9 Minuten Lesedauer
i

Report - Werkstätten ohen Fahrradverkauf

Solo für Service

Noch vor wenigen Jahren war das undenkbar. Eine Werkstatt ohne Verkauf von Fahrrädern? Wie funktioniert das und was kann das für Vorteile bringen? Dabei gibt es bereits gesammelte Erfahrungen von Experten und Nur-Werkstatt-Betreibern.

Die großen Läden hauen so viele Räder raus«, erklärt Ingo Witte. »Wenn du als Werkstatt offen für die üblichen Marken bist, dann hast du richtig zu tun.« Witte weiß, wovon er spricht. Er ist beim Verband Service und Fahrrad, VSF, für die Werkstatt-Zertifizierung »all ride« zuständig. Vom VSF und von außen kämen Interessenten, die sich beraten lassen wollen, was es braucht, um eine effiziente Solo-Werkstatt aufzubauen. Gleichzeitig können sich viele Händler immer noch nicht vorstellen, dass eine Werkstatt mehr als ein mitgeschlepptes Übel ist, das man leider einfach braucht. Woher kommt diese Geringschätzung der Werkstatt? Geben nicht die seit Jahrzehnten gut funktionierenden freien Autogaragen ein gutes Beispiel ab? Kritiker wenden hier sofort ein: Aber die ganz anderen Stundensätze! Stimmt das? Dazu später noch.

Pandemie als Katalysator

Wie kommt es zu dieser Entwicklung zu freien Werkstätten, die mancher schon als Trend ansieht? Eigentlich ist es nicht schwer, die Gründe zu erkennen. »Ein Mit-Auslöser für mehr Bedarf«, so Witte, »ist die Dynamik im Handel während der Corona-Pandemie.« Der Fachhandel erlebte eine einmalige Verkaufsphase. Doch die Räder, die damals verkauft wurden, müssen auch gewartet werden.

»Effizienz schaffen ist immer besser als neue Mitarbeiter einstellen.«

Ingo Witte, VSF

Die Werkstätten waren schnell überlaufen, »obwohl der eigentliche Schwung erst jetzt kommt.« Nun erkennen viele einen Werkstatt-Notstand. Es ist viel Bedarf da, denn Radfahrende wollen nicht bis in den Herbst auf eine Wartung oder nötige Reparatur warten, sie wollen jetzt Rad fahren. Ein Aspekt, der ebenfalls eine große Rolle spielt, ist die Konzentration im Fachhandelssektor: Die kleinen und wenig spezialisierten Händler werden immer weniger. Und mit ihnen sterben leider fast immer auch ihre Werkstätten.
Aber auch ein Produkt hat massiv Anteil am Trend. »Das E-Bike hat viel in dieser Entwicklung bewirkt«, meint Witte, der selbst 15 Jahre in der Werkstatt und als Werkstattleiter arbeitete. Denn die E-Bike-Fahrer und -Fahrerinnen wissen ihr lieb gewonnenes Gefährt zu schätzen. Effekt davon: Der Faktor »Wartung« wird deutlich ernster genommen. Die Menschen sind heute willens, Geld in die Instandhaltung des Rads zu setzen, das sie teuer erstanden haben.

Gamechanger Leasing

Gar nicht zu überschätzen ist die Wichtigkeit des Fahrrad-Leasings für diese Dynamik. Wie bei der Entwicklung der Verkaufszahlen des E-Bikes überhaupt ist es maßgeblich am Wachstum und an der Einschätzung des E-Bikes als hochwertiges Produkt beteiligt. Hinzu kommt, dass die regelmäßigen Wartungen im Leasing-Vertrag mit eingeschlossen sind. Wer sein teures Rad oder E-Bike zur Wartung bringt, hat je nach Vertrag nur verhältnismäßig geringe Zusatzkosten. Ein Grund mehr, für regelmäßige Termine in der Werkstatt zu sorgen.
Das ist auch für diese reizvoll, weiß Witte, denn »die Inspektion eines E-Bikes kostet, und gerade bei Erstinspektionen ist der Aufwand dabei eher gering.« Attraktiver Umsatz also, der noch dazu ganz ohne großen Aufwand in die Werkstatt kommt.

