Newcomer auf der Eurobike
Startups bringen noch mehr Dynamik in die Branche
(…) alteingesessene Herstellern aller Art oft nicht schaffen: Echte Aha-Effekte beim Besucher. Die kreative Szene der Branche hat wohl seit der Erfindung des Mountainbikes keine so große Rolle mehr gespielt wie heute. Wo ein Markt stark wächst, ist umso mehr Platz für neue Ideen und alternative Lösungen. Die Eurobike bildet seit Jahren die Innovationsgeber mit einer eigenen Startup-Area unter den Herstellern ab. „In den letzten 10 Jahren hat sich die Szene stark entwickelt“, sagt auch Dirk Heidrich, Projektleiter bei der Eurobike. „Selbst manche Aussteller fragen nach Startups. Das Interesse an Innovation ist riesig. 2021 haben wir etwa 70 Newcomer-Stände.“
Felgen statt Flieger
Der Zugang der jungen Unternehmen zum Fahrrad ist ganz unterschiedlich. Hendrick Borgwardt und Arne Stahl kommen aus der Flugzeugentwicklung. Sie haben als langjährige Mitarbeiter beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt eine Technologie für ein automatisiertes Umformverfahren für Fasermaterial, also auch für Carbon entwickelt und patentieren lassen. Damit haben sie sich selbstständig gemacht und arbeiten mittlerweile mit fünf Angestellten. Einer davon ist sehr fahrradaffin und brachte die Idee ein, mit diesem Verfahren Fahrradfelgen zu bauen.
Carbonfasern werden gewöhnlich wie textil gelegt – also wie gewebt werden die Fasern unter- und über die sich kreuzenden gelegt. Die Herstellung ist aber wesentlich einfacher zu automatisieren, wenn man die Matten einfach multi-axial übereinanderlegt und dann vernäht – ein Verfahren, das Kosten einspart und bei gleicher Materialmenge leichtere Produkte ermöglicht. Die ersten Felgen aus dem Material stellten die beiden 2019 vor, heute gibt es bereits vier verschiedene Mountainbike-Felgen in Serie auf dem Markt. Das Modell für E-Bikes wurde beim Institut Zedler zertifiziert. Das „Erkennungszeichen“ der Felgen: Der weiße Nähfaden verläuft rundum sichtbar.
Laufrad-Hersteller können sich die Felgen farblich individualisieren lassen; sogar den Speichenwinkel kann man bei diesem Verfahren definieren – je nach verbauter Nabe. So erreichen die Felgen teils auch eine höhere Belastbarkeit als traditionell hergestellte Felgen.
Preislich liegen die Felgen in etwa auf Niveau vergleichbarer Modelle, der Einstieg liegt bei 449 Euro. Setzt sich das Unternehmen weiter am Markt durch, könnte der Preis nochmal deutlich sinken.
Der Markenname passt zu den beiden Herstellern: Lilienthal.
