Interview - Dr. Hans Dohrmann / Raid Naim
»Wir sind Fachhandel. Nur in digitaler Form.«
Welchen Anteil können Unternehmen wie Internetstores dazu beitragen, dass die Mobilität der Zukunft besser aussieht?
Raid Naim: Wir haben aktuell ein Mobilitätsprodukt. Zukünftig steht bei uns im Fokus, auch Mobilitätsservices mit anzubieten, so dass etwa für die kürzeren Strecken neben dem Auto auch Fahrräder gemietet werden können. Dazu haben wir diese Räder smart gemacht, also dafür gesorgt, dass man durch ein IoT-Setup fortan connected ist. Das bedeutet, dass der Nutzer integriert wird in die Mobilitätsumgebung. So denken wir. Genau diese Art von Konnektivität am Fahrrad wollen wir mit betreuen. Digitalisierung, wie wir sie verstehen, ist nicht nur digitales Marketing, sondern die digitale Befähigung von neuen Services, die manchmal in Richtung Mobilität gehen, manchmal auch in Richtung Gesundheit, Fitness und so weiter. Auch das wird ja alles durch die neue IoT-Technologie ermöglicht.
Weil Sie sagten »Digitalisierung, wie wir sie verstehen« – wie verstehen Sie Digitalisierung?
Naim: Es gibt ja verschiedene »Geschmacksrichtungen« von Digitalisierung. Da gibt es beispielsweise die klassische Prozessdigitalisierung mit dem Ziel, weniger Papier zu haben und mehr übers Internet abzuwickeln. Das ist eine Richtung. Was wir aber darunter verstehen, ist der moderne Ansatz, dass man die Technologie richtig nutzen muss, um neuen Mehrwert zu schaffen und so das ganze Unternehmen weiterzubringen. Es bedeutet, dass wir nicht mehr nur Fahrräder kaufen und verkaufen, was an sich ein großer Mehrwert ist, sondern fragen, was danach noch möglich ist. Wie kann ich danach noch weiteren Mehrwert in Form von Mobilität, Fitness, Gesundheit schaffen? Das geschieht durch Technologie und die neue Art, Services zu bauen. Die Digitalisierung ist nicht nur die Technologie an sich, sondern auch die Frage, wie ich den Kunden neue Erfahrungen ermöglichen kann. Das ist genau die Digitalisierung, wie wir sie verstehen.
Was wurde denn heute gelauncht?
Dr. Hans Dohrmann: Eine Mischung aus Hardware und Software, die prinzipiell jedes Bike smart machen kann. Die Hardware im Bike wird mit einer App verbunden. Zu Beginn starten wir mit Basic Services wie automatischer Notruf, Kollisionsalarm, Diebstahlschutz, Tracking. Das sind die Basisthemen am Anfang. Da können wir in der Zukunft immer weiter aufbauen, wie es etwa auch Tesla macht. Alle Sensoren sind bereits verbaut. Das haben wir heute vorgestellt, aber wir wollen noch lernen und mit kleinen Stückzahlen anfangen, um dann zu skalieren.
Naim: Wenn wir sagen »in Zukunft auch mit Bio-Bikes«, dann sind damit nicht Jahre gemeint. Es geht eher um Monate. Zu Beginn macht es uns das E-Bike natürlich einfacher, da Strom immer mit an Bord ist. Der Ansatz ist, dass wir als großer digitaler Fachhändler, der mehrere Hunderttausend Räder im Jahr verkauft, mit den entsprechenden Providern zusammenarbeiten und Chips herstellen lassen, die alle Arten von Fahrrädern dann smart und »always connected« machen können.
Wie navigiert Internetstores bei Hunderttausenden verkauften Fahrrädern und E-Bikes durch die aktuelle Lieferproblematik? Wie hat sich die Zeit während Corona entwickelt?
