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Die ersten Pedelecs überhaupt baute der Basler Michael Kutter: Der blaue Prototyp gewann die Elektrofahrzeug-Rally Tour de Sol, und mit dem vollgefederten Velocity startete die kommerzielle Fertigung.
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Report - Schweizer E-Bike-Pioniere

Wer hat’s erfunden?

Pioniere und Profiteure sind in der Technikgeschichte nicht immer dieselben. Die Geschichte der drei Schweizer Pedelec-Wegbereiter Dolphin, Flyer und Stromer zeigt, welche Tücken die Vorarbeit birgt, aber auch, wie sie gemeistert werden können.

Der Markt kennt keinen Dank. Die Geschichte hat in den letzten 200 Jahren immer wieder bewiesen, dass nicht alle Erfinder mit wirtschaftlichem Erfolg für ihre visionären Ideen belohnt werden. Auch in der Fahrradindustrie gibt es verschiedene Beispiele dafür. Wer erinnert sich heute noch an Pierre Caminade? Der Franzose baute bereits in den 1930er Jahren Rahmen aus Aluminium und drückte damit das Gewicht seiner Rennräder unter sieben Kilogramm. Den Durchbruch schaffte das neue Rahmenmaterial aber erst rund 50 Jahre später, und profitieren können davon hauptsächlich Fabrikanten in Fernost, die sich weniger mit Erfindungsreichtum, dafür aber mit preiswerter und präziser Fertigung empfehlen.
Es ist daher nicht erstaunlich, dass auch die Pioniere des Pedelecs nicht zu den großen Profiteuren des Erfolgs dieser Fahrradklasse gehören. Der europäische Markt wird heute geprägt von Antriebsherstellern und Pedelec-Anbietern, die nicht von Anfang an dabei waren. Praktisch alle bauen auf die Vorarbeit von drei Schweizer Pionieren. Der Werdegang von Dolphin, Flyer und Stromer zeigt beispielhaft, dass wegweisende Ideen und sogar frühe Verkaufserfolge für den langfristigen Markterfolg nicht reichen. Zumindest bei zwei der drei Wegbereiter zeigt sich aber auch, dass für Pioniere durchaus Platz ist im Markt. Vorausgesetzt, dass sie sich und ihre Produkte weiterentwickeln.

Dolphin – das Fundament des Erfolgs

2017 wird es 25 Jahre her sein, dass erstmals ein Pedelec im heutigen Sinne in den Handel kam. 1992 baute der Basler Tüftler Michael Kutter eine erste Kleinserie von Fahrrädern mit elektrischem Hilfsantrieb und taufte sie auf den Namen Velocity Dolphin. Der Clou des selbst entwickelten Systems war die Steuerung: Der Motor setzte erste ein, wenn der Fahrer in die Pedale trat und die Tretunterstützung blieb abhängig davon, wie viel Antriebsenergie der Pedalierende selbst aufbrachte. Das war damals einzigartig, denn bei allen bisherigen Fahrrädern mit Zusatzantrieb musste der Motor von Hand zugeschaltet und gesteuert werden. Diese Innovation kam nicht nur bei den Nutzern gut an. Sie