»Werkstatt ist ein Zukunftsthema!«

»Seit 2019 hat sich der Bestand an E-Bikes verdoppelt. Das kommt jetzt erst richtig in die Werkstätten rein«, so Witte. Doch Voraussetzung, dass man damit eine Werkstatt ertragreich führen kann, sind natürlich auch Einnahmen-Faktoren wie der Stundensatz. »Als ich angefangen habe, gab es Sätze von 40 Euro«, erklärt Witte. Heute liegt der Durchschnitt nach VSF-Angabe bei 76,50 Euro. Doch auch dieser dürfte sich noch weiter nach oben entwickeln. Ohnehin ist der Satz in größeren Städten und bei großen Fachhändlern heute schon deutlich höher. Im Vergleich dazu die Kosten, die der ADAC für 2022 für Pkw nennt: Je nach Region und Stadt sind 120 bis 173 Euro fällig, auch sind die Vertragswerkstätten meist deutlich teurer als freie. Rechnet man dann den Platzbedarf einer Autowerkstätte und den deutlich umfangreicheren Werkzeug- und Maschinenpark mit ein, dürfte sich der Unterschied ziemlich relativieren.

Die Fahrradwerkstätte Radfit von Dr. Klaus Helnerus in Bonn. 130 Quadratmeter, fünf Arbeitsplätze. Eine Besonderheit ist der Standort in einem Obi-Baumarkt.

Wie schon im velobiz-Magazin-Beitrag von Gunnar Schmidt genannt (4/24, S. 42), ist die Frage nach dem passenden Stundensatz nicht zuletzt eine danach, welchen Wert man seiner Arbeit zuschreibt. Und der dürfte auch im Bewusstsein aller Beteiligten in den letzten Jahren gestiegen sein.
Gleichzeitig sind die Investitionen mit denen eines Ladengeschäfts nicht zu vergleichen. Angefangen bei der Immobilie selbst: Sie muss kein imageträchtiges Objekt in guter Lage, sondern funktional und entsprechend günstiger sein. Der Platzbedarf ist gering. Mit vier bis fünf Arbeitsplätzen in einem auf Effizienz ausgerichteten Arbeitsumfeld ist man oft schon im grünen Bereich. »Bei der Ladeneinrichtung muss man der Kundschaft heute schon einiges bieten«, erklärt der VSF-Mann. »Das kann ich bei einer Werkstatt komplett einsparen.« Zumindest muss es nicht gediegen und repräsentativ aussehen, sondern funktional.

Ungeklärte Abläufe fallen weg

Wer eine Werkstatt ohne Fachhandel betreibt, der entkommt quasi automatisch einigen Effizienz-Fallen. Der Klassiker: Jemand kauft ein Fahrrad im Geschäft, die Werkstatt montiert noch einen anderen Sattel und spezielle Pedale. Das führt im Normalfall dazu, dass der Mechaniker oder die Mechanikerin für diese Zeit umsonst arbeitet, wenn für diese »Schnell-mal-Aufgaben«, wie meist üblich, keine Rechnungen gestellt werden. Darüber hinaus wird die Arbeitskraft aus ihrer eigentlichen Aufgabe gerissen und verliert dadurch wieder Zeit.
Wie auch schon in einem früheren Beitrag über räumlich separierte Werkstätten (velobiz-Magazin 5/22) zu lesen war, empfinden viele die Unterbrechungen durch den wegfallenden Kundenkontakt als sehr entspannend. Bei der Arbeit im »Flow« bleiben können, heißt die Devise.

All ride: Effizienz von Anfang an

Klar ist also: Die Anlage, die Strukturen und die Abläufe in der Werkstatt müssen optimiert werden, das ist vielleicht die wesentliche Vorgabe, um mit einer Werkstatt effizient zu sein.

All-ride-zertifiziert und auf kleinem Raum sehr effizient: Sebastian Maiers Fahrradservice im Bahnhofsgebäude Hangelar.

