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Kommentar

Wir brauchen eine Wende im Denken!

Ein Kommentar von Reiner Kolberg

Die Diskussion der vergangenen Monate um Schadstoffe und Grenzwerte lässt auch mich das eine oder andere Mal etwas ratlos zurück. Gesund oder gefährlich? Wann und für wen? Wem kann oder soll man glauben?
Vor dem Hintergrund drohender »unverhältnismäßiger« Fahrverbote (so die Bundesregierung und der Verkehrsminister) kommt man schon ins Grübeln, ob das alles so richtig ist mit der EU und der »Deutschen Umwelthilfe«. Andererseits: Sind wir nicht verpflichtet, alles zu unternehmen, um, wenn schon nicht das Klima, dann wenigstens die Gesundheit der Bevölkerung inklusive der Schwächsten oder stark Betroffenen zu schützen?
Inzwischen scheinen die harten Fakten weitgehend geklärt. Es bleibt also die Frage nach der Güterabwägung. Oder doch nicht? Der österreichische Verkehrsexperte Hermann Knoflacher wirft der Politik seit langem Rechtsbeugung vor. Komplexe technische Systeme, wie der Verkehr, entzögen sich grundsätzlich einer einfachen Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Umso wichtiger sei es den Menschen grundsätzlich nach Möglichkeit vor schädlichen Auswirkungen zu schützen, so schreibt er in dem im Jahr 2013 erschienen Buch »Virus Auto. Die Geschichte einer Zerstörung«. Es gebe schlicht keinen Spielraum für Güterabwägungen, denn »Der Wert des Lebens und der Gesundheit sind nicht ersetzbar.«
Eine für Radfahrer und Fußgänger wichtige Aussage zum keineswegs beliebigen Wertekanon machte kürzlich auch der Leiter der Unfallforschung der Versicherer (UDV) Siegfried Brockmann in einem Interview mit der Zeitschrift »Bike Bild«. Die Regierungsparteien hätten sich in ihrem Koalitionsvertrag dem Ziel der Europäische Union »Vision Zero« angeschlossen, nach der die Zahl der Verkehrstoten Richtung Null reduziert werden soll. Wenn man es ernst nähme, dann bedeute das vereinbarte Ziel »Im Zweifel für die Sicherheit«. Damit sei »ein Paradigmenwechseln« verbunden, »den man gar nicht hoch genug schätzen« könne, denn seit dem Zweiten Weltkrieg gelte das Primat der Flüssigkeit und Leichtigkeit des Verkehrs. »Sicherheit ja, aber den Autoverkehr dabei nicht behindern.«
Jeder, der die Diskussion der vergangenen Monate mitverfolgte, kann sich, trotz vielleicht gespaltener Meinung zu Detailfragen, sicher nicht des Eindrucks erwehren, dass die Güterabwägung seitens der Politik weiterhin pro Auto erfolgt: Selbstabschaltende Abgasreinigungssysteme werden gebilligt, aber vermeidbare gesundheits- und klimaschädliche Emissionen weiterhin in Kauf genommen. Partielle Einschränkung der Freiheit (Stichwort Tempolimits) werden als »gegen den gesunden Menschenverstand« gebrandmarkt, auch wenn sie wohl nicht nur Emissionen senken, sondern auch Menschenleben retten würden. Und bei steigenden Unfallzahlen und Getöteten im Rad- und Fußverkehr wird eine höhere Helmtragequote und eine bessere Befolgung der Regeln für die Opfer angemahnt, statt Abbiegeassistenten für Lkws verpflichtend in Innenstädten einzuführen und sichere Rahmenbedingungen zu schaffen.
Ich meine, es ist mehr als bedenkenswert, wenn die Belange des motorisierten Verkehrs und der Autolobby trotz Alternativen weiter über den Schutz der Gesundheit gestellt werden. Sie bedeuten einen Schlag ins Gesicht nicht nur für Kinder und Asthma- oder Allergiegeplagte, die einen großen Teil der Bevölkerung ausmachen, und senden darüber hinaus auch ein fatales öffentliches Signal gegen alles, was den (Auto-)Verkehr behindern könnte. Also auch gegen den Fuß- und Radverkehr.
Kein Wunder also, dass sich Auto-, Lkw- oder Busfahrer, Verkehrsplaner, Politik, Polizei und Gerichte weiterhin schwer tun, die ungeschützten Verkehrsteilnehmer und ihre Rechte wirklich ernst zu nehmen.
Was wir meiner Meinung nach brauchen, sind keine Diskussionen um Grenzwerte und Fahrverbote, sondern einen neuen, zeitgemäßen Wertekanon und damit nicht weniger als eine Wende im Denken. Es gilt also noch, dicke Bretter zu bohren für mehr, vor allem aber auch gesunden und sicheren Radverkehr. Dann klappt das auch mit dem Fahrradboom sowie steigenden Absatzzahlen, auf die die Branche schon seit Jahren wartet.

1. April 2019 von Reiner Kolberg
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