Schulung / Nachhaltigkeit
Nachhaltigkeit – wie wollen wir arbeiten?
In Firmendarstellungen ist heute das Leitbild, das Unternehmen folge dem Prinzip des nachhaltigen Wirtschaftens, kaum mehr wegzudenken. Allzu oft handelt es sich dabei um eine Marketingmaßnahme ohne weitreichende Konsequenzen im Handeln. In diesen Fällen spricht man auch von »Greenwashing«. Nespresso, eine Tochterfirma des Schweizer Nestlé-Konzerns, versuchte 2019 zum Beispiel seinen Kaffeekapseln ein nachhaltiges Flair zu verpassen: Recycelt sollten diese in Fahrradrahmen aufgehen. Der Haken: Lediglich 300 Kapseln verschwanden in einem Fahrradrahmen, nachdem sie zuvor aus der Schweiz zum Produzenten nach Schweden verbracht wurden.
Wer nachhaltig wirtschaften möchte, muss einen größeren Wurf wagen, denn nach dem Modell der Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) umfasst es die Aspekte Menschenwürde, Solidarität und Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit sowie Transparenz und Mitentscheidung. Seit den 1990er-Jahren werden Wirtschaftsmodelle entwickelt, die unter dem Vorzeichen der Nachhaltigkeit stehen. Seit 2010 hat sich das GWÖ-Modell, initiiert von Christian Felber aus Österreich, in 30 Staaten mit Schwerpunkt Europa und Lateinamerika ausgebreitet. »Die Wirtschaft dient dem Gemeinwohl und nicht mehr der Geldvermehrung um ihrer selbst willen. Ungleichheiten bei Einkommen, Vermögen und Macht halten sich in maßvollen Grenzen. Der Umweltverbrauch bleibt innerhalb der Regenerationsfähigkeit natürlicher Ökosysteme und der planetaren Grenzen. Gegenwärtige und zukünftige Generationen genießen gleiche Lebenschancen«, lautet die grundsätzliche Idee. Dem Streben nach Gewinn werden also ethische Werte vorangestellt, das kapitalistische Wirtschaftssystem selbst wird nicht infrage gestellt.
Greenwashing werden im Handeln nach der GWÖ Grenzen gesetzt, denn wer dem Modell folgt, ist auch gefordert, eine »Gemeinwohl-Bilanz« nach der sogenannten Matrix 5.0 zu erstellen. Die Matrix gibt fünf Eckpunkte vor: Unter die Lupe genommen und bewertet werden der Umgang mit den »Lieferanten«, mit den »Eigentümern und Finanzpartnern«, mit den »Mitarbeitenden«, den »Kunden und Mitunternehmen« und dem »gesellschaftlichen Umfeld«.
Der Faktor »Mitarbeiter«
Den Mitarbeitern eines nachhaltig wirtschaftenden Unternehmens kommt eine große Rolle zu. Sie sollen zum einen die Idee der Nachhaltigkeit unterstützen, sind aber selbst auch eine wichtige Größe in der GWÖ: »Menschwürde am Arbeitsplatz«, die »Ausgestaltung der Arbeitsverträge«, die »Förderung des ökologischen Verhaltens der Mitarbeitenden« und die »innerbetriebliche Mitentscheidung und Transparenz« werden am Ende eines Jahres bilanziert. Detaillierte Unterpunkte sorgen für Plus-, aber auch für Minuspunkte in der Bilanz.
VSF plant neues Nachhaltigkeitssiegel
Auf der VSF-Jahrestagung 2019 referierte ein GWÖ-Sprecher über das komplexe Wirtschaftsmodell. Der Verband und 120 anwesende Mitglieder arbeiteten anschließend an einem abgespeckten Konzept, das in der Praxis leichter umzusetzen sein und »mit jeder Auditierung präziser und vollständiger« werden soll. »Der VSF hat im Frühjahr 2020 ein Auditformular für Fahrradhändler zum Thema ›nachhaltiges Wirtschaften‹ erstellt«, berichtet Uwe Wöll, Geschäftsführer der VSF Service GmbH in Marburg, vom konkreten Ergebnis der Tagung. »Es ist Grundlage für das künftige ›VSF..all-ride‹-Qualitätssiegel für Nachhaltigkeit. Unser Ziel ist es, den ersten VSF-Betrieb noch im Jahr 2020 mit dem Nachhaltigkeitssiegel auszuzeichnen.«
Ein wichtiger Punkt bei der dafür notwendigen Auditierung ist auch hier das Personal: »Nicht erst seit dem Nachfrageboom 2020 herrscht in der Fahrradbranche und unter den VSF-Mitgliedern weitgehend Einigkeit darüber, dass im Fachkräftemangel die aktuell größte Bedrohung für die erfolgreiche Zukunft der Branche liegt. Das VSF..Nachhaltigkeitssiegel berücksichtigt die Bedingungen für Mitarbeitende entsprechend stark – etwa in den Bereichen Arbeitsverträge, Arbeitszeit, Lohnniveau und Altersvorsorge, beim Gesundheitsschutz oder der beruflichen Fort- und Weiterbildung«, begründet Wöll vom VSF das Vorgehen.
