Report - Fahrradschuhe auf Maß
Schuster, bleib bei deinen Cleats!
Auf den ersten Blick fällt die kleine Auslage eines feinen Schustergeschäfts auf: Ein klassischer dunkler Schuh zum Anzug, elegante italienische Form, daneben ein heller Freizeitschuh, dann ein voluminöser, sehr sportlich wirkender Trekkingstiefel. Der letzte Schuh ganz rechts, wieder ein eleganter, schmal geschnittener Herrenschuh, steht aufrecht, sodass man die Sohle sieht: In ihr klafft ein sauber ausgestanztes Langloch – mit einem Cleat für das SPD-Systempedal. Manuel Bär dürfte des öfteren grinsend im Laden stehen, wenn er die unverständigen Gesichter der Menschen sieht, die diesen Schuh entdeckt haben. Er macht Schuhe auf Maß für Radfahrer.
Im Laden riecht es, wie das Menschen aus der 40-Plus-Generation noch vom Schuster aus Kindheit kennen: nach Leim, verschiedenen Verdünnern, alles von wohlig bis scharf – und natürlich der klassische Ledergeruch.
Manuel Bär steht in seiner offenen Werkstatt, ein paar Stufen oberhalb der Verkaufstheke. An der Wand unzählige Werkzeuge, die man irgendwann vor langer Zeit schon mal gesehen hat, und die dem Ganzen zusätzlich so etwas wie Retro-Flair verleihen. Urtümlich und stimmig sind auch die gezimmerten Tische und Arbeitstheken aus massivem Holz – das alles passt perfekt zusammen.
Wie kommt man auf das Thema »Radschuhe nach Maß«? Für den 38-jährigen fast ein logischer Schritt: »Wer einmal seine Erfahrungen mit einem auf Maß gefertigten Produkt gemacht hat, kommt immer wieder darauf zurück – und dann auch in anderen Bereichen.« Bär fährt ein Maßfahrrad, und weiß selbst die Vorzüge des personifizierten Produkts zu schätzen. Wie viel wichtiger – und dann auch effizienter – muss dann der individuelle Radschuh sein. Vor allem für Menschen, die keine Füße mit Standard-Maßen haben, also zum Beispiel einen breiten Fußspann. Wer hier Passendes von der Stange finden will, tut sich schwer, muss mindestens Kompromisse in Sachen Optik und/oder Qualität machen. Aber auch bei normalen Füßen haben Maßschuhe funktionale Vorteile. Je besser ein Schuh sitzt, desto effizienter die Kraftübertragung. »Meiner Erfahrung nach sind Radschuhe oft zu eng,« sagt Bär. Von dem Genuss, etwas nach seinen eigenen ästhetischen Vorstellungen zu tragen, ganz zu schweigen. Da Schuhe von der Stange einem möglichst breiten Publikum passen sollen, kann man nur im Einzelfall ein Rundum-perfekt-Tragegefühl erwarten.
Bär macht Maßschuhe für Radfahrer. Nicht nur, aber auch. Er ist gelernter Orthopädieschuhmacher. Heißt: Er kann nicht nur Schuhe entwickeln und aufbauen, er hat auch gelernt, wie er selbst sagt, »wie Füße funktionieren«. Und eben entsprechend wie auch der passende Schuh funktionieren sollte. Nach der Ausbildung merkte er: Er will Schuhe machen, die nicht nur hochfunktional sind und einem Fuß mit Fehlstellung oder ähnlichem Hilfestellung bieten; sie sollen auch schön sein und individuell sein. Das führte ihn auf die deutsche Schuhfachschule in Pirmasens. Da lernte er, sein Können kreativer und freier umzusetzen. Später, nach einer kurzen Zeit als angestellter Schuhtechniker, zieht es ihn dann wieder ganz ins Handwerk – und in die Selbstständigkeit.
Der Radschuh vom Schuhmacher
Wer zu ihm kommt hat meist schon feste Vorstellungen davon, wie sein Schuh aussehen könnte. »Möglich ist alles«, sagt Bär, »und vieles, was Materialien angeht«. Die meisten Schuhe macht der Leipziger natürlich in Leder. Daneben gibt es auch bestimmte Textilien oder Kunstledersorten. Leichte Radschuhe für den reinen Sportgebrauch, beispielsweise dezidierte Rennrad-Schuhe, kommen noch: »Der Radschuh 2.0 steht derzeit in der Warteschleife«, sagt er. Maschinen dafür stehen schon bereit. Kunstleder, synthetisches Leder, das für den Radsportschuh aus Gewichtsgründen sinnvoller ist, sind in der handwerklichen Herstellung teilweise schwieriger, grundsätzlich aber oft anders zu verarbeiten. Bär ist im Moment dabei, sich an einen optimalen Workflow heranzutasten.
