Porträt - Kettler Alu-Rad
Schwungvoll im Saarland
Es fühlt sich an wie im Herzen einer Weltraumstation in einem Star-Wars-Film. In der 31 Meter hohe Halle reichen die Regale bis zur Decke, dafür sind die schmalen Gänge zwischen ihnen so tief, dass man im schummrigen Licht kaum das Ende sieht. Menschen erblickt man von der Stahlbrücke am Eingang aus noch weniger, aber draußen vor dem Eingang bewegen sich automatisierte Gabelstapler zwischen Abertausenden Transportkartons, wie von Geisterhand gesteuert. Vor der Sicherheitstür, die Zugang zu diesem metallisch abgeriegelten Gebäudeteil bietet, steht ein Display: 13,7 leuchtet in Digitalziffern, und Jan Begemann findet das eine gute Zahl. Denn sie zeigt an, dass ein besonders fortschrittliches System im von ihm geleiteten Betrieb die Abermillionenwerte schützt, die hier lagern.
Stetiger Neuaufbau unter dem Dach der ZEG
Jan Begemann, der trotz des Vor-Eurobike-Stresses gute Laune versprüht, führt mit viel Geduld und Liebe zum Detail durch das neue Werk, das der gebürtige Hamburger hier im Saarland leitet. Begemann ist »Geschäftsleiter Produktentwicklung, Einkauf, Produktionsplanung« bei Kettler Alu-Rad und damit – gemeinsam mit Werkleiter Michael D’Erme – ein zen-traler Mann in einer dynamischen Erfolgsgeschichte der deutschen Radbranche. Was vor gut acht Jahren mit der Übernahme eines am Boden liegenden, auf 75 Mitarbeiter geschrumpften ehemaligen Vorreiters der Branche in Deutschland begann, strotzt nun vor Selbstbewusstsein und Glaube an die Zukunft in einer ansonsten eher strukturschwachen Umgebung. Im Saarland hatte der aus dem nordrhein-westfälischen Sauerland stammende Heinz Kettler die Produktion der Fahrräder angesiedelt. In den späten Siebzigern war Kettler Vorreiter im Geschäft mit Alu-Fahrrädern. Doch das 1949 gegründete Unternehmen steckte Anfang des neuen Jahrtausends in erheblichen Schwierigkeiten, und die Zweirad-Einkaufs-Genossenschaft (ZEG) übernahm das Geschäft mit Fahrrädern und E-Bikes, überführte es in eine eigene Gesellschaft und begann einen stetigen Neuaufbau. Das Sport- und Fitnessgeschäft von Kettler blieb außen vor und sorgte durch seine Namensverwandtschaft und gelegentliche Insolvenzen für unerwünschte Verwechslungen.
Ergonomisch und übersichtlich geht es bei der Linienproduktion der Räder zu, die Mitarbeitenden sind auf Rädertypen spezialisiert.
Vor gut vier Jahren besuchte velobiz.de zuletzt das vom ZEG-Vorstand in Köln geführte, aber eigenständig agierende Unternehmen an der südwestlichen Peripherie Deutschlands. Vergleicht man die Bilder von damals mit den heutigen Eindrücken, wirkt es wie eine Zeitreise. Vor allem, weil der Aufbruch in die neue Ära bei Kettler Alu-Rad so rasant und wie geplant verlief. Ole Honkomp, Geschäftsleitung Vertrieb und Marketing, spricht auch von »Stolz« und zeigt eine Präsentation, die den Wandel demonstriert. »Wenn man diese großen Schritte geht, die wir hier zusammen gemacht haben, dann wirkt das mitreißend und motivierend«, sagt Honkomp. Satte 100 Millionen Euro hat das Unternehmen am neuen Standort in Sankt Ingbert verbaut und ist dabei zeitlich im ambitionierten Plan geblieben. Der Bau am High-Tech-Werk begann im März 2021, im April 2022 rollte schon die Produktion an. »Natürlich noch nicht in der heutigen Taktung, aber dass wir es so schnell bis dahin geschafft haben, ist schon eine enorme Leistung.