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Im Interview mit Gunnar Fehlau fachsimpeln zusammen 60 Jahre Erfahrung als Fahrrad­anbieter über den Markt und seine Perspektiven.
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Interview - Müller, Stiener, Nicolai

20 Jahre, 1 Werkstoff, 3 Konzepte

Gleich drei renommierte Fahrradfirmen aus Deutschland feiern in diesem Jahr 20-Jahres-Feste: Im April 1995 wurde Velotraum gegründet. Im gleichen Jahr begann Riese & Müller mit der Auslieferung des Faltrades »Birdy« und wurde dadurch vom Accessoires-Hersteller zum Fahrradanbieter. Und im April schmiss die Mountainbike-Schmiede Nicolai ihre große 20-Jahres-Party. Ein Jubiläum, ein Werkstoff (Aluminium) und doch drei sehr unterschiedliche Philosophien und Wege zum Erfolg, wie Gunnar Fehlau, Fahrradexperte und Geschäftsführer des pressedienst-fahrrad, im Gespräch mit den Geschäftsführern der Jubilare herausfand.

Der Fahrradbranche werden zwei Geburtsstunden zugesprochen: Im Rahmen der ersten europaweiten Industrialisierungswelle zum Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich das Fahrrad binnen weniger Jahrzehnte vom elitären Freizeitgefährt zum Vehikel der ersten Welle individueller Massenmobilität. Ab den 1980ern eröffnen sich zwei Entwicklungsstränge: Die spaßorientierte Mountainbike-Bewegung, ausgehend von der Westküste der USA, und die ökologische Bewegung in Zentraleuropa. Auf der einen Seite Adrenalinsause im Marin County. Auf der anderen Seite Radfahren als ökologische Verhaltensweise und damit in Zeiten von Waldsterben und Tschernobyl-Atomunfall auch als politisches Statement. Von Beginn an haben sich beide Radwelten auf der technischen Ebene ausgetauscht. So finden sich an den ersten Mountainbikes, wie sie etwa Tom Ritchey gebaut hat, französische Tretkurbeln – seinerzeit Standard am europäischen Reiserad. Umgekehrt haben die europäischen Alltagsradler die stabilen Komponenten und Laufräder der Mountainbiker an ihren Rädern übernommen. Seit Mitte der 1990er lässt sich aber auch feststellen, dass die beiden Radkulturen zusammenwachsen.

Die drei Jubilare stehen dafür beispielhaft. So hat Stefan Stiener, »Mr. Velotraum«, nach einem Sportunfall Anfang der 1990er aufs Rad umgesattelt und die Sportlichkeit des Mountainbikes zwar lieben gelernt, dessen fehlende Abstimmung aufs Reisen jedoch bemängelt. Die Fusion von MTB-Technik mit den Anforderungen an ein modernes Reiserad musste er in Eigenregie vornehmen. Ich hatte 1993 die Möglichkeit, eines seiner ersten Räder für das damalige ADFC-Mitgliedsorgan »aktiv Radfahren« zu testen. Mein Fazit: »Das Velotraum muss selbst für 28-Zoll- Anhänger als Alternative betrachtet werden. Für die Fans der kleinen Laufräder, die Komfort suchen, kann das neue Reiserad nur einen Velotraum-Aufkleber am Oberrohr haben.«
Auch beim Hersteller Riese & Müller ist der Gründungscocktail aus den Zutaten MTB-Technik und europäische Anwendungsrealität gemixt. Markus Riese und Heiko Müller waren fasziniert von der Idee eines Faltrades, das sich flexibel mit Bahn, Auto & Co. kombinieren lässt. Ihre Ansprüche an Fahrdynamik und -tempo waren allerdings nicht an den billigen Klapprädern der 1970er orientiert, sondern »an ultraleichten und voll durchgetunten Alu-Mountainbikes aus den USA«, wie sich Firmengründer Müller erinnert. Binnen drei Jahren Entwicklungszeit kreuzten die beiden MTB-Fahrdynamik und -technik mit den Anforderungen an Intermodalität und urbanes Fahrradfahren. 1995 wurden die ersten »Birdy« genannten Falträder verkauft. Eines der ersten Exemplare konnte ich im Sommer 1995 im Rahmen der Bergisch Gladbacher Liege‑
radtage auf Rad- und Feldwegen testen. Mein Urteil war ähnlich dem des Radmagazins »Tour«, das im Sommer des gleichen Jahres das Birdy testete – Redakteur Robert Kühnen schrieb: »Der Newcomer unter den Falträdern startet gleich durch. [ … ] Fazit: Das Birdy bietet zu einem attraktiven Preis in unserem Testfeld die beste Synthese aus Fahren und Falten.«