Was sowohl fürs Rad und den Asphalt bestimmt ist, hat heute entweder eine Sohle aus dem hochwertigen Johann-Rentenbach-Leder oder Gummisohlen von Herstellern wie Vibram oder Continental. Das Leder ist grundsätzlich medizinisch zertifiziert und unbedenklich, was Schadstoffe angeht. Die Mehrkosten, die solch eine Auswahl der Materialien macht, fallen bei Maßschuhen, die ohnehin keine Anschaffung nebenher sind, kaum ins Geld. Beim Obermaterial ist Bär besonders wählerisch: Da gibt es den sächsischen Büffelzüchter, aber auch italienische und holländische Zulieferer, die feinen Rohstoff produzieren. Radschuhe, egal ob mit oder ohne Cleat für das Systempedal, haben eine steife Zwischensohle aus Glasfaser-verstärktem Kunststoff, wie man sie auch von den handelsüblichen Bike-Schuhen kennt. Sie lassen sich nur gering biegen und sorgen dafür, dass die Kraftverteilung effizient über den ganzen Fuß läuft und die Fußballen nicht allzu sehr belastet werden.
So wird ein Schuh draus …
Natürlich wird zunächst einmal geklärt, was der Kunde will und braucht: Soll es ein Freizeit-Schuh sein mit Systempedal-Cleat oder ein Schuh fürs Büro mit Pedal-Cleats – oder »nur« mit steifer Sohle? Anzugtauglich? Hat er konkrete optische Vorstellungen? Dann wird dazu der Leisten ausgesucht – die Grundform des Schuhs, jenes Ding aus dem Sprichwort »Schuster bleib bei deinen Leisten«. Er ist eigentlich nichts anderes als das Modell des zukünftigen Schuhs in der Passform des Kundenfußes. Der Kunde sucht sich die Form des zukünftigen Schuhs aus – also beispielsweise robuster Wanderschuh, eleganter, spitz zulaufender Anzugschuh, Freizeitschuh etc.. Und dieser Leisten wird dann als Modell an den Kundenfuß entsprechend angepasst. Dafür wird der Kunde genau vermessen, bedeutet: Schuhe ausziehen und sich, aufs Messbrett stellen. Zunächst wird mit einer Art Pauspapier ein Abdruck der beiden Fußsohlen gemacht. Bär kann daran nicht nur die Form der Füße und Besonderheiten wie etwa einen breiten Vorderfuß ablesen, er kann auch an der Stärke des Abdrucks, der wie eine Blaupause angelegt wird, an einzelnen Stellen ablesen, wo der Fuß vielleicht etwas mehr Stütze bekommen sollte – oder wo eine Aussparung im Schuh nötig ist, um den Bereich zu entlasten. Viel Wert legt der Ergo-Spezialist darauf, alle möglichen Besonderheiten oder Veränderungen der Füße zu besprechen. Schließlich soll der neue Schuh eben genau dies besser können als der alte: Besser mit anatomischen Eigenheiten Fußes umgehen können, mögliche Probleme lindern oder abstellen.
Dann geht es an die eigentliche Vermessung: Mit einem Stift werden die Konturen des Fußes umrundet – einmal mit senkrecht gehaltenem Stift, dann mit einem um 45 Grad vom Fuß weg gekippten Stift. Damit wird ein Umfangs-Mittelwert festgelegt. Dann kommt 3D ins Spiel: An sechs Stellen wird per Maßband der Umfang des Fußes gemessen. Sogar die Zehenhöhe ist wichtig. Sie wird mit einer Art Schieblehre gemessen. »Wenn der Schuh am großen Zeh zu niedrig ist, wird er Probleme machen«, sagt Bär. Vorderfußbreite, Spann, Knöchel, alles wird festgehalten.
Komplexe Kreativität
Ist der Kundenfuß doch etwas spezieller – hat er beispielsweise einen ungewöhnlich breiten Vorderfuß oder eine Fehlstellung der Zehen, wird ein kompletter Gipsabdruck erstellt und dieser zur Grundlage des Leisten genommen. Ansonsten kann ein industriell hergestellter Leisten genommen werden, der dann an die Kundenmaße angepasst wird. Ist die Maßnahme komplett, kommt, was Bär den »bildhauerischen Teil« seiner Arbeit nennt. Die Maße werden auf Schnittschablonen aus dünnem Karton oder Papier übertragen, mit denen Bär schon mal die Passform des Leisten kontrolliert. Das Leder wird nach diesen Papierschablonen ausgeschnitten, grundsätzlich mit Zugaben an den Rändern. Etwa einen halben Quadratmeter braucht Bär für ein Paar Halbschuhe, inklusive Futterleder, der Quadratmeterpreis liegt bei 70 bis 100 Euro. Zu berücksichtigen sind beim Zuschnitt die einzelnen Teilflächen des Materials: Die Optik des Schuhs wird stark von der Aufteilung des Leders definiert. Je mehr Teile Ober- und Innenleder haben, desto aufwendiger – aber auch desto mehr Spielraum für die Gestaltung – der Oberschuh, das Mosaik: Kappe aus rotem Leder, Seitenteile aus braunem, hinten schwarz: Hier ist viel Detailarbeit fällig. Wo Lederflächen aneinandergesetzt werden, flacht Bär die Ränder des Lederstücks mit einem rasiermesserscharfen Werkzeug ab. Nach dem Nähen – die Nähmaschine dazu findet man mit einigen anderen Maschinen und einer kleinen Küche im Untergeschoss – werden die Nähte umgeschlagen und mit einem kleinen Hammer flachgeklopft. So sind sie später praktisch nicht mehr zu spüren. Soll es einen Reißverschluss geben, einen Schnürverschluss, wie viele Loch soll er haben und wie soll er aussehen? Erst mit der Beschäftigung im Detail merkt man, wie viel Spielraum man beim Schuh hat – aber auch, wie unglaublich komplex das Thema ist.