Dohrmann: Ich will es jetzt weder dramatisieren noch herunterspielen. Ich würde sagen, wir sind bisher recht ordentlich da durchgekommen, weil wir schon ziemlich früh erkannt haben, dass es so kommen würde, wie es kam. Wir haben uns daher eher antizyklisch verhalten. Als alle ihre Ordern storniert haben, haben wir sie hochgefahren. Wir haben unseren Partnern gesagt: »Wenn jemand etwas storniert, bucht das auf unseren Account.« Das war natürlich eine gewisse Wette, aber mit gut kalkuliertem Risiko. Wir haben ohnehin eines der größten Bike-Lager der Welt und mit der Signa Sports United eine leistungsfähige Mutter, womit wir in Finanzierungsfragen besser aufgestellt sind als jeder andere Marktteilnehmer. So konnten wir viel auf Lager nehmen für Phasen, in denen die Lieferkette nicht richtig funktioniert. Deshalb konnten wir sehr, sehr lange Zeit eine top Customer Experience aufrechterhalten. Jetzt, wo langsam auch bei uns weniger im Lager verfügbar ist, wird graduell auch die Lage auf dem Weltmarkt wieder etwas besser. Aktuell gewöhnt sich der Markt an die neue Situation. Ich finde, wir haben es ganz ordentlich gemacht.
Klartext: Wenn das Lager vor Corona voll war und bei 100 Prozent – wo steht ihr jetzt?
Dohrmann: Ich würde das eher vom Kunden her beantworten: Aktuell können wir ca. 70–75% der Kundenanliegen unproblematisch bedienen. Wir waren nie an einem Punkt, wo wir eine wirklich schlechte Customer-/User-Experience hatten. Wir haben weiterhin gute Wachstumsraten. Es könnte natürlich noch viel besser sein, es könnte aber auch viel schlechter sein.
Die meisten Prognosen gehen von einer Normalisierung der Liefersituation ab 2023 aus. Geht es doch schneller?
Dohrmann: Wir bemerken eine graduelle Entspannung. Das bedeutet ja nicht, dass es wieder so ist wie vor 2020. Für uns reicht es zu sehen, dass sich die Branche insgesamt »zur Decke streckt«. Es wird derzeit nicht unbedingt dadurch besser, dass mehr Ware hergestellt oder transportiert wird, eher durch bessere Vernetzung der Marktteilnehmer und Partner und mehr Transparenz sowie schnell besser werdende Prozesse etc. Zur Gewöhnung gehört ja nicht nur, dass sich die Lage verbessert, sondern auch, dass man besser mit ihr umgeht.
Wenn sich der Markt schneller als erwartet normalisiert, könnte das zu einer Blasengefahr führen? Könnte der Markt zu einem Zeitpunkt in näherer Zukunft mit Ware überflutet sein?
Dohrmann: Das sehen wir aktuell nicht kommen. Aber das ist natürlich immer sehr schwierig zu prognostizieren. Aktuell finde ich, dass sich alle Marktteilnehmer rational verhalten. Ich habe noch nicht gehört, dass Mitbewerber von uns absurde Mengen ordern würden. Man muss ja schließlich doch damit rechnen, dass die Ware tatsächlich kommt. Aber angenommen, man hätte in Zukunft mal einen Überbestand, dann muss man auch mal Ruhe bewahren und nicht gleich alles rabattieren. Eine solche Situation würde ich aber vor 2023 oder gar 2024 ohnehin nicht erwarten. Wenn es darum geht, dass Händler zum Teil mehr ordern, als sie tatsächlich brauchen, dann sollte man das vielleicht nicht tun bei Produkten, die Gefahr laufen, »End of Life« zu werden, sondern bei solchen, die man möglichst auch mal ohne Rabatt ins nächste Jahr nehmen kann. Das Problem hat etwa die Ski-Industrie stärker, wo jeder sofort sieht, dass ein Produkt aus dem letzten Jahr stammt.
Trotz anspruchsvoller Logistik und Beratung scheuen die Stuttgarter nicht die Mühe, auch Lastenräder online zu verkaufen.
Könnte ein Weg, mögliche Überbestände der Zukunft abzuverkaufen, in digitalen, vernetzten Lösungen liegen?
Dohrmann: Klar, aber das kann natürlich nicht jeder. Wir binden unsere Lieferanten immer stärker mit ein, sodass wir Bestände abgleichen können, wir von unseren Partnern und diese von uns, sodass viel mehr Transparenz vorhanden ist und man auch selektiv mehr Longtail gehen kann, ohne dass die Customer Experience leidet. So etwas können aber nicht alle leisten, der kleine Händler an der Ecke kann das nicht tun. Da sollte er lieber über unser Servicepartner-Programm »Connected Retail« an unsere Plattform andocken und sich auf diesem Wege solche Möglichkeiten erschließen.