Bei Karlheinz Nicolai hatte die Initialzündung die umgekehrte Wirkrichtung: Er hatte viel Spaß mit den ersten Mountainbikes, schüttelte als Maschinenbaustudent und aktiver Motocrosser jedoch den Kopf über den Entwicklungsstand der MTB-Technik. So zog er aus in die USA, um dort das Mountainbike weiterzuentwickeln. Ein besonders umfassender Entwicklungs- und Produktionsauftrag brachte in Deutschland 1995 als Spross die Nicolai GmbH hervor. Noch heute ist es sein Ansatz, den kindlichen Fahrspaß beim Mountainbiken durch immer neue Innovationen zu bewahren.

Was hat bei euch zu dem Entschluss geführt, Fahrräder zu bauen?

Stefan Stiener: Ich kam über den Sport, über das Erleben, den Spaß zum Fahrrad. Mich hat aber auch schon immer die Technik fasziniert – relativ einfach und überschaubar, aber wenn man tiefer einsteigt voller Komplexität und Potenzial. Erst waren es Rennräder, die wir dann aber auch schon für Reisen umgebaut haben, also die ersten Randonneure: irgendwie so ein »Le Mans«-Rahmen von Centurion, ausgestattet mit Ösen und Dreifach-Kurbelgarnitur.
Dem Rennradsport haben wir uns nicht wirklich zugehörig gefühlt, der war uns zu eng, zu muffig, zu traditionell, auch nicht innovativ genug. Das MTB kam dann 1988/89, da waren wir sofort dabei, und zwar volle Lotte, mit allem, was damals gut, neu, teuer und besonders angesagt war. Wir waren wahrscheinlich das erste Kellergeschäft, das Gary Klein hatte, Specialized oder Rocky Mountain.

Heiko Müller: In den Achtzigerjahren gab es hochwertige Fahrräder im Wesentlichen in den Bereichen Mountainbike, Rennrad und Reiserad. Den ersten hochwertigen Tourer habe ich für 3000 DM gekauft – unglaublich viel Geld zum damaligen Zeitpunkt. 1988 habe ich das erste Cannondale-MTB gekauft. Ich bin damals Rennrad gefahren, Mountainbike, und war mit dem Rad auf Reisen. Was uns aber fasziniert hat, war, die Technik der vollgefederten Mountainbikes in die Stadt zu bringen.

Kalle, du hattest ja schon so ein bisschen skizziert, dass ihr im Prinzip eine Ausgründung eines amerikanischen Entwicklungsauftrages seid.

Karlheinz Nicolai: Also, um das genauer zu erklären, muss ich anmerken, dass ich, bevor ich mich selbständig gemacht habe, Fahrrad – das heißt Mountainbike – sozusagen als Trainingsmobil gefahren bin, aber eben auch Motocross und Enduro. Daher kannte ich damals die ganze Fahrwerkstechnik von Motorrädern sehr genau. Da gab es schon Dämpfer mit Zug- und Druckstufenregelung, hydraulische Federung und so weiter, und ich fand es immer unfair, dass sozusagen der Handel bzw. die Marken für den Endverbraucher beschlossen haben, dass man so etwas an einem Fahrrad nicht braucht.

Was hat euch denn wieder vom Mountainbike abwandern lassen?

Stefan Stiener: Das Massengeschäft ist prinzipiell nicht kundenspezifisch genug. Der Preis steht einfach an allererster Stelle. Wir haben dagegen schon immer den Weg gewählt, individualisierte Produkte zu machen, Produkte, die ein eigenes Profil haben.

Heiko Müller: Die Mountainbikes waren ja voll auf der Überholspur, als wir so richtig eingestiegen sind. Aber schon 1995 haben wir gesagt: »Das ist ein Massenmarkt, der ist für uns nicht mehr interessant. Wir suchen neue Nischen, in denen wir uns austoben können.« Uns hat dann tatsächlich das Thema Alltagsrad mit moderner Qualität viel mehr interessiert.

