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Porträt - Küstenrad

Meer geht immer

Küstenrad ist seinem Namen längst entwachsen. Bei neun Ladeneröffnungen in den vergangenen sieben Jahren und 18 geplanten in den nächsten vier reichen die Küsten von Nord- und Ostsee nicht mehr aus. Das schnelle Wachstum hat ebenso einen Grund wie der Fokus auf Schleswig-Holstein.

Biegt man auf die große graue Parkplatzfläche im Gewerbegebiet Kaltenkirchen in Schleswig-Holstein ein, sind die Einzigen, die einen zumindest vom Namen her entfernt ans Meer erinnern, die Buchten, in denen die Autos in endlosen Reihen parken. »Küstenrad« steht in grünen Buchstaben auf einer der geklinkerten Ladenfronten, die den Parkplatz säumen. Warum dieser Name für einen E-Bike-Store mitten im norddeutschen Inland, gut 60 Kilometer von der nächsten Ostseemündung entfernt? Nun, ein bisschen spiegelt sich darin der Hintergrund der beiden Gründer und Geschäftsführer wider: Maximilian Schay, aufgewachsen in Dithmarschen an der Nordseeküste, und Jonas Stolzke aus Hannover haben sich in Kiel beim BWL-Studium kennengelernt. Hauptsächlich bezieht sich der Name allerdings auf die Lage der beiden ersten Ladengeschäfte: eines in Kiel an der Ostsee, eines in Brunsbüttel an der Nordsee.
Auch wenn nicht alle der mittlerweile neun existierenden und drei geplanten Filialen in der Nähe eines Gewässers liegen, zieht sich das Küstenthema zumindest durch die Einrichtung und Gestaltung der neueren Verkaufsflächen. Die Tresen sind Sandstrand-beige, die Regale und Podeste in ihrem Schwung Dünen oder Wellen nachempfunden, die Wege zwischen den E-Bikes hindurch verlaufen nicht gerade, sondern schlängeln sich wie Trampelpfade durchs Dünengras. An den Wänden: Strandmotive und Claims, die mit den nordischen Wetterklischees spielen: »Es gibt kein Schietwetter. Es gibt nur schlechte E-Bike-Kleidung.« Oder: »Einmal Rückenwind zum Mitnehmen.«

Vom Hersteller zum Händler

Entstanden ist die E-Bike-Kette aus einem sozialen Start-up: my-Boo-Bambusbikes, deren Rahmen Stolzke und Schay seit 2012 in Kooperation mit einer Firma in Ghana produzieren und dann die in Deutschland fertig montierten Räder an Groß- und Einzelhändler in elf Ländern verkaufen (ein my-Boo-Porträt findet sich in der velobiz-Ausgabe 1-2 2022).


Service als USP: Eine Stunde dauert die Bike-Beratung.

Küstenrad entstand mehr oder weniger zufällig als Nebenprodukt des Bambusradbusiness. »Zu Beginn hatten wir die Montage der Räder ausgelagert, aber wir haben schnell gemerkt, dass wir eine eigene Werkstatt brauchen«, erzählt Maximilian Schay.
Deshalb ergriff das Duo 2013 die Chance, einen kleinen Fahrradladen in Kiel zu übernehmen, dessen Betreiber in Ruhestand ging. Sie stellten Mechaniker ein und kümmerten sich, neben dem Zusammenbau der eigenen Räder, auch um die Reparatur und Wartung von Velos, die die Anwohner zu ihnen brachten. Hauptsächlich, »um unser Geschäft quer zu finanzieren«, wie Schay erklärt. Schon damals war es den Gründern wichtig, das Unternehmen organisch wachsen zu lassen. Mit Bankkredit, ja. Aber gesund, ohne große Summen externer Privatinvestoren. Bis heute ist das so geblieben. Trotz rasanten Wachstums und dem erklärten Ziel, 27 Filialen bis zum Jahr 2027 betreiben zu wollen. Das bedeutet vier bis fünf neue Läden jedes Jahr.

