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Große Fensterfront, offene Produktion. Die (potenziellen) Kunden sollen sehen, wie bei XYZ gearbeitet wird
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Portrait - XYZ Cargo

Velos mit Vision

In Hamburg und Kopenhagen entstehen Lastenräder, die mehr bewegen möchten als nur ihre Besitzer. Ein Besuch bei XYZ Cargo.

Was kommt heraus, wenn ein Produkt-Designer und ein Künstler gemeinsam Lastenräder bauen? Bikes, die nicht nur optisch anders sind. Die beiden Gründer von XYZ Cargo, der Hamburger Designer Till Wolfer und der Kopenhagener Künstler Ion Sorvin, wollten nicht einfach noch ein Lastenrad bauen. Sie wollten ein Lastenrad bauen, das sich den sich ändernden Bedürfnissen seines Besitzers anpasst, das lokal, fair und nachhaltig produziert wird und einfach zu reparieren ist. Zu einem Preis, der günstiger ist als bei konkurrierenden Lastenfahrrad-Anbietern. Klingt utopisch? Ist es auch: »Konkrete Utopien« nennt Till Wolfer das, was in der 160 Quadratmeter großen, kombinierten Laden- und Werkstattfläche in Hamburger Innenstadtlage entsteht. »Utopien«, weil es sich bei den Rädern auch um Beispiele handeln soll, wie die Welt von morgen schon heute aussehen könnte. »Konkret«, weil die beiden Unternehmensgründer darüber nicht nur reden, sondern machen.

Funktion und Kommunikation

»Wir wollen eine ganz andere Denkweise vermitteln, vom Produkt-Design bis zum Vertrieb«, erklärt Till Wolfer den Ansatz der Marke XYZ Cargo, die es seit 2011 gibt. Die Lastenräder, die mit ihren kantigen Aluprofilen ein bisschen an einen Technik-Bausatz aus Jugendtagen erinnern, sollen bewusst anders aussehen als die Modelle anderer Hersteller. XYZ Cargo Bikes seien zu 50 Prozent Kommunikationsgegenstand, zu 50 Prozent Funktionsobjekt. »Wir achten sehr auf Ästhetik«, sagt Wolfer. Die Hälfte der mehrjährigen Entwicklungszeit sei nicht für die Funktion draufgegangen, sondern für die Frage, wie die Lastenräder ästhetisch kommunizieren, dass sie einfach, solide und lokal hergestellt sind.
Die Bikes sind modular zusammenstellbar: Ein Trike mit Transportbehälter könne ein Nutzer innerhalb von zwei Minuten zu einem mit Tisch, innerhalb von fünf Minuten zu einem mit Dach umrüsten. Selbst Foodbikes lassen sich so aufbauen. Technische Fähigkeiten sind nicht unbedingt notwendig. Obwohl ein großer Teil der Kunden durchaus technisch versiert ist: »Viele sind selbst Ingenieure oder Designer«, erzählt Till Wolfer. Eine weitere Zielgruppe sind Menschen, denen es wichtig ist, lokal und nachhaltig zu kaufen. Auch beim Fahrrad. »Oft benutzen wir alle Produkte, bei denen keiner genau weiß, wie sie hergestellt werden. Bei Nahrungsmitteln und auch teils schon bei Kleidung ist es mittlerweile ein Thema, wie sie hergestellt werden. Bei Transportmitteln nicht«, moniert der XYZ-Cargo-Chef und rechnet vor, dass rund 95 Prozent der Fahrräder, die man hier in Europa sieht, in Asien hergestellt würden. »Die werden alle mit einem großen Containerschiff hierhergebracht. Das ist nicht sonderlich ökologisch. Dennoch wird so getan, als sei ein Fahrrad ein rundum ökologisches Verkehrsmittel«, sagt er. Deshalb verwenden er und Geschäftspartner Sorvin möglichst nur Material, von dem sie wissen, woher es stammt und wie es hergestellt wird. Das Alu für den Rahmen beziehen sie zum Beispiel aus Skandinavien, wo es mit Wasserkraft hergestellt wird: »Aluminium ist zwar in der Herstellung nicht das ökologischste Material, aber von der Wiederverwertbarkeit top.« Schwieriger war es für die beiden Gründer, passende Komponenten aus europäischer Produktion zu finden. Mittlerweile haben sie aber ein Netzwerk an kleinen, lokalen Betrieben aufgebaut. Wolfer und Sorvin möchten weg vom großindustriellen Denken, dass man in Asien produzieren muss, um wettbewerbsfähig zu sein. »Obwohl wir faire Löhne zahlen und mitten in der Innenstadt Hamburgs mieten, sind wir zwar vielleicht im Herstellungspreis, nicht aber im Verkaufspreis teuer als Bikes aus Asienproduktion«, ist Wolfer überzeugt.