Karlheinz Nicolai: Es gab im Fahrradfachhandel sehr viele mittelmäßige Produkte. Wir haben die Produkte, die wir fahren wollten, selbst gebaut, haben uns Urlaub genommen und sind am Gardasee fahren gegangen. Schon damals sind wir mit Mountainbikes mit 150 mm Federweg rumgefahren, wo sich alle nur an den Kopf gefasst haben. Heute fährt jeder so einen Federweg, selbst in einer Enduro-Veranstaltung. Den Technologietransfer aus einer anderen Branche haben wir genutzt, um uns zu etablieren.

Erklärt dieser Fokus auf die schnelle Übertragung neuer Technologien auch, warum ihr die Rahmen am Ende mit so einer hohen Fertigungstiefe selbst macht?

Karlheinz Nicolai: Ja, wir konnten einen Technologietransfer realisieren, ohne dass die Produkte aus Asien den langen Seeweg haben. So waren wir immer in der Lage, eine Ecke vor der Konkurrenz lieferfähig zu sein. Das haben wir als Mechanismus genutzt und etabliert.

Heiko Müller: Wir haben gesehen, dass es unglaublich viel Spaß macht, mit den vollgefederten Mountainbikes auch in der Stadt rumzufahren und sie im Alltag zu benutzen. Aber der Alltag stellt natürlich andere Anforderungen an ein Fahrrad. Das fängt ganz banal bei Schutzblechen und Gepäckträgern an und geht bis zu einem tieferen Durchstieg, um bequem aufzusteigen. All diese Themen waren beim Mountainbike nicht gelöst und das führte dann letztendlich zu unserer ersten Produktpalette an vollgefederten Alltagsrädern – genau diese Verknüpfung zwischen der Technik der vollgefederten Mountainbikes und den Anforderungen im Alltag.

Fahrrad ist bei euch mehr als ein Rahmen und zwei Räder – nicht nur technisch betrachtet. Welchen Stellenwert nimmt die emotionale Komponente ein?

Stefan Stiener: Ich sage mal so: Wir laden unser Produkt emotional auf, ja. Aber wir schauen, dass das Versprechen auch eingehalten wird. Ich bin mir sicher, dass es für die Menschen, die wir ansprechen wollen, einfach immer ein tolles Gefühl sein wird, mit einem Fahrrad unterwegs zu sein, auf das ich mich verlassen kann, das für mich gemacht worden ist, wo ich sage, das gehört schon ein Stück weit zur Reise dazu, dass man sich ein tolles Fahrrad leistet.

Heiko Müller: Fahrradfahren ist Lifestyle und der findet nicht isoliert in der Freizeit statt. Ein Rad, das als täglicher Begleiter taugen soll, muss alltagstauglich sein. Das heißt aber noch lange nicht, dass es alltäglich aussehen muss. Wir sind nicht die einzigen, die Falträder bauen, aber das Birdy erkennt man sofort.

Karlheinz Nicolai: Es kommt nicht nur auf das Was, sondern auch auf das Wie an. So wie sich der speziell angefertigte rahmengenähte Schuh nicht nur handwerklich auf einer besonderen Ebene befindet, sondern auch eine emotionale Aura versprüht, so tut dies auch der individuell gefertigte Rahmen. Diese Emotionen sind eine Qualität an sich, aber die Basis ist natürlich ein handwerklich und technisch perfektes Produkt. Das kann von keiner Emotion ersetzt werden, sondern nur deren Nährboden sein.

Stefan, Ihr habt angefangen mit Stahl und seid dann irgendwann auf Alu geschwenkt. Warum früher Stahl, warum heute Alu und was kommt morgen?

