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Report - Radlogistik

Zukunftsfähig abgeliefert

Die Radlogistikbranche ist jung und hat große Ziele. Um diese zu erreichen, zeigt sie sich professionell und trifft derzeit viele wegweisende Entscheidungen.

Wir schreiben jetzt die Spielregeln, das ist eine einmalige Chance.« So kommentierte Martin Schmidt, stellvertretender Vorsitzender des Radlogistik-Verbandes Deutschland (RLVD), den Status der Wirtschafts- und Mobilitätssparte. Die Worte fielen bei der letztjährigen Radlogistikkonferenz. Diese Veranstaltung repräsentiert eine Branche, die gerade hohe Wachstumszahlen verbucht. Die Grundlage, auf der dieses Wachstum basiert, ist noch klein. Die Ziele dafür umso größer. Bis 2030 sollen Lastenräder 30 Prozent der Letzten-Meile-Logistik leisten, so wurde es vom ehemaligen Verkehrsminister Andreas Scheuer einmal unverbindlich beziffert. Der RLVD hat nachgerechnet und setzt noch einen drauf. »Wenn man die Anzahl der Lieferfahrzeuge auf den Straßen tatsächlich reduzieren möchte, braucht man 40 oder 50 Prozent«, sagt Tom Assmann, Vorsitzender des Verbandes. Bei 30 Prozent, so die Kalkulation, wären am Ende nicht weniger Pkw in den Innenstädten unterwegs, da die zusätzlichen Lastenräder lediglich die zusätzlichen Paketlieferungen ausgleichen würden. In Anbetracht dieser Ziele ist der jetzige Zeitpunkt gut gewählt, um Standards und Grundlagen festzulegen, die den künftigen Arbeitsalltag in der Radlogistik erleichtern und die Branche skalierbar machen. Denn mit Umsatzsteigerungen von 58 Prozent von 2020 auf 2021 ist die Entwicklung bereits in vollem Gange. 120 Millionen setzte die Radlogistik im mittlerweile vorletzten Jahr um, inklusive der verkauften Lastenräder. Nicht wenig, aber nur ein Bruchteil des gesamten Logistikmarkts, der 2021 rund 293 Milliarden umsetzte. »2021 auf 2022 erheben wir jetzt erst. Ich gehe aber davon aus, dass es ähnlich sein wird. Wir sind da auf Kurs, es geht aber noch mehr. Wir als Branche können das leisten, die Unternehmen können skalieren«, wertet Assmann. »Die Radlogistik hat seit mehreren Jahren Aufbruchstimmung und die Aufbruchstimmung findet weiter statt.« Der RLVD hat dabei eine besondere Rolle. Er fungiert als Scharnier zwischen der Logistik- und der Fahrradbranche. Dazu nimmt sich der Verband auch des übrigen Wirtschaftsverkehrs an, an dem der KEP (Kurier-, Express- und Paketdienst) nur ein paar Prozent ausmacht. Auch Pflegedienste, Unternehmen im Stückgutbereich und den Dienstleistungsverkehr sieht der RLVD künftig auf Lastenrädern und ist bereit, sich diesen anzuschließen.

Jonathan Kümmerle hat meist Spaß bei der Arbeit. Er leitet Vemo Logistik als Geschäftsführer, sitzt aber auch regelmäßig selbst im Sattel.

Vom Leihrad zur großen Flotte

Eine Besonderheit besteht darin, dass die Branche von Start-ups geprägt ist. Die meisten Verbandsmitglieder sind wenige Jahre alt. So auch Vemo, ein in Köln und Bonn tätiges Logistikunternehmen. Zunächst begann das Unternehmen im Jahr 2020 als Lebensmittelanbieter »Himmel un Ääd«. Ein Lieferant, der die Logistik der Firma übernehmen wollte, sagte die Dienstleistung kurzfristig ab. Die ersten Kisten lieferten sie in der Folge kurzerhand mit Leihrädern der Stadt Köln selbst aus. Riese & Müller stellte ein erstes Lastenrad kostenlos zur Verfügung, dann investierte das Team in einen Lastenanhänger des Herstellers Carla Cargo und schließlich in das erste Schwerlastenrad von Tricargo, den Lademeister. Externe Firmen zeigten Interesse an der Dienstleistung Radlogistik und das Tochterunternehmen Vemo entstand.