Bei diesem Programm besteht die Wahrnehmung, dass es vor allem ein Werkbank-Vertrag ist, bei dem der Händler hauptsächlich die Wartung übernimmt. Trifft das nicht zu?
Dohrmann: So ist es zu Beginn, aber das wird ja immer weiter ausgebaut. Man kann dann später auch auf unser Lager zugreifen. Man wird immer weitere Möglichkeiten erhalten, um mit uns zusammenzuarbeiten. Wir sind ja immer mit unseren Partnerhändlern in Kontakt und fragen, wie wir sie weiter unterstützen können. Das ist aber natürlich nicht nur altruistisch, wir wollen ja auch was von ihnen. Sie helfen uns, unsere stationäre Präsenz auszubauen, und wir helfen ihnen mit zusätzlichem Traffic und Cross-Selling. Aber vielleicht auch bei der Frage, ob sie tatsächlich so große Lagerbestände brauchen oder stattdessen unsere Bestände mitnutzen sollten und könnten. All diese Dinge können wir aber nur im Dialog mit dem Rest der Industrie tun, das braucht natürlich auch die enge Abstimmung mit unseren Lieferanten und Partnern, die wir immer mit ins Boot nehmen. Das muss man im ganzen Ökosystem abstimmen, so dass es für alle Teilnehmer gut passt.
Damit sind wir beim Thema stationäre Präsenz. Welche Pläne werden auf diesem Gebiet verfolgt?
Dohrmann: Grundsätzlich wollen wir so vorgehen, dass wir in unseren Kernmärkten immer auch selbst physisch präsent sein wollen. Das heißt: Mindestens ein Flagship-Store pro Land, wo nötig auch mehr. Wir planen zum Beispiel gerade einen Store in Oslo und schauen uns Österreich und die Schweiz an. Wir wollen uns »schmutzig machen« und selbst Fahrradläden betreiben, damit wir auch gegenüber unseren Partnern glaubwürdig sind. Wir wissen selbst, wie hart es ist, so einen Laden profitabel zu betreiben. Wir haben aber nicht vor, Tausende von Läden zu eröffnen. Wir wiederholen nicht die Fehler der Vergangenheit aus anderen Bereichen des Handels, denn es gibt ja bereits eine tolle Infrastruktur. Die wollen wir lieber »enablen«, uns mit ihnen verbinden und uns mit den tollen Kolleginnen und Kollegen austauschen und das gemeinsam nutzen. Wir werden genug Läden eröffnen, damit wir da sind, als Marke präsent sind, lernen können, was läuft und was nicht, und die Kunden uns wahrnehmen als Fahrrad.de, Bikester, als Probikeshop, als Addnature und Campz.
Dies Vernetzung von Online- und stationärem Handel findet auf einer anderen Ebene auch zwischen Hersteller und Handel statt. Wie sieht aus eurer Sicht eine tragfähige Aufstellung für die Branche aus?
Dohrmann: Das ist eigentlich ein Dreieck. Man hat die Lieferanten, die stationären Händler und wenige große, internationale und digitale Player wie uns. Und in diesem Dreigestirn geschieht das Ganze, das ist das Ökosystem. Keiner kann ohne den anderen leben. Im Idealfall ist das eine gute Balance. Alles muss aufeinander abgestimmt sein. Wir haben zum Beispiel unser Servicepartner-Konzept mit derzeit über 330 Händlern. Das Zwischenziel sind europaweit mehrere Tausend Händler. Unser Ziel ist es, dass ein Kunde innerhalb von maximal zehn bis fünfzehn Minuten Fahrradfahrt einen physischen Servicepunkt erreichen kann. Wir sind in dieser Hinsicht eine Plattform und auf dieser muss man Angebot und Nachfrage sauber balancieren. Es bringt ja nichts, 10.000 Stores anzubinden, wenn dort zu wenig pro Händler geschieht, weil es zu viele sind. Wir müssen darauf achten, dass regelmäßig Kunden von uns zum Händler kommen, damit er sich über die Zusammenarbeit mit uns freuen kann. Aus Kundensicht wären auch 10.000 Händler schön, weil er dann überall in der Nähe einen Händler hat, zu dem er gehen kann. Aber es muss auch die Qualität stimmen. Daher wählen wir unsere Partnerhändler zunehmend feiner aus, und wer unsere Kunden nicht gut behandelt, da muss man sich dann trennen.