« Das alte Werk in Hanweiler ist zwar noch in Betrieb, aber in Sankt Ingbert beschleunigt sich das Tempo rasant. »Wir sind bestimmt beim zehnfachen Output der Startphase«, sagt Honkomp. Damit das alle sehen können, hat man das Werk in Sankt Ingbert möglichst transparent aufgebaut. Das Meeting mit Honkomp und Begemann startet in einem geräumigen Showroom an der Hausfassade, direkt dahinter sieht man während der Besprechung die Arbeit an einer der insgesamt vier Produktionslinien in diesem neuen Komplex. Jan Begemann nimmt seinen Besuch zur besseren Einordnung denn auch gleich mit ins Innere dieser Anlage. Durch eine Produktionshalle geht es dann in einen nächsten Gebäudeteil, in dem Hochregale stehen, das Überkopf-Produktionsband in der Raummitte läuft und im hinteren Teil wiederum riesige Regale die Rahmen-Kettenschutz-Sets für die Produktion bevorraten. Die Rahmen für die Produktion stammen aus Asien, der Anteil der Produktion dort nehme zugunsten Vietnams stetig zu, sagt Jan Begemann. Roboter und von Menschen nur noch beaufsichtige Stapler holen die Rahmen aus dem Lager und liefern sie an eine Plattform, wo sie für die Produktion vorbereitet werden. In einer Station, die eine Etage über den Köpfen der Betrachter liegt, kontrolliert ein Team die eingehängten Rahmen auf Mängel, bevor sie dann ins Deckenlager über der Produktionshalle eingespeist werden.
»Wir sind bestimmt beim zehnfachen Output der Startphase.«
Ole Honkomp, Geschäftsleitung
»Wir haben einen Neustart hingelegt«, sagt Ole Honkomp im Showroom. Er zeigt auf das Fahrradsortiment von Kettler, Schilder der errungenen Eurobike-Awards dekorieren manche Exponate. Man sieht Klassiker in E-Version, Lastenräder, SUVs und auch Sportliches. In der Ecke stehen auch Kinderräder, wobei die nur einen verschwindend geringen Anteil des Geschäfts ausmachen. Dennoch sind sie wichtig. »Wir sind und bleiben ein Vollsortiment-Anbieter«, verdeutlicht Honkomp, »und wir stehen für Verlässlichkeit.« Konstanz, sagt er, fördere auch die Effizienz und Qualität der Fertigung, die Zusammenarbeit mit Zulieferern, das Vertrauen bei den Partnern im Markt. In den vergangenen Monaten hat Kettler Alu-Rad ein paar Korrekturen vorgenommen, Preise bei Lastenrädern im Zuge der Babboe-Krise reduziert. Auch wird in den kommenden Monaten zu sehen sein, dass man sich im unteren Preissegment etwas stärker engagiert. Wobei das untere Segment für Kettler bei ca. 3000 Euro beginnt. »Für weniger können wir keine Produkte liefern, die unserem Anspruch genügen«, sagt Honkomp. Wohl aber sei dieses Marktsegment und nicht etwa nur die hochpreisigen Modelle für Kettler Alu-Rad perspektivisch bedeutsam. »Man kann mit vernünftigen Prozessen auch in unteren Preislagen gutes Geschäft machen«, sagt Honkomp. »Und das ist auch wichtig für unsere Händler, damit sie in allen Nischen vernünftig kalkulierte Räder anbieten können – vom Kinderrad bis zum Top-SUV-Modell.«
Wachstum trotz Schwierigkeiten im Markt
Kettler Alu-Rad will auf die eigene Markenbekanntschaft aufsatteln. Platt gesagt kannte vor zehn Jahren jeder Mensch in Deutschland Kettler, aber niemand wollte mehr die Produkte des Unternehmens haben. Inzwischen ist der Umsatz der Firma von 25 Millionen Euro im ersten Jahr nach ZEG-Übernahme des Geschäfts auf gut 200 Millionen Euro im Jahr 2023 gewachsen. Klar, dazwischen kam die Corona-Pandemie, die den Markt beflügelte und viele überschnappen ließ – was in eine Überversorgung und anschließende Pro-bleme viele Händler führte.