Vom Versuch zur Vision

Schnell gewachsen ist auch das erste stationäre Business in Kiel. Bald wurden die 100 Quadratmeter zu klein, die Werkstatt zog um. Aus der leer stehenden Fläche, deren Mietvertrag noch lief, wurde ein Fahrradladen – und da in Brunsbüttel eine weitere Verkaufsfläche frei wurde, übernahmen sie diese ebenfalls. Nun hatten sie eine Präsenz an beiden Enden des Nord-Ostsee-Kanals, aber sich noch keine Gedanken darüber gemacht, was sich alles damit anfangen ließe. Das Sortiment war noch ein wildes Sammelsurium, denn den beiden Gründern ging es in erster Linie darum, Erfahrungen als Händler zu sammeln, und dadurch für den Vertrieb von my Boo zu lernen: »Wir wollten beide Seiten kennen und verstehen: ›Wie arbeiten andere Marken, was ist für den Einzelhandel wichtig?‹«, sagt Maximilian Schay. Erst mit der Zeit kristallisierte sich für die beiden Unternehmer heraus, dass sie Küstenrad als Konzept und Unternehmen professionalisieren wollten, als Spezialisten mit einem klaren USP. Und der war: hochwertige E-Bikes. »Das war der Durchbruch«, erinnert sich Schay. »Innerhalb von zwei Jahren sind wir in Kiel zweimal in größere Immobilien umgezogen. Das Konzept war erfolgreich.«
So erfolgreich, dass innerhalb der nächsten beiden Jahre ein 800-Qua­dratmeter-Store in Neumünster folgte sowie sechs kleinere Flächen zwischen 300 und 500 Quadratmetern, verstreut über ganz Schleswig-Holstein. Dass dieses schnelle Wachstum funktionierte, dürfte zu einem großen Teil daran liegen, dass die beiden Gründer an der Firma arbeiteten, nicht in ihr. Soll heißen: Sie haben sich nie im Klein-Klein des Alltagsgeschäfts verloren, wollten nicht alles selbst machen, sondern behielten immer das große Ganze im Blick und optimierten es. Dazu gehörte auch die intensive Auseinandersetzung mit dem Verkaufsprozess, die sich um die Frage drehte: Was braucht ein Einzelhandel heute oder auch in zehn Jahren, damit er relevant bleibt und nicht gegenüber Onlineplayern verliert oder gegen große Ketten? Das Ergebnis: ein Sortiment bestehend aus den Marken, die von den Kundinnen und Kunden am meisten nachgefragt werden – »Das kriegen wir gut über unser Netzwerk mit«, so Schay –, eine ausführliche individuelle Beratung, Fokus auf Ergonomie und ein schönes Ambiente.

Vom Bauen zur Beratung

Beratungen finden bei Küstenrad zum Großteil auf Reservierung statt, drei bis fünf einstündige Termine pro Tag sind es im Schnitt. Bei der Buchung durch Kunde oder Kundin holt das Küstenrad-Team entweder über einen Online-Fragebogen oder am Telefon bereits vorab verschiedene Informationen ein wie Körpergröße, Haupteinsatzzweck des Bikes et cetera, um dann, wenn Kunde oder Kundin den Laden betreten, bereits eine Vorauswahl präsentieren zu können.

Passt genau: Bei Küstenrad soll jeder mit einem guten Gefühl und dem passenden Bike aus dem Laden gehen.

Dann wird vermessen und angepasst, auf die Proportionen von Kunde oder Kundin ebenso wie auf die technischen Bedürfnisse. Im Kundengespräch geht es allerdings nicht darum, möglichst viel »Techtalk« zu machen, sondern darum, ein Wohlgefühl zu erzeugen, eines der Sicherheit, hier in guten Händen zu sein und mit einem passenden Produkt aus dem Laden zu gehen. »Den Kunden interessiert nicht, wie viel Lux und Lumen eine Fahrradlampe hat, sondern dass sie hell genug für den Arbeitsweg im Dämmerlicht ist«, ist Maximilian Schay überzeugt.
Dieses Konzept funktioniert so gut, dass der Anteil der Werkstatt lediglich zwei bis drei Prozent am Unternehmens-Gesamtumsatz von aktuell etwas unter 20 Millionen Euro beträgt. Noch. Mittelfristig soll dieser Bereich wachsen, auch als zusätzliches Ser­viceangebot für Kundinnen und Kunden. Vielleicht sogar als zentrale Werkstattstelle. Eine für alle, sozusagen.