www.lilienthal.bike
Endlich: Das Schloss am richtigen Platz
Der Ingenieur Ulrich Preß kommt eigentlich aus dem IT-Vertrieb, hat aber mit 53 Jahren beschlossen, beruflich umzusatteln und ein uraltes Bike-Problem zu lösen: Wohin mit dem Schloss? „Auszusteigen und dann auf der Seite eines Entwicklers zu stehen, das war eine steile Lernkurve“, erzählt er. Aber auf der Eurobike 2021 kann er den Prototypen seiner Entwicklung präsentieren: Ein Schloss, das in der Sattelstütze transportiert wird. Ähnliche Ansätze – zum Teil mit dem Fahrradrahmen als Träger – gab und gibt es einige, doch bislang konnte keiner voll überzeugen. Beim Uplock, so Preß' Marke, wird ein kleiner, fein gearbeiteter Hebel am geschmiedeten Kopf der Sattelstütze geöffnet, der Kopf der Sattelstütze ein paar Millimeter aus einer Nut nach vorn geschoben und dann über ein Scharnier zur rechten Seite gekippt. Darunter kommt ein Schlüsselloch zum Vorschein. Mit einem Schlüssel vom bekannten deutschen Hersteller Dormakaba kann ein komplettes Faltschloss á la Bordo – allerdings mit etwas schmaleren Falt-Elementen – herausgezogen werden. „Wir haben besonderen Wert auf den Schließzylinder gelegt“, sagt Preß, was nutzt ein stabiler Schlosskörper, wenn der Schließzylinder selbst eine Schwachstelle ist. Durch eine spezielle Gliederung und eigene Faltanordnung passt das Schloss in die, in drei Durchmesser erhältlichen, Sattelstützen. Diese kommt von einem großen Komponentenhersteller aus Taiwan, der Rest soll hier in Deutschland produziert und montiert werden – auf der Eurobike laufen bereits Gespräche mit Unternehmen. Zur Finanzierung der Produktion soll im Oktober ein Crowdfunding stattfinden. www.uplock.de
Mit 200 Kilo Last die Kurve kratzen
Eine Startup-Area ohne Cargobike ist derzeit fast undenkbar. Besonderes Augenmerk verdient hier Gleam. Ein Team um den Wiener Mario Eibl baut mit dem Gleam ein dreirädriges Lastenrad, das ins Auge springt: Die vordere Hälfte sieht aus wie ein etwas zu kräftig geratener Tiefeinsteiger. Hinter dem Mittelmotor von Polini mit satten 90 Newtonmetern Drehmoment ist ein stufenloses Enviolo-Getriebe geschaltet. Doch dann wird’s richtig aufwendig: Über einen Riemen wird die Kraft auf ein Differentialgetriebe übertragen, und dieses treibt letztendlich die beiden Hinterräder an. Die wiederum sind nicht nur gefedert: Der Antrieb beider Räder über Gates-Riemen und die einzelne Aufhängung ermöglicht eine Neigetechnik und Geländegängigkeit. Tatsächlich legt man sich mit dem Gleam sehr entspannt in die Kurve. Beim Abstellen blockiert man diese Funktion, das Rad bleibt aufrecht stehen.
Entstanden ist das Rad aus verschiedenen Forschungsprojekten zum Lastentransport. Seit 2020 ist es auf dem Markt. Was Transport-Praktiker sicher ebenso interessiert, ist die Variabilität des neuen Modells Gleam Escape: Wer die Platte zwischen den Hinterrädern mit verschiedenen Modulen ergänzt, kann aus der Basis ein Flex.Work machen (mit Transportboxen), ein Flex.Cover (Planenaufbau) oder ein Flex.Life (ein Kastenaufbau mit zwei Kindersitzen und einem Kofferraum dahinter. Mittels Schnellverschlüssen können die einzelnen Anbauten tatsächlich innerhalb einer Minute getauscht werden. Der Gedanke dahinter: Der Handwerker kommt nach Feierabend nach Hause, wechselt den Aufbau und fährt direkt mit den Kids einkaufen. Kostenpunkt des Basis-Rads: Ca. 8.000 Euro.
www.gleam-bikes.com
Der autofreie Kofferraum
Nachhaltigkeit liegt im Fokus von Damien Corby. Der Straßburger hat mit seinem Kollegen Stephane Muteau den Fahrradanhänger Carette entwickelt, der tatsächlich einen Kofferraum ersetzen soll. Genauer: Einen abschließbaren Transportraum. „Das ist ein neuer Lebensstil für die City“, sagt er. „Familien, aber auch Geschäftsleute wie Fotografen haben mir viel positives Feedback gegeben“, erklärt Corby, „weil die Carette so einfach zu handhaben, aber abschließbar ist.“ Der Anhänger für den täglichen Gebrauch schafft 40 Kilo Nutzlast und hat 70 Liter Inhalt. „Keep it simple“ war eine Devise bei der Entwicklung des Anhängers. Das Ganze besteht aus einem Aluminium-Käfig, an dem an den vier Seiten und als Bodenplatte witterungsfeste Furnierholzplatten verschraubt sind. Unter dem Holzrahmen, der wie ein Bilderrahmen den Kofferraum von oben umrandet, hängt das eigentliche Behältnis, eine LKW-Plane. Sie kann – zum Beispiel zum Reinigen – per Schnellverschlüssen herausgenommen werden. Praktisch jedes einzelne Teil des Hängers ist demontierbar, die Verbindungen und das ganze Konzept machen einen sehr robusten und durchdachten Eindruck. Die Laufräder sind per Schnellspanner demontierbar.