Der Verkauf von Fahrrädern jeder Art ist auch online eine Herausforderung, für die es die entsprechenden Strukturen braucht, sei es im Versand, bei Beratung und Verkauf oder den vielen denkbaren Services.
Das Gegenargument lautet natürlich, dass der stationäre Händler überhaupt kein Interesse daran hat, einen digitalen Wettbewerber zu stärken.
Dohrmann: Exakt, deshalb soll das immer schön in Balance geschehen. Deswegen dürfen wir das Ganze auch nur gemeinsam pushen. Alle müssen mit der Erweiterung des Gesamtsystems einverstanden sein und die immensen Chancen sehen.
Zum Thema starke Wettbewerber: Würdet ihr Amazon zutrauen, dass sie jemals bei Kompletträdern eine relevante Rolle spielen können?
Dohrmann: Was Amazon gut kann, sind die Basics des »alten« E-Commerce. Was Verfügbarkeit, Lead-Time, die ganze logistische Abbildung angeht, da sind die brutal stark. Insofern werden sie sicher eine Rolle spielen, wenn es um Ersatzteile geht. In Südeuropa geschieht das ja schon. Aber der Mainstream-Kunde, der kein Know-how-Träger ist, wird dort nicht einkaufen. Ein ganzes Fahrrad ist ein erklärungsbedürftiges Produkt mit schwieriger Logistik. Da sehe ich Amazon in nächster Zeit nicht stattfinden. Aber natürlich muss man das Unternehmen absolut ernst nehmen und wir müssen dies als Ansporn sehen, jeden Tag besser zu werden und unsere Kunden nachhaltig glücklich zu machen.
Naim: Unser Produkt ist zu spezialisiert, als dass Amazon da performen kann. Vielleicht gelingt es ihnen bei Ersatzteilen oder Einstiegs-Kompletträdern, bei denen man nicht so viel Erklärung benötigt. Aber sobald der Kunde sehen will, dass wir verstehen, was wir verkaufen, wird es für Amazon schwierig, weil sie sich dann hineinarbeiten müssten. Das hat eine solche Komplexität, dass sie zeigen müssten, dass sie das ernst nehmen. Amazon hat dann aber das Problem, dass sie eben in zig Categories stattfinden und sich dann ebenso in andere Bereiche begeben müssten.
Dohrmann: Und hier sieht man den Unterschied zwischen einem Multi-Category-Marktplatz und einem digitalen Spezialisten, wie wir einer sind. Mit unseren Shops sind wir darauf fokussiert, bei bestimmten Kundengruppen zu performen. Das ist eine natürliche Eintrittshürde. Aber Amazon muss man natürlich größten Respekt entgegen bringen. Bei uns ist der Shop, in dem der Kauf stattfindet, nur ein Teil des digitalen Kauferlebnisses. Bei uns gibt es noch Erklärseiten, Storys, Content und in Zukunft vieles mehr. Bei uns kann man anrufen und unserem Customer-Care-Team richtig kniffelige Fragen stellen. Trotzdem müssen
wir unseren Job richtig, richtig gut machen, sonst kann der Kunde auch bei Amazon kaufen.
Es gibt vermutlich Kunden und
Zielgruppen, die euch lieber sind als andere: Wie bildet Fahrrad.de das ab, wenn der unbedarfte Erstkäufer Mitte fünfzig mit hohem Beratungsbedarf und Bikefitting-Wunsch sich anmeldet? Landen solche Kunden automatisch
im Fachhandel?
Dohrmann: Erst mal wäre meine Antwort: Wir sind Fachhandel. Dies nur in digitaler Form.
Naim: Wir haben mehrere Arten, wie wir damit umgehen. Wir haben verschiedene Stores, wo Kunden hingehen können, aber wir arbeiten technologisch so, um genau diese Kauferfahrung digital kompensieren zu können, insbesondere für den Mainstream-Bereich. Wir arbeiten an Lösungen wie digitalem Bikefitting, dazu haben wir neue Modelle, die etwa Testfahrten erlauben. So wollen wir die Lücke zwischen physischem Laden und digitalem Verkauf weiter verkleinern. Da arbeiten wir mit Hochdruck dran.