Industrie und Händler machen sich auf den Weg
Der Hersteller Riese & Müller richtete unter dem Stichwort »mitarbeiterorientierte Unternehmenskultur« bereits vor zwei Jahren eine eigene Stelle unter dem Vorzeichen »Teamer Integration« ein. Die auf diesem Posten arbeitende Person ist Ansprechpartner und Mediator für die 550 Kolleg*innen aus 40 Nationen. Sie setzt sich »auch für ein stärkeres Umweltbewusstsein der einzelnen Mitarbeiter ein und bietet eine extra Schulung zum Thema ›Umweltbewusstsein im Alltag‹ an«, umreißt Dr. Sandra Wolf, Geschäftsführerin von Riese & Müller und im Unternehmen verantwortlich für die strategische Ausrichtung und den Gesamtbereich Personal, die mit der Stelle verbundenen Aufgaben.
Auf Händlerseite sticht das VSF-Mitglied Jürgen Fuchs mit seinem Betrieb »fahrradfuchs ebike erlebniswelt« hervor, obwohl er selbst von sich sagt, sie stünden erst am Anfang des nachhaltigen Wirtschaftens: »Doch das Pflichtenheft für unsere nachhaltige Betriebszukunft ist bereits formuliert und die ersten Maßnahmen sind umgesetzt.« Seine Partnerin Andrea Groll unterstreicht den hohen Stellenwert einer nachhaltigen Mitarbeiterführung: »Ein gutes nachhaltiges Wirtschaften ist untrennbar mit einem fairen, transparenten Mitarbeiterumgang verbunden. Man sieht aktuell in der industriellen Fleischproduktion, also beim Fall Tönnies wieder, was dabei herauskommt, wenn Mitarbeiter nur noch als ›Arbeitsroboter‹ gelten und allein der Profit im Vordergrund steht. Ein gut ausgebildeter Mitarbeiter, den man fair bezahlt, dem man gute Arbeitsbedingungen und Fortbildungsmöglichkeiten bietet, wird sich auch nachhaltig in das Unternehmen einbringen können und sich mit ihm entwickeln. Eine unzufriedene Aushilfe, die nach einer Saison weiterzieht, bringt kaum einen Nutzen für die Entwicklung des Unternehmens.«
Analog zum großen GWÖ-Komplex »Förderung des ökologischen Verhaltens der Mitarbeitenden« hat Jürgen Fuchs bereits reagiert: »Unsere junge Mitarbeiterin genießt ihre Mobilität mit einem Lastenfahrrad. Unser älterer Kollege fährt auch mit einem E-Dienstrad zur Arbeit. Beiden haben wir die Räder als Zeichen unserer Wertschätzung kostenlos zur Verfügung gestellt. Wir wollten sie aber auch an unseren Erfahrungen teilhaben lassen, da wir selbst schon seit Jahren ohne Auto durchs Leben gehen.«
»Wir leben schon immer ein sehr starkes Miteinander und flache Hierarchien.«Dr. Sandra WolfGeschäftsführerin von Riese & Müller
Auf die damit verbundene Gesundheitsförderung setzt auch Riese & Müller: »Es gibt freiwillige Sportangebote für die Mittagspause und finanzielle Zuschüsse für Jobräder, damit so viele Mitarbeiter wie möglich mit dem Bike zur Arbeit fahren können.« Auch die Arbeitszeit ist ein wichtiger Faktor, der sich negativ auf die Gesundheit der Mitarbeiter auswirken kann. Die Geschäftsführer Heiko Müller, Markus Riese und Sandra Wolf, die 2019 ein neues, hochmodernes Firmengebäude am Rande des hessischen Odenwalds bauten, verzichten deshalb »bewusst auf Schichtarbeit, um allen Kollegen in der Produktion einen geregelten Feierabend und ein gemeinsames Wochenende mit der Familie zu ermöglichen. Es wird nicht am Fließband gefertigt, sondern an Einheiten in Teams.«
Der Händler Jürgen Fuchs kommt seinen Mitarbeitern auch bei der Urlaubsplanung entgegen: »Im Rahmen der nachhaltigen Mitarbeiterführung berücksichtigen wir auch hier individuelle Bedürfnisse. So gehen nächste Woche unsere Mitarbeiter trotz Hochsaison abwechselnd in den Erholungsurlaub. Das ist eher selten in der Fahrradbranche.«