»Wir beobachten den Markt die ganze Zeit, weil Wartung ein großes Thema und ein Kostentreiber ist.«

Jonathan Kümmerle, Vemo Logistik

Die Kundschaft ist vielfältig und hat sich von den eher auf Ethik und Nachhaltigkeit fokussierten Partnern in Richtung konzernartiger Kundschaft geöffnet. Dazu zählt etwa auch die Deutsche Post, für die die Fahrer und Fahrerinnen von Vemo zum Beispiel Briefkästen leeren. Gerade bei dieser Dienstleistung stoßen sie auf viel Ver- und Bewunderung. »Ach, mit so einem Gerät leert ihr die Briefkästen? Das ist ja cool«, fasst Vemo-Geschäftsführer Kümmerle die Reaktionen zusammen. »Das macht einfach Laune«, sagt er. Auch er verbringt einen Teil seiner Arbeitszeit selbst auf dem Lastenrad. Die Arbeit macht Spaß, ist aber nicht nur mit positiven Situationen verbunden. Kümmerle erinnert sich an eine SUV-Fahrerin, die ihn kürzlich aggressiv angehupt hat. »Ich habe dann angehalten, bin ausgestiegen und habe gefragt, was los ist. ›Sie fahren nicht auf dem Radweg! Sie versperren die Straße!‹ ist sie dann ausgerastet. Es gab einen kleinen Bürgersteig, den Radfahrer und Fußgänger sich teilen. Natürlich fahre ich da nicht mit meinem Riesengefährt, sonst fahre ich die Fußgänger um. Solche Begegnungen gibt es schon im Alltag, das ist dann schwierig.«
Wie die gesamte Branche befindet auch Vemo sich auf Expansionskurs. Im Februar läuft ein neuer Auftrag für einen Lieferdienst, der sich auf Wocheneinkäufe spezialisiert hat, an. Die Belegschaft springt dann von 30 auf 45 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen an. Für das kommende Jahr ist geplant, auch andere Städte ins Visier zu nehmen. Der Fuhrpark ist ebenfalls größer geworden: Ein Schwerlastenrad von Fulpra, 15 Lademeister von Tricargo, zwei Anhänger von Carla Cargo und zwei Frontloader, ergänzt durch einen E-Sprinter für große Abholungen bei Höfen.

Normen und Standards als Grundlage

Mit dem Fokus auf Schwerlastenräder folgt Vemo einer aktuellen Entwicklung in der gewerblichen Nutzung. Hier kommen immer öfter Überdachungen, stärkere Motoren und mehrere sowie größere Akkus zum Einsatz. Die Schnittmenge zum Privateinsatz werde kleiner und bestehe eigentlich nur noch im Bereich der sogenannten Long Johns, schätzt Martin Seißler.

»Ich sehe es so, dass es eher an Meta-Entwicklungen hängt, wie sich die Radlogistik entwickelt.«