Die Kombi aus Holz und Alu wurde nicht nur aus stilistischen Gründen gewählt: Der Alu-Rahmen ist so aufgebaut, dass er bei Fahrbahnstößen leicht dämpfend wirkt und im Gegensatz zu Modellen auf textiler Basis ist die Carette relativ einbruchsicher: Wer die Version mit Holzdeckel wählt, kann den Inhalt des Trailers oder Handwagen mit einem einfachen Vorhängeschloss sichern. Nachteil der Sicherheit ist das relativ hohe Gewicht von etwa 16 Kilogramm. Das Modell Original ist noch flexibler. Mit dem Familien-Einkaufsanhänger lassen sich dank hochklappbarer zusätzlicher Seitenwände auch noch zwei Wasserkästen oder sonstige größere Güter transportieren. „In der Fertigung denken wir industriell“, sagt Corby. Und nachhaltig: Fast alle Zulieferer sitzen im Umkreis von 30 Kilometern um Straßburg.
https://carette.bike
Mein persönlicher Griff
Lenkergriffe in verschiedenen Größen gibt es mittlerweile von mehreren Herstellern. Den ganz individuellen Griff will jetzt das Unternehmen Personomic anbieten: Er ist genau auf die Hand des Kunden zugeschnitten. Der Clou dabei ist, dass die Übermittlung der Maße rein virtuell funktioniert. „Eigentlich haben wir mit der ergonomisch individuellen Computermaus angefangen“, erklärt Christian Renninger, einer der Gründer von Personomic und IT-ler. „Doch dann hatten wir die Idee, dass das mit dem Fahrradgriff noch viel besser funktioniert.“ Der Gründer-Kollege schrieb seine Masterarbeit über die Ergonomie der Maus , und bekam dafür auch ein Stipendium. Mittlerweile hat Personomic mehrere Startup-Preise gewonnen. Doch wie kommt der Kunden nun zu seinem individuellen Griff? Grundlage sind Bilder seiner beiden Hände auf Din-A4-Blättern, die der Kunde dem Unternehmen schickt. Über die Größe des Blatts kann Personomic die Bilder skalieren und mit einer von Renninger weiterentwickelten Software lässt sich eine virtuelle Hand erstellen, die der Hand des Kunden gleicht. Damit wird der genau passende Griff gefertigt. Das bezieht sich auf die breite der Hand, den Abstand der Finger, aber auch andere Daten.
Mit einem 3-D-Drucker wird die Hülle des Griffs gedruckt. Später wird sie mit Silikon ausgegossen und nach dem Verhärten „geschält“.
Für die Handauflage stehen 20 verschiedene Oberflächenstrukturen zur Wahl. Und die Individualisierung geht noch weiter: Man kann sich auch den Namenszug in den Griff prägen lassen.
Studien eines Instituts der Universität Stuttgart bestätigten bereits, dass die Griffe beim längeren Fahren auftretende Druckspitzen an den Händen entschärfen können. Sie machen das Fahren komfortabler und können in vielen Fällen sogar Schmerzen lindern bis beseitigen. Bislang läuft die Produktion noch im Prototypen-Modus, doch der Übergang zur normalen Produktion – von einer Serie kann man ja bei Einzelstücken nicht sprechen – wird fließend. Vorerst will man auch am Druck vor Ort in der Stuttgarter Uni festhalten.
www.personomic.de
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