Honkomp sieht, dass der Gesamtmarkt derzeit schwierig ist. »Ich bin aber überzeugt, dass wir auch dieses und kommendes Jahr trotz dieser Schwierigkeiten ein Wachstum erzielen können«, sagt Honkomp. Grund sei, trotz sehr offensiver Planung der eigenen Neuausrichtung, ein eher vorsichtiger Wachstumsplan, während andere Marken, oft investorengetrieben, deutlich größere Kapazitäten geplant hätten. »Wenn ich die neue Fertigung sehe, die wir hier haben, dann sind wir auch in der Lage, noch relativ gut auf Nachorder unserer Händler zu reagieren«, sagt Honkomp.
Made in Germany – bei Kettler zeigen sie gern, was sie hier als Mittelständler neu errichtet haben. Jan Begemann führt in einen weiteren Teil der Fertigung. Hier deutet er auf drei verglaste Kammern, in zweien davon stehen Roboter: die Lackieranlage. »Wir schaffen es hier mit Elektrostatik, den Lackverbrauch gegenüber herkömmlichen Lackierungen um etwa 50 Prozent zu reduzieren«, sagt Begemann. Etwa 98 Prozent jedes Rahmens lackieren die Maschinen, am Ende trägt ein Mensch im dritten Stand an besonders schwierig zu erreichenden Stellen den Rest auf.
Wie von Geisterhand transportieren Stapler die Ware aus dem Hochlager in abfahrbereite Transportlaster.
Nebenan kleben Mitarbeiterinnen in einem separaten Raumteil das Dekor auf die Farbschicht oder den Klarlack. Die Grundierung entsteht aus Pulver, die Oberschicht aus Nasslack. Ein effizienter, im Vergleich zu anderen Firmen mit Lackierung enorm sauberer Teil der Produktion und für die Identität der Marke überaus wichtig. Die Farben spielen eine Schlüsselrolle, weswegen ein paar Meter weiter in einer Modelllackiererei auch mit dem Spektrum experimentiert und Muster von Mitarbeitenden lackiert werden, bevor eventuell neue Farbtöne beim Lackhersteller in die Serienproduktion gehen.
Die vier Produktionslinien in den zwei aneinander angrenzenden Hallenteilen sind jener Teil des Werks, in dem Jan Begemann, zuvor bei Kenstone beschäftigt, kaum noch aus dem Erzählen rauskommt. Man kann dabei zuschauen, wie die Rahmen aus dem Deckenlager in die Produktionslinien laufen. Das Unternehmen betreibt hier ein hochmodernes System. Jeder Rahmen, jeder eingebaute Akku und jeder Motor werden schon hier erfasst und sind unmittelbar in den Datenbanken hinterlegt. Schon während der Fertigung durch die Frauen und Männer am Band ist damit sichergestellt, dass jedes Rad in Zukunft einzeln verfolgt werden kann. Das ist bei eventuellen Problemen, Rückrufen oder Reklamationen ein großer Vorteil. Überhaupt ist bei Kettler Alu-Rad alles mit allem vernetzt, sagt Ole Honkomp. Seine Tabellen, die Wareneingänge, die Prognosen in der Produktion, all das passiert auf Softwarebasis automatisch. »Der Nachteil ist, dass das manchmal noch ein paar Probleme bereitet, der überwiegende Vorteil ist aber die Effizienz, die wir damit erreichen«, sagt Honkomp. Nur mit dieser Effizienz sei es möglich, gegen Konkurrenz aus Fernost zu bestehen. Drei der vier in Sankt Ingbert neu gebauten Produktionslinien laufen bereits, mehr als die Hälfte der Räder sind die eigenen, aber man baut auch für »Verwandte«: i:SY, Pegasus, Hercules und auch Zemo. Das Ziel der Produktion ist es, dass die Mitarbeitenden im Team möglichst immer mit denselben Produkten konfrontiert sind, um die Sicherheit im Umgang mit den Anforderungen zu steigern. Auf Monitoren über ihren jeweiligen Positionen finden sie zudem Informationen zur Montage. »Das wollen wir bald auf Videos umstellen, denn nicht alle unsere Mitarbeiter können deutsche Texte lesen«, sagt Begemann. Mehr als die Hälfte der Leute im Unternehmen sind nicht aus Deutschland, die meisten davon kommen aus dem benachbarten Frankreich.
