Report - Zeitreise
Mobilität 3.0
Während ich am Schreibtisch sitze und diesen Artikel schreibe, ist mein Auto gerade unterwegs. Wohin? Keine Ahnung. Und auch die Menschen, die damit gerade fahren, kenne ich nur flüchtig. Als Teil eines Sharing-Systems ist mein Wagen – ein schicker kleiner Elektrohybrid – die meiste Zeit unter der Woche unterwegs. Nur am Wochenende und bei geschäftlichen Terminen mache ich trotz Protesten meiner Partnerin bislang keine Abstriche und reserviere mein Auto für die Eigennutzung. Darauf lege ich dann doch Wert.
Die Welt hat sich nicht entscheidend verändert in den letzten acht Jahren, aber die Einstellung in den Köpfen. Unsicherheit greift um sich. Klimawandel und Ölreserven sind die Schlagworte, die Nachrichten und Internet beherrschen. Von Stellenabbau und staatlicher Unterstützung systemrelevanter Industrien ist die Rede, von gefährlichen Klimaveränderungen, militärischen Interventionen in erdölexportierenden Ländern und immer wieder von galoppierenden Energiepreisen. An das insolvenzbedingte Verschwinden großer Namen aus der Automobil- und Luftfahrtindustrie haben wir uns inzwischen fast gewöhnt. Verstörend sind dagegen immer wieder Bilder von Überschwemmungen, Dürren und anderen Naturkatastrophen. Viele der bereits vor Jahren angekündigten Szenarien werden auf einmal erlebbar und langsam wird jedem klar: Die eigentlichen Veränderungen kommen noch.
Flexibel und smart in allen Lebenslagen
Wenig Probleme mit den Veränderungen hat die junge Generation wie mein Sohn, der mit seinen 20 Jahren an alles Mögliche denkt, aber nicht daran, bald den Führerschein zu machen. Aufgewachsen mit der Sicherheit, dass es keine Sicherheit gibt und materieller Besitz wenig als dauerhaftes Statussymbol taugt, sucht und findet diese Generation ihre Nischen. Bestens vernetzt definiert sie zum Beispiel das Thema Mobilität neu. Auf jedem Smartphone finden sich Apps der verschiedensten Anbieter, die Sharing-Angebote mit Social Media-Funktionen verbinden und die jeweils attraktivste und kostengünstigste Mobilitätslösung ermitteln. So werden anhand von persönlichen Profilen Präferenzen abgeglichen, das geeignete »smarte« Verkehrsmittel ausgewählt und gleich auch mögliche Partner zum Mitfahren gesucht. Die finden sich in der wachsenden Community schnell, denn alleine in einem Auto unterwegs zu sein, gilt für viele schon seit langem nicht nur als Geld- und Ressourcenverschwendung, sondern auch als völlig unkommunikativ und damit vorgestrig.
Ich persönlich bin seit langem die meiste Zeit mit dem Bike unterwegs. Als Stadtmensch ist das für mich, wie für viele andere auch, inzwischen die ideale Lösung. Seit die Umweltzonen ausgeweitet, die Auflagen verschärft, Parkplätze entfernt und die Parkgebühren auf fünf Euro pro Stunde erhöht wurden, lohnt es sich einfach nicht mehr mit dem Auto zu fahren. Viele Kommunen haben die Innenstädte sogar fast komplett für den motorisierten Individualverkehr gesperrt oder erheben nach Schadstoffausstoß gestaffelte Gebühren. Auch Busse und Bahnen haben für mich im Nahverkehr an Attraktivität verloren. Mit steigenden Kundenzahlen sind sie in den letzten Jahren trotz stetigem Ausbau an ihre Grenzen gestoßen. In Stoßzeiten ist es überfüllt, die Preise sind parallel mit den Energiekosten gestiegen und auch die regelmäßigen Streiks tragen nicht dazu bei, mich als Stammkunden zu gewinnen.