Eine gesunde Ernährung, die selbst ökologischen Kriterien entspricht, ist laut Sandra Wolf bei Riese & Müller ein weiteres Detail, das die Mitarbeiter gerne in Anspruch nehmen: »Die kostenlose Versorgung aller Mitarbeiter mit Trinkwasser wird ressourcenschonend über eine Brita-Wasserfilteranlage und den Einsatz eigener Mehrwegflaschen umgesetzt. Im unternehmenseigenen ›Corner Café‹ werden darüber hinaus ausschließlich Produkte in Demeter- oder Bio-Qualität angeboten und durch ein Mehrwegpfandsystem über 50.000 Einwegbecher im Jahr gespart.«
Neben diesen innerbetrieblichen Maßnahmen bedeutet nachhaltiges Wirtschaften für Jürgen Fuchs auch, das Gemeinwesen im Blick zu haben. »Wir unterstützen als Unternehmen die ›Entrepreneurs for Future‹-Bewegung, um den Klimaschutz voranzubringen. Und wir riefen letztes Jahr am 20. September zum globalen Klimastreik von ›Fridays for Future‹ auf und bestreikten unseren eigenen Laden. Zusammen mit unseren Mitarbeitern luden wir zu Kaffee und Kuchen ein und diskutierten mit unseren Kunden und jungen Mitgliedern der lokalen Gruppe das Thema.«
Für innerbetriebliche Transparenz sorgen Jürgen Wolf und Andrea Groll, indem sie ihren Mitarbeitern nicht nur regelmäßige Fortbildungen anbieten, sondern die Werkstattmitarbeiter zum Beispiel auch in die Werkstattplanung und in das -controlling einbinden, damit alle wissen, wie sich dieser Bereich entwickelt. »Das schafft ein gutes Feedback und Motivation.«
Gesetze sind die Richtschnur
Das Modell des nachhaltigen Wirtschaftens hinsichtlich Mitarbeiterführung verdient nur dann seinen Namen und grenzt sich nur dann gegen Greenwashing ab, wenn die Kategorien, nach denen sein Erfolg gemessen werden soll, deutlich über den gesetzlichen Bestimmungen der Arbeitnehmerrechte liegen. So schreibt zum Beispiel das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) seit dem 1. Januar 2019 vor, dass Stellenanzeigen genderneutral formuliert werden müssen. Und § 1 Abs. 1 Satz 1 des Betriebsverfassungsgesetzes sieht unter bestimmten Bedingungen die Errichtung von Betriebsräten vor: »In Betrieben mit in der Regel mindestens fünf ständigen wahlberechtigten Arbeitnehmern, von denen drei wählbar sind, werden Betriebsräte gewählt.« Betriebsräte sind die Interessensvertretung der Arbeitnehmer und so ist es nur konsequent, wenn die Gemeinwohlökonomie in der »Verhinderung des Betriebsrates« einen Negativ-Aspekt ausmacht, der auch Punktabzug in der GWÖ-Bilanz nach sich zieht. Weitere Gesetze, die Arbeitnehmerrechte garantieren, sind zum Beispiel das Kündigungsschutzgesetz, das Mutterschutzgesetz, das Teilzeit- und Befristungsgesetz oder das Altersteilzeitgesetz.
Selbst nachhaltiges Wirtschaften zum Wohle des Gemeinwesens ist bereits in Gesetze gegossen: Artikel 14 Satz 2 Grundgesetz fordert: »Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.« Und auch einige Länderverfassungen halten damit nicht hinter dem Berg. So heißt es in der bayerischen Verfassung Artikel 151, Satz 1: »Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl, insbesonders der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle und der allmählichen Erhöhung der Lebenshaltung aller Volksschichten.« Ist dies geschafft, verspricht die GWÖ eine hohe Belohnung: »Die Lebensfreude kommt überall zum Vorschein – ein großer Tanz!«
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