»Wir sind die bekannteste Marke und genießen Vertrauen. Das ist für die Händler viel wert.«
Ole Honkomp, Geschäftsleitung
Ole Honkomp berichtet, dass die saarländische Politik das Engagement des Unternehmens durchaus würdige. 350 Arbeitsplätze sind inzwischen geschaffen, vor gut acht Jahren waren gerade noch 75 Menschen bei Kettler Alu-Rad angestellt. Obwohl die neue Anlage wegweisend sei in ihren Standards, habe sich aber aus der Bundespolitik noch niemand eingefunden. Das liegt daran, glaubt Honkomp, dass die große Politik die Fahrradbranche in ihrer Bedeutung immer noch nicht hoch genug einschätze. Das ist schade, denn im Saarland könnte man ein Lehrstück in Sachen Industrie und Investitionen vorführen. Im Kern geht es hier darum, Wettbewerbsfähigkeit über Vernetzung, Effizienz und Qualitätssicherung zu gewährleisten. Damit befindet man sich nicht nur bei der Frage, wie man im Radhandel erfolgreich gegen internationale Riesenmarken bestehen kann, sondern gleich auch bei Themen des Standorts Deutschland. Anschauungsmaterial gäbe es hier, und Kettler, so sagt es Honkomp, plane auf jeden Fall, auf dieser Basis im Inland über die DACH-Region hinaus mit Exporten Wachstum zu erzeugen.
Wachstum durch vielfältige Ansätze
Vor allem aber will Kettler Alu-Rad der Partner für diejenigen sein, die sich auf lange Sicht erfolgreich in diesem Markt und im Geschäft mit den Kunden behaupten: den Fachhändlern. »Ich gehe davon aus, dass Händler sich zunehmend auf Kernmarken konzentrieren. Wir sind die bekannteste Fahrradmarke und genießen Vertrauen. Das ist für die Händler viel Wert.« Es gibt dabei keinen Fokus auf Mitglieder der ZEG. Aber klar sei doch, dass die ZEG als händlergetriebene Organisation dabei helfe, die Marke Kettler Alu-Rad geduldig und im Sinne des Fachhandels zu entwickeln. Hinzu kommen Aspekte wie die Partnerschaft mit Markenbotschafter Bastian Schweinsteiger und die Kooperation etwa mit dem Antriebshersteller Pinion, die auch die Innovationsfähigkeit des Unternehmens untermalen sollen. Zudem wird das Unternehmen, das kündigt Honkomp bereits an, im kommenden Herbst auch die eigenen Produkte auf den attraktiven Strecken rund ums neue Werk für Händler bei einem speziellen Event erfahrbar machen.
»Mit Elektro-statik reduzieren wir den Lackver-brauch um etwa 50 Prozent.«
Jan Begemann, Leiter Produktentwicklung, Einkauf, Produktionsplanung
Es fehlt noch eine Auflösung zu dieser Geschichte. 13,7 steht auf dem Display am Eingang zum Lager, in dem die fertig montierten Räder vor ihrem Abtransport aus Sankt Ingbert in den engen, hohen Regalen stehen. Die Zahl zeigt den Sauerstoffgehalt in der Luft an, es ist wie ein extremes Höhentrainingslager. Eine Anlage tauscht den Sauerstoff gegen Stickstoff aus, was vor allem den Lagerbestand schützt. »Wenn es hier anfangen sollte zu brennen, dann bleibt der Schaden absolut lokal begrenzt«, erklärt Jan Begemann. Löcher in den Transportkartons sorgen dafür, dass sich im Innern kein Sauerstoff sammelt und damit im Fall eines Akkubrands der Karton nicht mitbrennen kann. Denn ohne ausreichenden Sauerstoff kann sich das Feuer nicht über den Akku hinaus verbreiten. Eine Technologie, die für die Fahrradbranche neu ist und den Wachstumskurs der E-Bike-Firma aus Deutschland sichert. Wer bis zu 50.000 moderne Räder auf Lager hat, will auch die verfügbare Technik nutzen, um das eigene Wachstum zu sichern. //
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