Martin Seißler, Cargobike.jetzt

Derzeit findet auf EU-Ebene ein Normungsprozess für Lastenräder statt, der diesen Trend noch verstärken könnte. Wenn dieser abgeschlossen ist und zum Beispiel eine Vorgabe für das Gesamtgewicht beinhaltet (was noch nicht der Fall ist), dürfte der Markt sich weiter auseinanderbewegen. Einige Hersteller dürften sich knapp unter der Gewichtsmarke etablieren, andere dürften diese, und damit vielleicht auch den Begriff Lastenrad, weit hinter sich lassen und sich Gesamtgewichtsmarken von vielen Hundert Kilogramm nähern.
Die im Radlogistikverband organisierten Unternehmen standardisieren ihrerseits ihre Arbeitsmittel- und Prozesse. Das betrifft vor allem einen Container und Aufbauten von Lastenrädern und -Anhängern. Diese sollen durch festgelegte Abmessungen und Aufhän­gepunkte untereinander austauschbar sein. Eine Arbeitsgruppe im RLVD hat gemeinsam mit dem Bundesverband der Kurier-Express-Post-Dienste einen Vorschlag erarbeitet, der von den Unternehmen kommentiert werden konnte. Ende Januar ist die Norm RLVD-001 nun veröffentlicht worden. Der Stan­dard soll dazu beitragen, dass Herstel­ler sich auf Aufbauten spezialisieren können und diese effizienter produzie­ren. Auch individuellere, speziellere Aufbauten herzustellen, soll so leich­ter sein und das Radlogistikgeschäft insgesamt wirtschaftlicher werden. Die Norm basiert auf den Abmessungen ganzer oder halber Europa­letten und Euroboxen, also Standardmaßen der Logistik.

David gegen Goliath? Auf der Radlogistikkonferenz 2022 fuhren viele Teilnehmer publikumswirksam mit Lastenrädern auf der IAA Transportation ein.

Die neuen Standards könnten auch über die Grenzen der Republik hinweg Einfluss zeigen. Der RLVD ist mit einigen nationalen Radlogistikverbänden, etwa aus Österreich, den Niederlanden und Frankreich, sowie der European Cycle Logistics Federation vernetzt. »Was aber ganz besonders ist, das haben wir beim Standardisierungsprozess gemerkt, ist, dass der deutsche Markt der Leitmarkt ist«, so Tom Assmann.

Arbeitsplätze mit Perspektive

Auch Vemo ist RLVD-Mitglied und legt großen Wert darauf, sich zu vernetzen. Vor allem mit dem Hersteller Tricargo aus Hamburg besteht ein reger Kontakt. Die Wartung der Räder ist ein Dauerthema, das Logistikunternehmen beobachtet ständig das Marktgeschehen. »Wir überprüfen unsere Entscheidung für Fahrräder wöchentlich. Wir beobachten das die ganze Zeit, weil Wartung ein großes Thema und ein Kostentreiber ist«, so Kümmerle. Momentan habe das Unternehmen die Wartung gut im Griff und kann diese sogar für externe Lademeister-Besitzer durchführen. Das Geschäftsfeld Logistik ist aber geprägt von harten Preiskämpfen. Dumpingpreise, so ein Credo der letzten Radlogistikkonferenz, sollten allerdings vermieden werden.
Auch solide Gehälter zu zahlen, müsse ein oberes Ziel sein. Im Niedriglohnsektor dürfte der Kampf um Angestellte sonst zum Flaschenhals des Wachstums werden. Vemo, so berichtet Jonathan Kümmerle, übernehme teilweise Aufträge von anderen Logistikunternehmen, weil diesen die Fahrer und Fahrerinnen fehlen. Die Gehaltsfrage ist aber auch wichtig, um von Gelegenheitsarbeitskräften, wie zum Beispiel Studenten und Studentinnen, wegzukommen.
»Deswegen ist auch die Frage: Was müssen wir am besten können? Müssen wir super Logistiker sein oder müssen wir einfach megageile Personalführung machen? Und da ist die Antwort eher Personal, würde ich sagen, weil das gerade die entscheidendste Frage ist«, sagt Kümmerle. Das Unternehmen will, dass der Arbeitsplatz als Fahrer oder Fahrerin mit einer Perspektive verbunden ist. Das Gehalt hat die Firma in den wenigen Jahren bereits fünf Mal hochgeschraubt, auf mittlerweile 13 Euro pro Stunde. Dieser Wert liegt allerdings noch immer unter einem Gehalt, das ausreicht, um Altersarmut zu vermeiden, erklärt Kümmerle. Dass das auch anders laufen kann, zeigt Österreich, wo Fahrradkuriere einen eigenen Tarifvertrag haben. 2021 waren 2950 Personen in der deutschen Radlogistik angestellt. Diesem Wert stehen 3,3 Millionen in der Gesamtbranche gegenüber.