gilt heute europaweit vor dem Gesetz als entscheidendes Konstruktionsmerkmal von Pedelecs. Bald begannen andere Konstrukteure, ähnlich angesteuerte Antriebe zu bauen. Das war einfach, denn der Dolphin-Erfinder hatte zwar seine eigene Konstruktion zum Patent angemeldet, nicht aber das grundlegende Prinzip der tretkraftabhängigen Motorleistung. Schon ein Jahr nach der Lancierung des Dolphins wurde das Pedelec erstmals mit Markterfolg geadelt: 1993 stellte Yamaha die PAS-Serie auf dem japanischen Heimmarkt vor, wo es rasch zu Zehntausenden verkauft wurde.
In Europa ließ der Durchbruch bekanntlich länger auf sich warten. Als die Nachfrage nach der Jahrtausendwende langsam anzog, schien Kutter anfangs noch mithalten zu können. Noch 2010 ließ der Dolphin im Test von Extra Energy die anderen Teilnehmer in der Kategorie Business Pedelec hinter sich. Diesen Sieg und andere prestigeträchtige Referenzen konnte Dolphin aber nie in wirtschaftlichen Erfolg ummünzen. »Wir waren zu klein und wollten zu viel«, zieht Simon Weishaupt heute nüchtern Bilanz. Der Ingenieur hatte während mehr als zehn Jahren bei Dolphin eng mit dem Erfinder zusammengearbeitet. »Wir haben die vielen Spezialkomponenten für den Dolphin selbst entwickelt und einige davon auch im Haus gebaut. Dazu kam die Montage der kompletten Pedelecs, der Verkauf an Kunden in verschiedenen Ländern und der Service. Für ein Kleinunternehmen waren das zu viele Aufgaben zugleich.« Die Folge war, dass immer wieder etwas liegen blieb oder nicht ausgereift auf den Markt kam. Dolphin verärgerte mit monatelangen Lieferengpässen oder technischen Problemen selbst treue Kunden.
Kutter ging zwar immer wieder Partnerschaften mit anderen Unternehmen ein, um den Dolphin groß herauszubringen. »Letztendlich scheiterten diese aber daran, dass Michael die Fäden nicht aus der Hand geben wollte«, erinnert sich Weishaupt. Der Erfinder folgte seinen eigenen Idealen und vernachlässigte dabei auch Kundenwünsche. Das sehnlichst erwartete Modell mit Tiefdurchstieg, die »Dauphine«, wurde als Prototyp erst auf der Eurobike 2012 vorgestellt. Irgendwann verloren nicht nur Geschäftspartner und Kunden die Geduld mit Dolphin, sondern auch die Bank. Sie kündete dem Unternehmen den Betriebskredit, worauf Dolphin 2014 Konkurs anmelden musste. Der wirtschaftliche Schiffbruch traf Kutter schwer, doch er tüftelte privat weiter an Verbesserungen seiner Erfindung. Beim bevorstehenden Jubiläum des Pedelecs kann Kutter aber nicht mehr mitfeiern: Er starb im April 2015 an den Folgen einer Krebserkrankung. Da er viele Ideen und Konzepte zu seinem Pedelec nur in seinem Kopf gespeichert hatte, bestehen kaum noch Hoffnungen auf eine Wiedergeburt seiner Pioniermarke.

