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Schulung - Stadtentwicklungq

Öde Innenstädte – was geht’s den Fahrradhändler an?

Leer stehende Einzelhandelsflächen in Innenstädten nehmen seit Jahren zu. Die Ursachen sind bekannt: Wachsender Online-Handel ist das eine, ein Immobilienmarkt, der auf immer höhere Mietpreise spekuliert, das zweite, abnehmende Frequenz das dritte Pro­blemgebiet unter vielen. Mit der Corona-Krise verschärft sich für viele Händler nun die Lage dramatisch, mit wenigen Ausnahmen. Fahrradhändler erleben dagegen nach kurzer Zäsur gerade einen Boom. Können ihnen also sterbende Innenstädte egal sein?

Um leer stehende Handelsflächen in Innenstädten sorgen sich seit Langem nicht nur Bürgermeister und Stadträte, sondern auch Handelsunternehmen, Immobilienhändler, Verkäuferinnen und Verkäufer. Der zunehmende Online-Handel setze den stationären Einzelhandel unter Druck, bestätigt auch der Handelsverband Deutschland (HDE).

Ausgereizte Immobilienpreise

Immobilienspekulanten werden eher selten in den Fokus genommen. Feierte Jones Lang LaSalle (JLL), ein Beratungs- und Investmentmanagement-Unternehmen, gerade noch die steigenden Immobilienpreise der letzten zehn Jahre als »Jahrzehnt der Immobilie«, das in die Geschichtsbücher eingehen werde, musste ein Sektor bei all dem Jubel jedoch ausgeklammert werden: Der Immobilienpreis für Einzelhandelsflächen schwächelt seit einigen Jahren, auch wenn Händler in der Kölner Schildergasse immer noch durchschnittlich 250 Euro pro Quadratmeter Miete im Monat und in München am Marienplatz 360 Euro zahlen. Die Schere zwischen Mietpreis und Umsatzraten im Einzelhandel geht immer weiter auseinander, Schließungen der Geschäfte sind die Folge. Damit verlieren Innenstädte ihre Attraktivität, Kunden bleiben aus, der Umsatz sinkt, die Spirale dreht sich immer weiter nach unten. Dies bilanziert auch Helge Scheunemann, Chef der JLL-Research-Abteilung: »Grundsätzlich werden Einzelhandelsimmobilien nach wie vor kritisch gesehen, der Strukturwandel ist in vollem Gange.« Auf Händlerseite bestätigt dies Albert Herresthal, Geschäftsführer beim Verbund Service und Fahrrad (VSF) und dort zuständig für die politische Arbeit: »Wir sehen einen grundlegenden Wandel der Innenstädte, der durch Corona aktuell verstärkt wird.«

Corona verschärft die Lage

Mit dem Shutdown wegen Corona schmolzen Rücklagen dahin. Und auch nach dem Wiederhochfahren ist die Frage noch offen, ob die reduzierte Mehrwertsteuer den Kunden die Lust aufs Shoppen zurückgibt. »Die Maske – so notwendig sie ist, das sollte niemand infrage stellen – ist ein Lustdämpfer beim Spaß-Shoppen. Diese Situation wird auch noch eine Weile andauern. Es ist schwer abzuschätzen, wie genau diese Phase unsere Gesellschaft in ihrem Konsumverhalten verändert. Sicher ist aber, dass wir nach Corona nicht genauso weitermachen werden wie vorher. Und klar ist schon heute, dass der Online-Handel von Corona nachhaltig profitiert hat. Ein Teil dessen, was dem stationären Handel verloren gegangen ist, wird definitiv nicht zurückkommen. Daher brauchen die Innenstädte erweiterte Nutzungskonzepte«, fordert Herres-thal. Dass die Lage für viele ernst ist, zeigt auch ein Blick auf die Wirtschaftsdaten. Ende Juli verkündete das Statistische Bundesamt, dass das Bruttoinlandsprodukt von April bis Juni gegenüber dem Vorquartal um 10,1 Prozent eingebrochen ist. »Wir haben in unserer Gesellschaft eine lange Phase des ungetrübten Konsumrausches hinter uns. Corona hat diese Euphorie jäh unterbrochen, und damit auch Gewohnheiten der Menschen. Zugleich schafft Corona, wenn auch unfreiwillig, Raum für neue Erfahrungen, auch was das Einkaufen und die Freizeitgestaltung angeht«, resümiert Herresthal.