Die Brandsohle – die Zwischensohle, mit der später der Fuß Kontakt hat – muss dick genug sein, um innen die Gegenplatte zum Pedal-Cleat aufnehmen zu können. Die Verstärkungsplatte für den Radschuh aus GFK wird kurz erhitzt, sodass sie sich etwas biegen lässt, und dann unter hohem Druck auf die Brandsohle geklebt, die schon auf der Unterseite des Leisten sitzt. Diese GFK-Verstärkung muss so geschnitten sein, dass sie ringsum noch etwas Platz lässt: Das Obermaterial muss an der Brandsohle befestigt werden und GFK lässt sich nicht vernageln. Heikel ist die Positionierung der Langlöcher für die Cleats: Hier gilt es ergonomisch, Längs- und Querachsen zu berücksichtigen. Zusätzlich gibt die Länge der Pedalachse einen Mindestabstand der Cleats von der Kurbel vor – schließlich darf der Schuh nicht an ihr entlangschaben.
Ist der Leisten soweit fertig, wird das Obermaterial fixiert – »gezwickt«, sagt Bär, das heißt: mit einer Spezialzange gedehnt und über den Rand gezogen, dann, wie schon angedeutet am schmalen Rand, den die GFK-Platte ringsum freilässt, festgenagelt. Überschüssiges Material wird abgeschnitten. Auch die so entstehenden Falten werden glatt geschlagen und nach dem Verkleben und Trocknen gehobelt, sodass die Sohle plan aufliegen kann. Zum Schluss wird das Langloch, in dem sich die Aufnahme für den Cleat befindet, ausgestanzt.
Auch bei der Bearbeitung des Obermaterials ist Bär offen: Bei unserem Besuch wurde gerade ein modisch extravaganter Schuh fertiggestellt. Ein sportlicher, schmal geschnittener Schuh, für den Sonntagsspaziergang des modebewussten Mannes – etwas Dandy-like. Durch vielfaches Betupfen mit dünner Spezialfarbe wird auf der roten Grundfarbe des Leders ein zusätzlicher, marmorierender Spezialeffekt erreicht. 30 bis 50 Arbeitsstunden braucht ein Schuh von der Planung bis der Kunde damit loslaufen kann. Um die 1.200 Euro kostet damit der Einstieg in den Maßschuh. Der dazu nötige Leisten schlägt mit 500 Euro zu Buche. Dieser Betrag fällt natürlich weg, wenn der Kunde später noch weitere Schuhe in derselben Schuhform bestellt. Drei Monate braucht es derzeit etwa, bis der Schuh fertig ist.
Die Zeit für den Maß-Radschuh kommt
Die Radschuhe sind derzeit eher ein Zusatzgeschäft für Bär, doch er ist überzeugt davon, dass er auf lange Sicht Erfolg damit hat. Deshalb hängt als alleinige Werbung das Schild »Radschuhe handgefertigt« im Fenster. Im Mai 2016 hat er den Laden in der Georg-Schwarz-Straße in Leipzig eröffnet. Eine aufstrebende Lage in einer aufstrebenden Stadt. Menschen, die sich »etwas gönnen wollen« – und das auch können – gibt es immer mehr. Natürlich nicht nur in Leipzig. Die meisten Maßschuh-Kunden dürften schon einige Kilometer hinter sich haben, wenn sie bei Bär durch die Ladentür kommen. Neben den Direktkunden setzt Bär aber auch auf Zusammenarbeit mit Mode-Unternehmen und einigen Schneidereien. Außerdem stellt er für einige Radhändler individuelle Sattelbezüge und Ledergriffe her. Der Schuhtechniker ist also breit aufgestellt. Und wenn der Custom-Made-Trend endgültig vom Rad auf die Schuhe überspringt, könnten Bär und sein Praktikant in der kleinen Werkstatt tüchtig zu tun bekommen.
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