Beispiel, wenn es um das zwar edle, aber eigentlich zu dünne Papier in der Ausgabe zeit geht. Die Idee dahinter: Zeit ist nur ein Ausschnitt – hinter jedem Augenblick scheint auch das Neue und Vergangene durch. Und so sieht man auch Texte und Bilder immer durchscheinen. Faszinierend auch die Umsetzung zum Thema Strom: Die Inhaltsseite wird hier in einen Schaltplan integriert. Passend dazu die Paginierung in Form eines durchlaufenden Stromzählers. Und auf dem Titel? Ein Schwein. Auch hier der Aha-Effekt auf den zweiten Blick. Schweineschnauze = Assoziation zu Steckdose. Und auf den dritten Blick ein weiteres Aha-Erlebnis: Im Gegensatz zur matten Heftoberfläche glänzt sie sogar feucht. Leichter zu verstehen und entwaffnend feuchtfröhlich auch das »Lobbymeter«, das die Verortung des jeweiligen Artikels, also die berufliche oder private Nähe zum Interviewten oder Portraitierten mittels Schnapsgläsern widerspiegelt und um die eine oder andere Anekdote ergänzt.
Es sind viele dieser Kleinigkeiten, die auch gerne mal mit einer Prise anarchischem Humor in Form einer Fake-Anzeige gewürzt werden, die fahrstil neben der fachlich-/journalistischen Kompetenz in der Summe zu etwas ganz Besonderem machen. Das sehen auch die Gremien der renommiertesten Design-Preise so, die das Magazin regelrecht mit Auszeichnungen überschütteten: »iF communication design«-Award 2011 in Gold, EDAWARDS 2011 in Silber, reddot design award winner 2011, Eurobike Award 2011, nominiert zum Designpreis Deutschland 2012.

Radkultur – Commitment zum Thema Fahrrad

Neben dem hohen Anspruch an Design und Ideen gibt es natürlich auch noch eine inhaltliche Komponente und auch hier lohnt sich ein Blick hinter die Kulissen. »Das Radkulturmagazin« nennt sich das Magazin im Untertitel, was Konzept und Richtung vorgibt.

»Alle Radzielgruppen plus das Thema Fotokunst beliebig gemischt in einem Heft unterzubringen ist wirklich neu und spannend. Ich hatte vergnügliche Stunden. …«

Lesermeinung zu fahrstil

Die großen Vorbilder heißen dabei nicht zufällig brandeins – Wirtschaftsmagazin, ramp – Auto.Kultur.Magazin oder 11 Freunde – Magazin für Fußballkultur. Ihnen gemein ist, dass sie sich bewusst absetzen von oberflächlichen Trends, mehr auf Personen als auf Persönlichkeiten schauen und sich nicht von Marketingleitern oder PR-Agenturen gängeln lassen, sondern eigene Schwerpunkthemen setzen.
Journalismus ist hier noch eine »Entdeckerreise mit einem Begriff als Nordstern«, wie es Gunnar Fehlau ausdrückt. Was in der Theorie anspruchsvoll klingt, ist es auch in der Praxis. Autoren, denen Zeit gegeben wird, sich in Themen einzuarbeiten und zu vertiefen, vor Ort zu recherchieren und Artikel noch einmal zu schleifen, kosten Geld. Das Gleiche gilt natürlich auch für Fotografen, Grafiker und am Ende auch den Drucker. Damit erklärt sich der relativ hohe Preis dieser Magazine, aber auch ihr Erfolg. Denn angesichts der Flut von medialem Fastfood sehnen sich immer mehr Leser nach gehaltvoller und anspruchsvoller Kost. Futter für das Gehirn, Inspiration, Emotion und manchmal auch einfach nur Lachen oder Staunen.
Der Kulturbegriff ist dabei ebenso vielschichtig wie bedeutsam. Mit Bezug auf fahrstil gerade auch für die Fahrradbranche selbst, deren Rolle Gunnar Fehlau zwar mit großer Sympathie, aber auch durchaus kritisch sieht. Aber damit ist er nicht alleine. Allenthalben warnen Experten vor einer Aushöhlung der Marken und Produkte, die zwar an sich gut sind, an den Bedürfnissen, dem Selbstbild oder dem gewünschten Image der Kunden jedoch vorbeigehen. »Vor dem Konsum kommt die Kultur« merkt Gunnar Fehlau an. »Auch die Fahrradkultur wächst nicht wegen, sondern trotz der Branche«.
Das klingt erst einmal sehr akademisch, aber wenn man sich die Beispiele MTB oder Fixie anschaut, wird schnell deutlich, was damit gemeint ist. Junge Leute entdecken einen eigenen Stil für sich und entwickeln eine eigene Kultur. Ganz ohne Zutun der Industrie, die dieses Phänomen anfangs oft eher kritisch beäugt, bis sie auf den Gedanken kommt, dass jetzt Erntezeit sei, und das aufkeimende Pflänzchen schnell mit billiger Massenware erstickt. Mehr dazu mit Blick auf das Thema E-Bike gibt es übrigens in der Ausgabe Nr. 6 in dem lesenswerten Artikel »Supraleiter – Fahrrad, Farad, Verrat. Eine Branche unter Strom.«
Überhaupt: Das Reizthema E-Bike. Missionsversuche wenigstens hier, beim Verrat am Willen zur Leistung? Weit gefehlt. Die fahrstil-Initiatoren zeigen sich überzeugt von der friedlichen Co-Existenz zwischen Rad und E-Rad. Die Kultur des Radfahrens wird sich ihrer Auffassung nach damit künftig allerdings erheblich verändern: »E-Bikes sind vielleicht der größte Hebel für die Verbreitung in der Gesellschaft seit der Erfindung des Fahrrads. Mit der Elektrifizierung aller Modelle entsteht die komplette Fahrradbranche gerade ein zweites Mal. Mit einem Potenzial von 60 Millionen Rädern.«

Gedanken zum Schluss

Inspiriert vom Heft zeit stellt sich dem Autor die Frage, ob es nicht öfter nötig ist aufzustehen, über den Tellerrand zu schauen, Inspirationen zu suchen und Gefundenes mit anderen zu teilen. Wie das Initiatoren-Duo glaubhaft versichert, ist das Konzept zu fahrstil zum Beispiel während einer langen Autofahrt entstanden und manche Ausgabe wird auf gemeinsamen Radtouren in den Köpfen fertig, bevor überhaupt eine Zeile am Computer getippt wurde. Also, wenn Sie eine Inspirationsquelle suchen: Nicht nur die Anfahrt zur nächsten Messe lohnt – auch die Beschäftigung und Auseinandersetzung mit fahrstil. Da viele Themen zeitlos sind, freuen sich über eine (Sammel-)Ausgabe sicher auch Kollegen und Ihre Kunden.

31. Juli 2012 von Reiner Kolberg

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