Der Fahrradhandel boomt

Von alldem spürt der Fahrradfachhandel derzeit wenig. Hier »brennt aktuell die Hütte«, meldete der Verband des Deutschen Zweiradhandels (VDZ) vor Kurzem. Verzeichneten Händler Anfang April noch Umsatzeinbußen von bis zu 60 Prozent, stellte sich die Lage im Mai bereits völlig anders dar. VSF-Referentin Hendrikje Lucˇic´ begründet dies so: »Der Fahrradhandel hat in den letzten sechs Monaten davon profitiert, dass viele Menschen das Radfahren für sich neu entdeckt beziehungsweise verstärkt haben, weil es besonders in dieser Corona-Zeit spürbar vorteilhaft ist. Stichworte: Meidung des ÖPNV und verstärktes Freizeitverhalten an der frischen Luft.«

»Damit steht der Fahrradmarkt im von Corona gebeutelten Handel fast solitär auf der Sonnenseite«, analysiert das Institut für Handelsforschung (IFH) ebenso, warnt allerdings vor zu viel Freude: »Für den weiteren Verlauf der Fahrradmarktprognose ergibt sich ein Umsatzausfalleffekt wie er oft bei Vorziehungskäufen durch die private Nachfrage zu beobachten ist.«

Eine Warnung, die Händler nicht leichtfertig beiseiteschieben sollten, meint auch Herresthal: »Auch wenn der Fahrradhandel ein ›sinnhaftes‹ Produkt mit konkretem Nutzwert hat, ist er dennoch Teil unserer Konsumwelt. Daher sind die Entwicklungen des Einzelhandels insgesamt für ihn von Bedeutung. Das ist nicht nur eine Frage der Standorte.« Und auch im eigenen Kiez kann sich die Lage verschlechtern. »Viele Fahrrad-Fachgeschäfte befinden sich ja in den Wohnquartieren und nicht in den Zentren. Sie sind Teil der Stadtteilkultur, nah dran an den Menschen. Wenn andere, kleinere Geschäfte schließen, schwächt das dieses lebenswerte Umfeld und ist daher nachteilig«, so Lucˇic´.

Homeoffice verändert Quartiere

Stadtviertel stehen aber auch generell vor einem Wandel. Das Stichwort hier heißt »Homeoffice«, das die Arbeit verändert, was wiederum an die Quartiere neue Anforderungen stellt. Doch auch hier gilt: Mit Corona beschleunigt sich nur das Tempo, der Startschuss dafür fiel schon früher. So beschäftigte sich der Bundestag bereits am 12. März, also wenige Tage vor dem Shutdown, mit der Frage, ob es zukünftig ein Recht auf Homeoffice geben solle. Den Antrag dazu stellten die Grünen bereits im September 2019.

Siemens, SAP und Allianz erklärten inzwischen, dass sie im Homeoffice eine neue Realität des Arbeitens sehen. So geht der Allianz-Vorstandschef Oliver Bäthe davon aus, dass in seinem Unternehmen längerfristig etwa ein Drittel der Bürofläche wegfallen könnte. Siemens überlegt, ob es nicht besser sei, wenn einzelne Mitarbeiter ein gemeinsames Büro außerhalb der Siemensstandorte anmieten könnten, um dort zu arbeiten. Verändert sich die Arbeit, verändern sich auch die alltäglichen Routinen. Möchte man ein Bedürfnis befriedigen, fährt man dafür dann sicher nicht extra in die Innenstadt, sondern versucht, im Quartier fündig zu werden.

Utopie von Stadt

Innenstädte verlieren mit dieser Aufwertung der Quartiere noch mehr an Anziehungskraft, neue Wege werden gesucht. So einigten sich der Handelsverband Deutschland (HDE) und der Zentrale Immobilien Ausschuss (ZIA) Anfang Juni 2020 auf einen Verhaltenskodex, der mindestens bis Ende des Jahres gelten soll. Eine Reduzierung des Mietzinses wird darin in Betracht bezogen, denn, so der ZIA-Präsident Dr. Andreas Mattner: »Handel und Immobilienwirtschaft sind eine Schicksalsgemeinschaft.« Darauf, dass manche alten Wege schon lange ausgetreten sind, weist der VSF-Geschäftsführer hin: »Auch in einer ›Nach-Corona-Zeit‹ wird es keine Rückkehr zu den alten Verhältnissen geben. Das Idealbild von Innenstädten, die einzig vom Konsum getrieben werden, ist eine Illusion – und schon länger Geschichte, als manche glauben wollen.«