Neben dem Kauf gibt es noch den After-Sales-Service. Wie wird das bei Euch gehandhabt?
Dohrmann: Der »normale« Kunde möchte eigentlich dasselbe Servicelevel wie in der Automobilbranche haben. Er oder sie möchte wissen, wann sie was machen sollen. An einigen Stellen sind wir schon so weit, an anderen müssen wir noch nacharbeiten. Daher ist auch unser Servicepartner-Netzwerk so wichtig. Man muss wissen, wann die Kundschaft was will, und das muss man abbilden, egal mit welchen Mitteln. Manche dieser Dinge machen wir digital, andere muss man physisch machen, und dann muss man dafür Angebote machen. Der Kunde ist König. Das gilt wieder mehr denn je. Man macht das nicht, weil das cool ist, sondern weil es für die relevante Kundengruppe wichtig ist und Mehrwert bringt im Sinne von Sicherheit und Vertrauen. Viele Kunden haben ja nicht mal einen Schraubenzieher zu Hause, diese muss man abholen. Wo wir noch eine echte Herausforderung haben, ist, das Thema Probefahrt abzubilden. Aber auch das werden wir lösen, denn das ist der absolute Knackpunkt. Wenn wir den Kunden gut beraten haben, bis die Auswahl auf zwei, drei Modelle gefallen ist, bei denen er sagt: »Die möchte ich gerne Probe fahren« – das ist die Herausforderung.
Aber das dauert noch, bis es dafür eine Lösung gibt?
Dohrmann: Also 15 bis 18 Monate brauchen wir noch, bis wir die ersten richtig guten Antworten zeigen können.
Auf der Skala von Fahrrad-Nerds, die alles selbst reparieren können und früh Räder online gekauft haben, versus die unbedarfte Oma die keinen Reifen flicken kann ...
Dohrmann: Wir nennen sie intern »Traditional Doris«, wir haben da respektvollere Begriffe für unsere Zielgruppen ...
...ich dachte, die Beschreibung wäre auch noch okay – wenn dieses Spektrum der erreichbaren Zielgruppe 100 Prozent darstellt, wie viel davon erreicht ihr aktuell?
Dohrmann: Ich würde sagen, dann sind wir jetzt bei 60 Prozent. Jetzt kommen wir an die Knackpunkte, an die harten Nüsse wie besagte Probefahrt. Wir verkaufen Hunderttausende Räder, dafür brauchen wir skalierbare Lösungen, die sich gut anfühlen und trotzdem bezahlbar sind.
Wie hoch ist denn aktuell die Retourenqoute von Kompletträdern?
Dohrmann: Wir liegen im einstelligen Prozentbereich. Es ist ja für uns als Erfinder der »Digital Full-Bike Commerce« eine Katastrophe, wenn aufgrund einer Fehlberatung oder Beschädigung etwas zurückgesendet wird. Der einzige Grund, mit dem wir leben können, ist, wenn der Kunde oder die Kundin sagt, »es ist alles, wie ich dachte, aber ich fühle mich damit nicht wohl«. Dann nehmen wir es auch gerne zurück. Aber eine Rücksendung wegen falscher Rahmengröße darf nicht sein.
Mit Internetstores haben Sie ja Einblick in die verschiedensten Branchen. Wo, würden Sie sagen, liegen die größten Unterschiede zwischen Fahrrad und allem anderen online?
Dohrmann: Wir sind ja hier im Bike-Fachhandel. Der durchschnittliche Verkaufspreis ist über die Jahre enorm gestiegen. Wenn wir Räder für 8000 Euro verkaufen, dann haben die Kunden bestimmte Erwartungen an das Einkaufserlebnis, an den Service. Das ist etwas anderes als ein Produkt für 200 Euro. Die Hierarchie lautet ja: Haus, Auto und dann kommt wahrscheinlich schon das Produkt Fahrrad in der Reihe der hochwertigen Anschaffungen. Da sind die Ansprüche enorm hoch und das hat sich geändert in den letzten Jahren. Da muss man »liefern«. Da ist kein großartiger Unterschied mehr, ob man eine hochwertige Uhr kauft, oder ein 3000-Euro-E-Bike. Die damit verbundenen Ansprüche muss man erfüllen. Je erklärungsbedürftiger ein Produkt ist, gilt das umso mehr. Das ist schon die ganz hohe Schule des Handels.