Vom Kandidaten zum Mitarbeiter

Hinter allen Überlegungen, Abläufen und Neuerungen steckt ein grundlegender Gedanke: Die Menschen sollen sich mit dem Firmenkonzept identifizieren. Sie sollen nicht »zum Radkaufen gehen«, sondern zu Küstenrad. Dafür engagiert sich die Mannschaft, die mittlerweile rund 120 Mitarbeitende umfasst, von der Eventmanagerin über ein Marketing- und Personal-Team bis hin zu Werkstatt und Verkauf, nicht nur zu den Öffnungszeiten. Auch über die jeweiligen Ladenmauern hinaus sind die »Küstenradler« in den jeweiligen Gemeinden aktiv: mit einem Stand auf dem Markt, an dem Rahmencodierungen angeboten werden, mit Fahrsicherheitstrainings in Zusammenarbeit mit der örtlichen ADFC-Filiale, mit Vereins-Sponsorings oder politischem Engagement bei lokalen Radverkehrsthemen. »Wir möchten dort, wo wir sind, verwurzelt sein«, fasst Maximilian Schay das Vorgehen zusammen.
Das Küstenrad-Team dazu zu motivieren, sei, so der Unternehmer, ebenso unproblematisch, wie neue Kolleginnen und Kollegen zu finden. Während anderswo über Personalknappheit geklagt wird, schöpft Küstenrad zwar nicht aus dem Vollen, aber doch aus einem gut gefüllten Bewerberbecken. Dass potenzielle Mitarbeitende zu tatsächlichen werden, dafür legt sich das Unternehmen ordentlich ins Zeug: faire Bezahlung, faire Öffnungszeiten, Kaffee, Obstkorb und Müsli gratis, regelmäßige Besuche bei Herstellern und pro Jahr eine besondere Reise. Sei es zu einer speziellen Messe oder ein Trip nach Ghana für diejenigen, die für my Boo arbeiten, deren E-Bikes natürlich ebenfalls bei Küstenrad zu haben sind. Es gibt Weiterbildungen und Schulungen, die Geschäftsführer laden jeden Neuling in die Zentrale nach Kiel ein, schütteln Hände, beantworten Fragen.
»Zudem investieren wir enorm viel ins Recruiting. Das ist kein Selbstläufer, wo es reicht, mal eine Anzeige zu schalten und abzuwarten«, erläutert Maximilian Schay. Die Mitarbeiterwerbung findet über eine Vielzahl an Kanälen statt: bei Events vor Ort, bei denen die Firma vorgestellt wird, über Social Media, Job-Plattformen wie Linked-In, Recruiting-Stände auf Messen oder mittels Kooperationen mit der Arbeitsagentur.

Von lokal zu national?

Personalnachschub wird schließlich dringend gebraucht bei einem Wachstum, von dem man meinen könnte, es wäre ähnlich motorunterstützt wie die E-Bikes auf den immer zahlreicher werdenden Flächen.


Noch ein geringer Umsatzbringer, aber schon gut ausgestattet: der Werkstattbereich.