Den Wasserkopf abschaffen

Das sei möglich, weil XYZ Cargo lokal produziert, auf kurze Wege mit weniger Zwischenstationen setzt. Alles soll direkter, transparenter, übersichtlicher sein. So erfolgt die Distribution hauptsächlich über Direktvertrieb oder ausgewählte Zwischenhändler in Süddeutschland, Österreich, der Schweiz, Belgien oder Frankreich. Die große Schaufensterfront im Hamburger Geschäft, hinter der für Passanten gut sichtbar produziert wird, soll Vertrauen schaffen und direkten Kontakt zu potenziellen Kunden herstellen. Die meisten bestellen ihr Lastenrad jedoch online. Die Lieferzeit beträgt für gewöhnlich um die zwei Wochen, im Sommer kann es etwas länger dauern. »Wir haben gerade richtig viel zu tun und müssen echt abarbeiten«, freut sich Wolfer, bei dem 70-Stunden-Wochen inzwischen eher Regel als Ausnahme sind, aber: »Das ist keine klassische Arbeit, sondern eher produktives Tätigsein. Es ist sehr sinnstiftend«, sagt er. So hat er unter anderem schon E-Mails von Menschen bekommen, die nach der Lektüre der Firmenwebseite ihr Leben hinterfragt haben, oder zumindest, ob sie weiter angestellt sein möchten.

Anderer Anspruch, gleiches Bike

Ob sich das Leben nun gleich so drastisch ändert oder einfach nur die Kinder so groß werden, dass man keinen Sitz mehr vorn im Lastenrad für sie braucht: XYZ Cargo Bikes sollen verschiedene Lebens- und auch Alltagsphasen mitmachen. Über Jahrzehnte hinweg. Die einzelnen Streben sind miteinander verschraubt statt geschweißt und lassen sich so einfach umrüsten. Zudem lassen sich auf diese Weise die Aluprofile der Räder auch separat austauschen. Bei einem Schaden muss also nicht das ganze Bike, sondern nur ein Teil ersetzt werden: »Im Fahrradbereich herrscht noch immer die gleiche Denke vor wie in der Automobilbranche: Es gibt ein fertiges Produkt und wenn es nicht mehr passt, kauft man das nächste. Wir haben uns überlegt, dass die Komponenten so langlebig sind, dass sie eigentlich ein Leben lang halten, nur ändert sich eben oft die Nutzungsart. Deshalb sollte man die Möglichkeit haben, das Rad anzupassen«, beschreibt Till Wolfer den Ansatz. Tatsächlich sei es so, dass viele Kunden nicht zurückkommen, weil etwas kaputt ist, sondern weil sie etwas umbauen lassen möchten. Dennoch lebt XYZ Cargo aber vom Neuverkauf. Der findet, neben online und über die ausgewählten Handelspartner, an den Standorten in Hamburg, Kopenhagen und langsam auch in verschiedenen Filialen von Lizenznehmern statt. Eine gibt es schon im österreichischen Wien, eine weitere baut ein Partner gerade in den USA auf. An den drei aktiven Produktionsstandorten werden derzeit je 250 Lastenräder pro Jahr verkauft. 80 Prozent davon sind eines von mittlerweile sechs Standard-Modellen. Diese warten vormontiert im Lager und werden dann nach Kundenbestellung individuell aufgebaut.
Der Grund für die verstreuten Produktionsstätten: Die Nachfrage aus dem Ausland wurde größer – und die Gründer von XYZ-Cargo wollen nicht in die Falle tappen, unökologisch lange Transportwege nun anders herum nutzen zu müssen. Auch in diesem Lizenz-Ansatz zeigt sich die Fairness, die dem Firmenkonzept zugrunde liegt: Wolfer und Sorvin helfen den neuen Partnern beim Aufbau des Geschäfts, erheben eine Lizenzgebühr aber erst ab einer gewissen Anzahl an produzierten Rädern, also wenn im gewinnbringenden Bereich gearbeitet wird. Wer möchte, kann sich als Privatperson für den Eigenbedarf auch den Bauplan für eines der Radmodelle kostenlos aus dem Internet herunterladen und sich sein eigenes XYZ-Cargo-Bike aufbauen. »Den meisten ist das aber zu komplex«, räumt Wolfer ein.