»Der deutsche Markt ist der Leitmarkt.«

Tom Assmann, Radlogistikverband Deutschland

Damit mehr Arbeitsplätze in dieser Branche entstehen, muss es auch mehr Unternehmen geben. Selbst wenn einige Logistiker zeigen, dass Radlogistik ein profitables Geschäft sein kann, hat die Arbeit mit den Lastenrädern einen strategischen Nachteil für Unternehmer. Die motorisierten Transporter, mit denen die Räder konkurrieren, sind jahrzehntelang erprobt und dadurch präzise kalkulierbar. Gerade für neue Fahrzeuge auf dem Lastenradmarkt fehlen manchmal belastbare Informationen zu Reparaturkosten und Wartungsintervallen. Die Entscheidung für das Lastenrad und gegen den »Sprinter« ist deshalb mit etwas mehr Unwägbarkeiten verbunden. Hinzu kommen steuerrechtliche Probleme. Die staatliche Förderung von gewerblichen Rädern schließt die gängige Praxis des Fahrzeug-Leasings aus. Auch in den Emissionsbewertungen von Fahrzeugflotten lassen sich Lastenräder nicht einkalkulieren. In dem im vergangenen Jahr verabschiedeten Klimaschutz-Sofortprogramm gab es Sonderabschreibungen für Nutzfahrzeuge, aber Lastenräder sind nicht eingeschlossen.

Das Spielfeld begradigen

»Es braucht die richtige politische Rahmensetzung und die sehen wir nicht auf Kurs«, fasst Tom Assmann zusammen. Insbesondere fehle es an einer »politischen Orientierung auf Faktenbasis«, kritisiert er. Wenn der Verkehr energieeffizienter werden soll, reiche es nicht, sich die Frage nach Antriebswechseln von Pkw zu stellen. Lastenräder verbrauchen etwa zehn Prozent der Energie eines Transporters und sind somit in dieser Hinsicht als bestehende Technologie weit überlegen. »Die sind da. Wir können sie jetzt herstellen und jetzt auf die Straße bringen«, meint Assmann. Lastenräder würden strukturell benachteiligt, zum Beispiel indem die öffentliche Hand sie bei Ausschreibungen ausklammert.
Radlogistik ist ein Teil der Verkehrswende und gleichzeitig von dieser abhängig. Ein gerechterer Wettbewerb ist dringend nötig. »Wir sind jetzt an der Stelle, wo wir anfangen müssen, es den anderen Fahrzeugen schwer zu machen. Sonst wird da nicht viel passieren«, stellt Martin Seißler fest. »Ich sehe es so, dass es eher an Meta-Entwicklungen hängt, wie sich die Radlogistik entwickelt.« Superblocks, Einbahnstraßen oder Tempo 30 in Innenstädten dürften dafür der Radlogistik Vorteile bringen. »Gefühlte Unterschiede« in der Zustellgeschwindigkeit könnten schrumpfen.
Wenn die Branche wächst, rückt sie auch mehr ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Deren Meinung, so ahnt die Logistiksparte, muss vorsichtig navigiert werden. Ihren guten Ruf muss die Branche erst noch festigen. Ein Verhaltenskodex für Fahrer und Fahrerinnen soll deshalb helfen, sorgsam mit dem öffentlichen Raum umzugehen. Ein Detail wie dieses zeigt: Die Branche versucht, so gut es geht in die Zukunft zu schauen und sich für das, was kommen kann, bereitzuhalten. //

17. Februar 2023 von Sebastian Gengenbach

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