Flyer – Der Mehrheitsmacher

Noch bevor Flyer richtig durchstartete, drohte dem Unternehmen einst das gleiche Schicksal wie Dolphin. 2001 schlitterte der damalige Hersteller BK Tech in die Insolvenz. Zuvor hatte der mit Hilfe einer Investorengruppe um den BMC-Inhaber Andy Rihs entwickelte Hightech-Flyer, die so genannte F-Serie, die ehrgeizigen Absatzerwartungen nicht erfüllen können. Als Folge davon zogen sich die enttäuschten Geldgeber so schnell zurück, wie sie zwei Jahre zuvor eingestiegen waren, und überließen Flyer dem Schicksal. Dass die Marke nicht in der Versenkung verschwand, war Kurt Schär zu verdanken. Der charismatische Anpacker war wenige Monate vor der Pleite als Geschäftsführer eingestiegen. Das war zu spät, um das Steuer noch herumreißen zu können, doch es reichte, um ihn vom Potenzial des Pedelecs zu überzeugen. Mit drei Partnern überführte Schär Flyer in die neue Biketec AG und verpasste der Marke nach einer gründlichen Marktanalyse eine neue Ausrichtung. Das Ergebnis war die C-Serie, welche 2003 vorgestellt wurde. Dieses Modell brach so ziemlich mit Allem, was Flyer und Elektrofahrräder bisher ausgemacht hatte. Als Erstes verzichtete die neue Flyer-Crew auf den Motor aus eigener Fertigung. Stattdessen führte Flyer die heute übliche Arbeitsteilung ein und setzte als erster europäischer Hersteller auf ein Antriebssystem, das komplett von einem spezialisierten Zulieferer gebaut wurde. Panasonic lieferte eine ausgereifte Einheit von Motor, Steuerung und Akku. »Der Antrieb passte perfekt zum C-Flyer, den wir als praktisches, unkompliziertes und verlässliches Fahrzeug positionierten«, erzählt Schär. Im Vergleich zur durchgestylten F-Serie, die Flyer zuvor beinahe die Zukunft gekostet hatte, kam das neue Pedelec bieder daher. »Es war nicht sexy, dafür bereichernd für die angepeilte Kundengruppe«, hält Schär fest. Diese ortete er in der damals in der Fahrradindustrie noch wenig beachteten Generation 50 Plus. Die war zahlungskräftig genug, um sich ein Pedelec leisten zu können und offen für genussvolle Erlebnisse, die ihnen das »Fahrrad mit eingebautem Rückenwind« bot.
Um diese Leute anzusprechen, brach Flyer gleich nochmals mit einer Tradition. Statt sich bei der Vermarktung auf Händler und Fachmedien zu verlassen, suchte der Pedelec-Hersteller den direkten Kontakt zur Käuferschaft. An unzähligen Ausstellungen, wo Flyer oft der einzige Vertreter aus der Fahrradindustrie war, baute man Berührungsängste zur neuen Fahrzeuggattung ab, indem man Interessenten ausgiebig und unverbindlich Probe fahren ließ. Als äußerst wirksam erwiesen sich Kooperationen mit der Tourismusbranche. »Wer im Urlaub ein E-Bike über mehrere Tage nutzen kann und so seine Vorzüge schätzen lernt, will oft auch zu Hause nicht mehr darauf verzichten«, folgert Kurt Schär. Blickt man auf die steigende Zahl von Testmöglichkeiten fürs breite Publikum an Fahrradevents, so hat Flyer damit nicht nur einen Trend im Pedelec-Markt gesetzt.
Die Rechnung ging auf, und schon bald wollten mehr Kunden einen Flyer kaufen, als das Unternehmen fertigen konnte. Bis 2011 stieg der Absatz von knapp 1000 auf über 50.000 Stück pro Jahr rasant an. Für den heutigen Chefentwickler Ivica Durdevic ist es klar, dass für ein junges Unternehmen wie Flyer eine solches Wachstum bei der Nachfrage viel schwerer zu bewältigen war als für andere Fahrradhersteller, die bald auch auf das Pedelec setzten. »Etablierte Unternehmen hatten den Vorteil, dass sie auf bestehende Produktionskapazitäten und definierte Prozesse zurückgreifen konnten, um der steigenden Nachfrage nach Pedelecs gerecht zu werden. Bei Flyer mussten wir beides zuerst aufbauen.« Als der Pedelec-Boom 2011 einen ersten Höhepunkt erreichte, holte Schär deshalb Investoren an Bord. Die Schweizer Beteiligungsgesellschaft EGS brachte nicht nur das notwendige Kapital mit für die Weiterentwicklung des Geschäfts ins Haus, sondern auch neue Führungskräfte und Ideen, wie das stark gewachsene Unternehmen organisiert und geführt werden kann. Nachdem mit den Investoren die langfristige Fortführung des Unternehmens gesichert war, zogen sich die Pioniere rund um Kurt Schär aus dem Unternehmen zurück. Dieser nimmt seinen Abschied nach 14 intensiven Jahren bei Flyer gelassen: »Für den Aufbau eines Marktes braucht es andere Qualitäten als in einem etablierten und hart umkämpften Markt. Meine Gründungspartner und ich waren uns dessen bewusst und konnten mit der Gewissheit kürzertreten, dass tüchtige Leute unsere Arbeit fortsetzen.«
Der frische Wind, den die neuen Inhaber ins Unternehmen brachten, hat unterdessen auch seine Spuren im Sortiment hinterlassen: 2017 will Flyer seine Innovationskraft mit der selbst entwickelten Steuerungseinheit FIT wieder unter Beweis stellen. »FIT ermöglicht eine individuelle Abstimmung des Antriebs auf den jeweiligen Einsatzbereich des Pedelecs, und es vernetzt mehr Bauteile als nur den eigentlichen Elektroantrieb miteinander«, beschreibt Durdevic die Eigenschaften des neuen Systems. Der oberste Innovationsverantwortliche ist überzeugt, dass damit das nächste Kapitel in der Entwicklung des Pedelecs anfängt: »Mit FIT bewegen wir uns auf dem Integrationslevel, wie es in der Automobilindustrie üblich ist. Dadurch können wir dem Kunden einen spürbaren Mehrwert bieten, den sie bei Pedelecs mit zugekauften Standardbauteilen nicht finden.«