Fair und geradlinig

Eher nehmen Menschen, die sich ihr Lastenrad selbst zusammenschrauben möchten, an einem der drei bis vier Workshops teil, die übers Jahr verteilt angeboten werden. Drei Tage lang bauen die Teilnehmer dann im Dreier- oder Vierer-Team ein Cargobike auf. Manchmal sind es Hausgemeinschaften, die das Rad dann auch zusammen nutzen möchten. Eine weitere Komponente in einem Konzept, das in seiner Gesamtheit so rund und nach vorn gedacht ist, dass es auffällt. So buchen auch großen Firmen wie VW beispielsweise Workshops bei XYZ Cargo. Selbst über Landesgrenzen hinaus erzielen die Hamburger große Aufmerksamkeit: Das Unternehmen ist in einem EU-Studienprojekt Best-Practice-Beispiel für Distributed Manufacturing, also an kleine Handwerksbetriebe verteilte Fertigung. Das ist schmeichelhaft, doch was auch immer die beiden Gründer tun, sie möchten sich »noch im Spiegel anschauen können. 50.000 Euro mehr auf dem Konto zu haben für irgendein komisches Projekt, das wäre es mir nicht wert«, sagt Wolfer. Glücklicherweise muss er auch nicht zu allem »Ja« sagen. Denn XYZ Cargo finanziert sich komplett allein, Kredite mussten die beiden Gründer nie aufnehmen – was wiederum den Druck reduzierte, verkaufen zu müssen, um Schulden abbezahlen zu können. »Wir waren nie in einer Situation, in der wir die Leute von etwas überzeugen mussten, was sie eigentlich nicht haben wollen.« Diese ehrliche Herangehensweise und das Erklären, warum es gut ist, auf einem Fahrrad zu sitzen, kommt an. Bei Kunden ebenso wie bei (potenziellen) Partnern: »Wir sind noch nie über den Tisch gezogen worden«, berichtet Wolfer. Vielleicht auch, weil »wir versuchen, uns aus dem klassischen Fahrradgeschäft rauszuhalten, wo oft mit harten Bandagen gekämpft wird.« Dennoch können sich die beiden XYZ-Gründer wehren, wenn es drauf ankommt: »Wenn jemand denkt, er kann uns eins zu eins kopieren, werden wir bissig«, beschreibt Wolfer einen solchen Fall. Die Fairness, die sie entgegenbringen, erwarten sie auch von anderen. Wolfer und Sorvin wollen nicht unter allen Umständen gefallen. Und das müssen auch ihre Räder nicht: »Manche stehen nicht auf die sehr technische Optik«, sieht Wolfer das pragmatisch. »Aber für die gibt es andere Hersteller.«

5. August 2019 von Carola Felchner
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