Vorerst liegt der Fokus von Küstenrad auf dem Norden Deutschlands, auf Schleswig-Holstein. Auch der Onlineshop, der gerade im Entstehen ist, soll nicht dazu dienen, E-Bikes nach Süddeutschland zu verkaufen, sondern dazu, Kundinnen und Kunden im Norden einen Überblick darüber zu geben, welche Modelle vorhanden sind sowie darüber, was in welcher Filiale steht. Er soll es möglich machen, ein E-Bike online zu kaufen und es im Laden abzuholen (nach vorheriger Anpassung) oder Service-Leistungen wie eine Abholung zur Reparatur oder eine Wartung zu Hause zu buchen.
Eine Expansion über die Grenzen Schleswig-Holsteins und der angrenzenden Bundesländer hinaus sei zwar nicht ausgeschlossen, aktuell »fehlt uns aber noch der USP dafür«, räumt Maximilian Schay ein. »Warum sollte jemand, der in Hannover sitzt, online bei Küstenrad kaufen und nicht bei einem anderen Online-Händler?« Über die Preisschiene soll es nicht gehen, um das Konzept nicht zu verwässern. Selbst in den Filialen gibt es kaum Rabatte. In Planung ist allerdings ein Gebraucht-E-Bike-Center in Rendsburg, in dem, gegenüber eines klassischen Küstenrad-Shops, retournierte Leasing-Räder, leicht beschädigte E-Bikes oder Postenware zu reduzierten Preisen angeboten werden sollen. Ohne einstündige Beratung auf Termin, ohne Vermessung.
Auch das Sortiment müsste für eine Expansion nach Mittel- und Süddeutschland angepasst werden: »In Bayern werden zum Beispiel eher E-Mountainbikes verkauft, das ist hier überhaupt kein Thema«, erklärt Maximilian Schay, wobei, so fügt er an, dies kein großes Problem wäre, da sämtliche Hersteller, die bei Küstenrad auf der Fläche stehen, die entsprechenden Modelle im Sortiment hätten. Bereits jetzt ist in den bestehenden Läden das Sortiment leicht angepasst, mal sportiver, mal tourenorientierter. Vielmehr handle es sich um eine bewusste Entscheidung, zunächst lokal zu wachsen. Die Filialstruktur um das Zentrallager in im schleswig-holsteinischen Neumünster herum soll weiter aufgebaut und etabliert werden. 20 Filialen verträgt das Bundesland insgesamt, glaubt Schay, weitere sieben müssten dann bereits in Hamburg oder anderen umliegenden Bundesländern aufgebaut werden, um das Ziel »27 bis 2027« zu erreichen.

»Wir wollen noch megaviel erreichen.«

Maximilian Schay, Gründer und Geschäftsführer

Von der Werkstatt zum Platzhirsch

Warum das schnelle, fast schon plakativ kommunizierte Wachstum? Zum einen, weil der Markt und die Möglichkeiten es hergeben oder, wie es Maximilian Schay ausdrückt: »Wir haben da einfach Bock drauf!« Er betrachtet es nicht als seinen Lebensinhalt, eine Firma zu managen, sondern dafür zu sorgen, dass das Unternehmen wächst, dass sich etwas entwickelt, dass neue Dinge entstehen, die ihn und das Team begeistern und faszinieren.
Zum anderen wird das Küstenrad-Filialnetz auch größer, weil es wachsen muss. Denn, so erklärt Schay, es werde auch im Fahrradsektor eine Entwicklung immer stärker werden, die sich in anderen Wirtschaftsbereichen, zum Beispiel dem Tierbedarf, schon bemerkbar macht: »Es wird immer mehr weg vom kleinen, inhabergeführten Laden gehen, hin zum professionell aufgezogenen Filialunternehmen. Der Markt wird neu verteilt. Wenn wir nicht wachsen, wird es jemand anderes tun«, ist er überzeugt. Küstenrad möchte signalisieren, dass der Markt in Schleswig-Holstein besetzt ist, und dafür nutzt das Unternehmen verschiedene Werbekanäle: Social Media ebenso wie Messen, hausinterne Events oder auch die guten alten Zeitungsanzeigen und Flyer. Fast eine Million davon dürfte mittlerweile durch Schleswig-Holstein geflattert sein, schätzt Schay, und wenn er sagt: »Wir wollen mit dieser Firma noch megaviel erreichen, so viel ist klar«, dann blitzt da etwas in seinen Augen, das keinen Zweifel daran aufkommen lässt, dass er das ernst meint. //

20. September 2023 von Carola Felchner

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