Stromer – Vom E-Bike zum D-Bike

Was Flyer beinahe die Zukunft gekostet hat, wurde zum Erfolgsrezept von Stromer: Schicke, schnelle Pedelecs für den urbanen Gebrauch. 2008 schien Thomas Binggeli die Zeit dafür reif zu sein, und er lancierte sein eigenes Fahrzeugkonzept. Anders als andere Pedelec-Pioniere konnte er dabei bereits auf langjährige Erfahrung in der Fahrradbranche zurückgreifen. 1991 hatte er als 17-jähriger begonnen, mit Fahrrädern zu handeln. Seit 1999 baut und verkauft er unter der Marke Thömus (sein Spitzname im heimischen Berner Dialekt) Fahrräder und verkauft diese direkt an Endkunden. Dass der bis dahin eng mit dem Mountainbike verbundene Binggeli plötzlich auf Pedelecs setzte, überraschte manche Wegbegleiter. Doch Binggeli hatte mehr im Sinn als einfach ein weiteres Elektrofahrrad im Stil des damals prägenden C-Flyers. »Ich habe mir überlegt, wie ein Elektrofahrrad sein muss, damit es meine Freunde und ich selbst im Alltag nutzen, um von A nach B zu gelangen«, erzählt Binggeli.
Neben dem sportlich abgestimmten Motor war es vor allem die Optik, die den Unterschied machte: Auf den ersten Blick sah der überraschende Wurf von Binggeli nicht viel anders aus als ein schlichtes Stadtrad ohne Zusatzantrieb. Das verdankte es dem Akku, den Binggeli dezent ins Unterrohr des Diamantrahmens packte. Anders als bei anderen frühen Versuchen der Akku-Integration ließ sich der Stromspeicher trotzdem mit wenigen Handgriffen entnehmen. Zudem wählte der Fahrrad-Unternehmer mit gutem Gespür für Marketing den eingängigen Produktnamen Stromer und erfand frische Slogans wie »Weil die Schweiz keine Autos baut«, um die Aufmerksamkeit der angepeilten Käuferschaft zu gewinnen. Im Heimmarkt, aber auch im Ausland, insbesondere in den USA, fand das schnelle, schöne Rad viel Beachtung. Beste Werbung war auch, als Fotos von Leonardo di Caprio bei privaten Fahrten mit dem Stromer durch die Medien gingen.
Binggelis Vision eines Pedelecs für ein anspruchsvolles urbanes Publikum war damit aber noch nicht erfüllt. Seine Idee konsequent umsetzen konnte er erst, nachdem er Stromer vor fünf Jahren in die BMC-Gruppe integrierte und gleich selbst in die Führung des Schweizer Velokonzerns wechselte. Mit der finanziellen Unterstützung des Hauptaktionärs Andy Rihs konnte sich die junge Marke besser weiterentwickeln, als es unter dem Dach der kleinen, regional aktiven Direktverkaufsmarke Thömus möglich gewesen wäre. Stromer konnte nun einfacher ein internationales Vertriebsnetz aufbauen und das Pedelec auf die nächste Entwicklungsstufe heben. Diese wurde 2014 als ST2 lanciert und bot eine bis dahin nicht dagewesene Vernetzung von Pedelec-Technik und Informationstechnologie. Dank Anbindung an GSM-Mobilfunknetz, GPS-Sender und Bluetooth-Verbindung bietet der neue Stromer unter anderem eine elektronische, übers Handy aktivierbare Motorensperre und einen Ortungsdienst als Schutz vor Dieben. Auf dem persönlichen Smartphone können Stromer-Besitzer Fahrdaten abrufen und die Konfigurationen des Antriebs anpassen. Zudem erlaubt das System Servicetechnikern, bei Bedarf drahtlos von überall her auf das Pedelec zuzugreifen. Für die Fehleranalyse oder ein Software-Update der Stromer ST2 braucht es keinen Werkstatt-Termin mehr.
Mit dem aktuellen Modell habe er seine ursprüngliche Vision erfüllen können, sagt Binggeli nicht ohne Stolz: »Mit dem ST2 haben wir in Design, Funktionalität und Vielseitigkeit das iPhone unter den Pedelecs gebaut«. Dass heute immer mehr andere Hersteller den Akku ebenfalls optisch in den Rahmen integrieren und seinem Beispiel folgend ihre Pedelecs mit digitalen Zusatzfunktionen aufrüsten, nimmt Binggeli gelassen. »Viele Fahrradfirmen bauen E-Bikes, und rüsten dabei einfach ihre Fahrräder mit einer Auswahl von elektronischen Funktionen auf, die nebeneinander laufen. Mit dem Stromer sind wir einen Schritt weiter, weil wir die verschiedenen Bauteile miteinander und die Mobilität mit der Informationstechnologie verbinden. Solche Velos sind keine E-Bikes mehr, sondern D-Bikes: Digitale Fahrräder. Das ist die nächste, konsequente Entwicklungsstufe, und mit Stromer spielen wir hier ganz vorne mit.«

9. Oktober 2016 von Urs Rosenbaum
Velobiz Plus
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