Der VSF arbeitet schon seit Langem erfolgreich an der Optimierung von Fahrradwerkstätten. »All-ride-Optimierung ist kein statisches Thema«, sagt Ingo Witte, »eine All-ride-Werkstatt wird alle drei Jahre zertifiziert«. Die Grundlagen dazu entwickeln sich weiter. Mit dem Mehrbedarf an Werkstattleistung sind in den letzten Jahren und Jahrzehnten nicht auch automatisch die Strukturen gewachsen. Teilweise ist sogar das Gegenteil geschehen, siehe Kundenkommunikation über Telefon. Diese Nachfragen von Kunden häufen sich im Reparatur- und Teilestau, den der E-Bike-Boom während der Pandemie auslöste. Wie optimiert man seine Kundenkommunikation? Klare, einfache Auftragsstrukturen wie etwa kleine und große Wartung, die online gebucht werden können, sind ein gutes Beispiel. Auch die Effizienz oder Ausbaufähigkeit des Warenwirtschaftssystems steht auf der Prüfliste. Hier ist entscheidend, ob man alle Möglichkeiten, die es bietet, wirklich nutzt. Dieser Punkt ist bereits ein Kapitel für sich.
Wichtig und mittlerweile allgemein anerkannt ist die Stellung der Dialog-annahme durch einen dafür abgestellten Mitarbeiter. Bringt der Kunde oder die Kundin das Fahrrad, wird auf einem speziell dafür bereitgestellten Arbeitsplatz zusammen mit ihr oder ihm das Fahrrad komplett durchgesehen. So findet man bei einer Reparatur nicht nur Schäden, die bislang nicht wahrgenommen wurden, man fördert auch das Kundenvertrauen, denn »die kümmern sich!« Diese Annahme dauert etwas länger als eine klassische Fehlerbehebung, sorgt aber auch dafür, dass später der Arbeits-Flow erhalten bleibt.
Zudem verschwindet die Angst der Kundinnen und Kunden, durch Mehrkosten über den Tisch gezogen zu werden. »90 Prozent der Kunden finden diese Durchsicht gut«, erzählt Ingo Witte aus Erfahrung. Für die Werkstatt generiert sie Zusatzumsatz und spart oft weitere spätere Kommunikation mit dem Auftraggeber oder der Auftraggeberin.
Immer wieder weist man beim VSF allerdings darauf hin, dass auch die Zufriedenheit der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ein Schlüssel zur Effizienz ist und damit auch alles, was dieser dienlich ist. Beeinflusst wird sie vom perfekten, komfortablen Arbeitsplatz über ungestörtes Arbeiten bis zur hohen Qualität der Einrichtung und vielen anderen Dingen.

Weg zur effizienten Werkstatt

Um an dieses Effizienz-Optimum zu kommen, bietet der VSF unter anderem die Beratung, eine Werkstatt-Grundlagenschulung, aber auch eine Komplettplanung für die effiziente Werkstatt für Unternehmer, die neu eröffnen oder umstrukturieren wollen. Da geht es sehr detailliert zur Sache: »Wir beginnen mit einem Grundriss der Werkstatt, daraus wird ein 3-D-Modell aufgebaut mit der maßstabsgetreuen Einrichtung.« Verfügbarer Platz und Wege werden berechnet, dabei werden auch Faktoren wie eine spezielle Ausrichtung der Werkstatt, etwa auf große Lastenräder hin, einbezogen. Ein erster Vorschlag wird beim Videomeeting unterbreitet. »Ich werde aber auch immer wieder vor Ort gebucht«, so Witte. Vorhandene, kleine Räume sind manchmal eine Herausforderung, doch auch hier lässt sich meist mehr Effizienz gewinnen. In Sachen Facharbeitermangel sieht man beim VSF die Herausforderungen eher gelassen, zumindest wenn es um Optimierung von vorhandenen Werkstätten geht: »Effizienz schaffen ist immer besser als neue Mitarbeiter einstellen«, so Witte. //

22. Juli 2024 von Georg Bleicher

Verknüpfte Firmen abonnieren

VSF - Verbund Service und Fahrrad e.V.
Nur für Abonnenten
News
Nur für Abonnenten
Kommentare
Nur für Abonnenten
Stellenmarkt
Velobiz Plus
Die Kommentare sind nur
für unsere Abonnenten sichtbar.
Jahres-Abo
115 € pro Jahr
  • 12 Monate Zugriff auf alle Inhalte von velobiz.de
  • täglicher Newsletter mit Brancheninfos
  • 10 Ausgaben des exklusiven velobiz.de Magazins
Jetzt freischalten
30-Tage-Zugang
Einmalig 19 €
  • 30 Tage Zugriff auf alle Inhalte von velobiz.de
  • täglicher Newsletter mit Brancheninfos
Jetzt freischalten
Sie sind bereits Abonnent?
Zum Login