Der Wohnungsbau, die Infrastruktur, die Verkehrspolitik, alle Bereiche stehen zur Disposition. Im Idealfall wird aus der Stadtplanung eine Lebensraumplanung, die dann allerdings völlig anders organisiert werden sollte: Erarbeiteten bisher in vielen Städten unterschiedliche Referate, die zumeist in Konkurrenz zueinander stehen, nach dem Top-down-Prinzip sogenannte Einzelhandelskonzepte, stehen bei der Lebensraumplanung alle Lebensbezüge aller Menschen im Fokus. Dementsprechend sollten neben Städteplanern auch Bürgerinnen und Bürger, die Zivilgesellschaft, Gewerkschaften und Vereine, Immobilienmakler, Händler, Gastronomen, Kulturschaffende, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Kammern und die betroffenen Referate in den Städten und Kommunen auf Augenhöhe miteinander diskutieren und planen. Und mittendrin die Fahrradhändlerin und der -händler, denn auch sie sind wichtige Akteure der Stadtgesellschaft.

Gemeinsam gut leben

Die Zauberformel bei der Lebensraumplanung lautet nicht »Wie floriert der Einzelhandel?«, sie orientiert sich vielmehr an der Frage »Wie können wir hier gemeinsam gut leben?« Damit wären auch isolierte branchenbezogene Forderungen, wie sie beispielsweise der HDE Ende Juli noch an die Politik stellte, vom Tisch. Der Verband machte sich im Zuge von Corona für einen Innenstadtfonds mit über 500 Mio. Euro stark. Eine Forderung, die dem alten Muster isolierter Interessen folgt, weshalb sie vom VSF auch abgelehnt wird. »Ich halte nichts von Konzepten, die mit großem Aufwand – auf Kosten der Steuerzahler – versuchen, Strukturen zu erhalten, die sich gerade substanziell verändern. Der Wandel in den Innenstädten geschieht unabhängig davon, ob wir das gut finden oder nicht. Statt die Energie in die Bewahrung eines nicht haltbaren Status quo zu stecken, fände ich es sinnvoller, den Wandel aktiv zu gestalten. Es wird auch künftig in den entstehenden Innenstadtstrukturen wichtige Funktionen für Handel, Dienstleistung, Gastronomie und Kultur geben, wenn auch unter veränderten Bedingungen.«

Dass bereits an kleinen Stellschrauben gedreht wird, zeigen die Pop-up-Radwege in Berlin, Leipzig oder Düsseldorf. Für den größeren Wurf lohnt ein Blick in das europäische Ausland: Kopenhagen ist nicht nur eine bekannte Fahrradstadt mit einem beeindruckenden Fahrradwegesystem, sondern imponiert auch durch ihre Architektur, die nicht mehr rein funktional ist, sondern versucht, allen Bedürfnissen der Menschen und der Umwelt gerecht zu werden.

Für die Innenstädte unterbreitete der Stadtforscher Thomas Krüger von der Universität Hamburg im Juni gegenüber tagesschau.de folgenden Vorschlag: »Wenn die Mieten sinken, dann haben Geschäftsmodelle eine Chance, die noch nicht so stark sind wie die großen Ketten – zum Beispiel Fusionskonzepte zwischen Gastronomie, Kunst, Verkauf und Büro. Das kann ja alles auf einer Fläche hochspannend zusammengeführt werden, auf ganz verschiedenen Märkten mit ganz verschiedenen Angeboten.«

Für die Quartiere, wo »das Leben und Arbeiten dezentraler wird«, sieht Hendrikje Lucˇic´ die Rolle der Fahrradhändler unter bestimmten Bedingungen gestärkt: »Der sinnvolle und notwendige Digitalisierungsschub, den wir gerade erleben, macht vieles abstrakter und unpersönlicher. Lokale und regionale Strukturen sind hier ein wichtiger Ausgleich. Hier passen Fahrradhändler gut hinein. Allerdings werden sich die Fachhändler noch stärker zu Dienstleistern entwickeln müssen, denn kleinteiligere Strukturen, wie zum Beispiel das Siemens-Konzept zum Homeoffice, verlangen nach individuelleren Lösungen. Flexibilität wird noch wichtiger werden, mit allen organisatorischen Herausforderungen, die das für die Händler mit sich bringt.« //

7. September 2020 von Dorothea Weniger
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