Auf der anderen Seite treffen gerade die Fahrer von Bikes, Trikes und anderer Light Electric Vehicles inzwischen vielerorts auf hervorragende Infrastrukturen: Tempo 30 ist die Regel, Ampeln sind in den Hauptverkehrszeiten auf 20 Stundenkilometer geschaltet, Sonderspuren breit ausgebaut und sogar Schnelltrassen für E-Bikes gibt es inzwischen. In der Innenstadt muss man sein Bike (der Begriff Fahrrad ist längst out) nicht mehr an Laternen festketten. Dafür gibt es bewachte und wettergeschützte Abstellgelegenheiten und für die Nacht abschließbare Bike-Boxen. Die finden sich fast vor jedem Haus und in jedem Hinterhof, nachdem Abstellanlagen bei Büro- und Wohngebäuden schon seit Jahren verpflichtend sind.
Damit es bei längeren Fahrten in die Schule, ins Büro oder am Wochenende zurück in die Vororte nicht langweilig wird, gibt es sogenannte »Bike-Busse«: An festgelegten Punkten treffen sich Menschen, um zu bestimmten Uhrzeiten in die gleiche Richtung zu fahren. Gerade von Schulkindern, aber auch von Partygängern am Wochenende wird diese Form geselliger und geschützter Gruppenmobilität gerne angenommen. Willkommen in der »Crowd«.
Attraktiv sind inzwischen auch die oftmals kostenlosen Leihangebote. So kann jeder Inhaber eines Mobilitätstickets eins der an vielen Stationen erhältlichen Bikes kostenlos für 20 Minuten nutzen. Clevere Fahrer profitieren dabei von Angeboten der Verleiher, sich per App Punkte für Überführungsfahrten gutschreiben zu lassen. Um die Redistributionskosten zu senken und die Verfügbarkeit zu erhöhen gibt es hier inzwischen komplexe Systeme, die den ständigen Fluss der Leihflotte optimieren. Selbst der Einkauf beim schwedischen Möbelhaus ist per Zweirad kein Problem. Für die üblichen Kleinigkeiten werden Bike-Anhänger zum Leihen angeboten, die sich problemlos mit vorhandenen Kupplungsadaptern verbinden lassen. Für größere Transporte stellen viele Geschäfte elektrisch betriebene Fahrzeuge für jeden Zweck zur Verfügung.
Überhaupt braucht eigentlich niemand mehr ein großes Auto, denn eine Vielzahl CO2-freier Bring- und Holdienste ist inzwischen im kompletten Stadtgebiet unterwegs. Fest zum Straßenbild gehören zum Beispiel Cargo-Trikes mit einer Kombination aus Muskelkraft und Elektrounterstützung. Sie übernehmen auf der Kurzstrecke inzwischen die meisten Fahrten und helfen damit vielen Unternehmen, die festgeschriebenen Klimaziele im Straßenverkehr einzuhalten. Auch Lasten-, Mehrzweck- oder Conference-Bikes stehen im gesamten Stadtgebiet zur Verfügung und werden zum Beispiel gerne von Touristen genutzt. Und selbst ältere Menschen trauen sich wieder in den Straßenverkehr. Dank elektrischer Unterstützung sind sie auf drei- oder vierrädrigen Gefährten mobil unterwegs, können sich selbst versorgen und nehmen aktiv am Leben teil.
Und weiter?
Deutschland steht im Vergleich mit anderen Ländern gut da. Das letzte Kernkraftwerk ist gerade abgeschaltet worden, der ökologische Umbau ist in vollem Gange und auch die Automobilindustrie hat sich nach den Umsatzeinbrüchen der vergangenen Jahre wieder erholt. Dank Neuausrichtung auf Elektro- und Brennstoffzellentechnik, Sharing-Angeboten und strategischen Kooperationen mit starken Partnern aus dem Silicon Valley. Ja, wir haben es sogar knapp geschafft, eine Million Elektroautos auf die Straßen zu bringen. Vom Ziel, den CO2-Ausstoß weltweit zu reduzieren, sind wir aber trotz aller Konferenzen und Maßnahmen immer noch meilenweit entfernt. Wir müssen mehr tun als bisher, das ist klar. Wir müssen weitere Einschnitte in Kauf nehmen und wir müssen uns fragen lassen, warum wir mit den Veränderungen eigentlich nicht schon viel früher begonnen haben …
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