Herr Naim, welche zukünftigen Veränderungen erwarten Sie im Fahrradbereich? Wo sind die nächsten Umbrüche absehbar?
Naim: Das Fahrrad wandelt sich noch stärker vom Mobilitätsprodukt zum Träger von Mehrwert und neuen Services. Beispielsweise nutze ich mein Handy nicht nur zum Telefonieren, sondern noch für tausend andere Aufgaben, das Telefonieren ist nur eine davon. Das Fahrrad geht langsam auch in diese Richtung.
Dohrmann: Es ist eine »Teslaisierung« des Fahrrads. Es wird eine Plattform geschaffen, mit der neue Services etabliert werden können.
Wo liegt der besondere Reiz und Vorteil von Eigenmarken, von denen es bei Internetstores ja einige gibt?
Dohrmann: Das würde ich nun eher in Richtung Kunde beantworten: Wir wissen vermutlich besser und schneller als jeder andere im Markt, was gut und was weniger gut ankommt. Selbst die Hersteller wissen das immer erst verzögert. Wir wissen das sofort und können die Einsichten schon in den nächsten Produktzyklus einfließen lassen, sei es bei Farben, Technologien etc. Der Reiz ist im Grunde, dass wir schneller als alle anderen uns auf die Kunden einstellen können. Der zweite Punkt ist, dass wir optimierte Produkte mit sehr gutem Preis-Leistungs-Verhältnis herstellen können, mit denen wir Nischen und White-Spots besetzen können. Wir kopieren nicht, sondern ergänzen, und natürlich sind auch die ökonomischen Rahmenbedingungen für Eigenmarken sehr gut.
Naim: Ich bin dankbar für unsere Private Labels, denn sie sind auch ein Innovationsbeschleuniger. Die kurzen Lead-Zeiten, die Nähe zum Kunden und die schnelle Umsetzung gibt uns so viel Input, dass wir neue Ideen relativ schnell und relativ sicher validieren können und damit Innovationen beschleunigen. Ohne wäre es schwierig, in der Branche Innovationen voranzubringen.
Welche Bedeutung hat der Börsengang der Unternehmensmutter Signa Sports United auf das Geschäft von Internetstores?
Dohrmann: Signa Sports United vereint ja bereits verschiedene sogenannte »Verticals« wie Bike, Tennis, Outdoor und Teamsports unter sich. Den Vorteil, den man durch eine solche starke Mutter mit ihrem exzellenten Zugang zum Kapitalmarkt hat, liegen in den völlig anders dimensionierten Möglichkeiten, die sich damit eröffnen. Auf Ebene des globalen Fahrradmarktes kann man mit einer viel stärkeren Stimme sprechen und auch für die Branche insgesamt eintreten.
Herr Dohrmann, Sie scheiden Ende September bei Internetstores aus, was wollen Sie in der verbleibenden Zeit
noch anstoßen?
Dohrmann: Da ich dreieinhalb Jahre lang Themen im Haus mit voller Power bewegt habe, gibt es jetzt keine Notwendigkeit für irgendwelche Hau-Ruck-Aktionen. Das Feld ist recht gut bestellt, bei ein paar Dingen möchte ich gerne noch einen Haken dranmachen und sie abschließen, aber das ist eher der Perfektionismus des Unternehmers, der seinen Job, das Team und die Firma unglaublich ins Herz geschlossen hat. Unsere Strategie ist gemeinsam mit unserer Mutter Signa Sports United gesetzt. Das wird das Team nun weiter fortsetzen. Nach dieser sehr intensiven Zeit brauche ich jetzt einfach eine Pause. Bei 60-, 70-, 80-Stunden-Wochen bleibt nicht viel Zeit, um sich um andere Dinge zu kümmern. Ich werde wieder mehr als Investor Start-ups entwickeln. Dafür möchte ich Zeit haben und auch mehr Zeit mit der Familie verbringen. Wir haben uns stark entwickelt und sind in der Branche akzeptierter als jemals zuvor. Wann, wenn nicht jetzt, ist es Zeit für Veränderung?
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