Stefan Stiener: Zunächst war Stahl relativ einfach, als wir angefangen haben, eigene Rahmen bauen zu lassen. Wir sind mit Stückzahl 50 gestartet. Zieh da mal einen Lieferanten an Land! Fündig wurden wir damals bei der Firma Fort in Tschechien, aber die haben halt nur Stahl gemacht. Unsere Fahrräder hatten aber immer auch sportliche Gene, das Multifunktionale, das Leichte, Agile. Irgendwannhaben wir gesagt: »Mensch, wir würden gerne was aus Aluminium machen.« Ich komme aus einem technischen Beruf und weiß um naturwissenschaftliche Parameter, Trägheitsradius und so weiter. Aluminium bietet uns alle Möglichkeiten, die wir brauchen. Zum Beispiel auch Fahrräder für sehr große Leute zu konstruieren, ohne dass die Rahmen fünf Kilo wiegen und grauenhaft aussehen. Wir haben nie eine Wissenschaft oder Philosophie draus gemacht, sondern einfach gesagt, wir nehmen das sinnvollste, beste Material. Deshalb haben wir auch noch ein, zwei Stahlrahmen im Programm, für Globetrotter, die jahrelang unterwegs sind und das Ding irgendwann, irgendwo reparieren lassen müssen. Karbon macht im Alltagsbereich keinen Sinn und geht im Reiseradbereich gar nicht. Wenn ich mir Reiseberichte von unseren Kunden angucke, wundere ich mich manchmal, dass unsere Räder das überleben. Missbrauch auf höchster Stufe, was da teilweise getrieben wird.

Heiko Müller: Für mich ist Aluminium das perfekte Rahmenmaterial. Man kann viele Dinge machen, die man mit anderen Werkstoffen nicht realisieren kann – gerade bei vollgefederten Konzepten. Ich sehe auch den Werkstoff Karbon beim Alltagsrad als nicht besonders glücklich an. Einfach weil im Alltag viele Gefahren lauern, die den Fahrradrahmen nachhaltig und unbemerkt schädigen können. Das habe ich beim Rennrad oder beim Mountainbike in der Form nicht, so ein Rad hüte ich wie meinen Augapfel, häng mir das ins Wohnzimmer oder wie auch immer und lass es garantiert nicht unbeaufsichtigt irgendwo stehen. Ich weiß genau, wenn dem Rahmen irgendwas zugestoßen ist, ich kann das untersuchen und beurteilen. Tatsächlich sehe ich auch das Recyclingthema beim Karbonrad nicht gelöst. Es gibt da keine schlüssigen Konzepte, und deswegen finde ich nach wie vor den Aluminiumrahmen in der Summe, auch der Materialeigenschaften, ganz klar als idealen Werkstoff.

Karlheinz Nicolai: Das stimmt! Okay, Alu braucht erst mal eine gewisse Energie in der Herstellung, ist dann aber unendlich recycelbar. Außerdem ist es kein Kompromiss. Aluminium ist sehr leistungsfähig. Ich kann viele Dinge umsetzen, die ich in Stahl oder Karbon in der Skalierung, die wir als Nicolai GmbH haben, nicht umsetzen kann. Zum Beispiel haben wir sehr ausgeklügelte Lagerungen, Dichtungen, mechanische Unterbaugruppen, und da stößt man dann beim Werkstoff Stahl, der vor zwanzig Jahren noch sehr en vogue war, schnell an Grenzen. Wir finden Alu gut und bleiben dabei. So vor zehn, fünfzehn Jahren hatten wir das Gefühl, als ob wir auf einem aussterbenden Ast säßen, aber Reindustrialisierung und Fertigung auch von Aluminiumrahmen wird wieder ein Thema hier in Europa. Das hängt damit zusammen, dass die Kosten auch in Asien steigen und der ökologische Wahnsinn der Seefracht über die Meere immer weiter deutlich wird.

Wie wichtig sind, ich sage es mal bewusst, Dogmen für den Unternehmenserfolg? Velotraum verbucht man ja zum Beispiel voll auf 26 Zoll und da arbeitet ihr ja wirklich alle Konzepte drum herum. Wie wichtig ist das so für die Positionierung und aus welchen Überlegungen leitet sich das ab?

Stefan Stiener: Also ich sehe das nicht als Dogma, sondern mehr als Alleinstellungsmerkmal, als klare Aussage, einfach um dem Kunden auch ein Stück weit Orientierung zu geben, weil der Markt heute so vielfältig ist. Wir haben schon früher über Schaltungsarten diskutiert, heute tun wir das auch bei Bremsen. Wir diskutieren über Materialien und jetzt diskutieren wir auch noch über drei verschiedene Laufradgrößen. Wir wollen uns klar positionieren und sehen in der Summe der Eigenschaften 26 Zoll für unsere Art von Arbeit immer noch als eine sehr gute Basis. Sollte 26 Zoll aber tatsächlich in der Breite auslaufen, finden also die ganzen innovativen Entwicklungen dort nicht mehr statt, sind wir im Prinzip schon für die Weichenstellung auf 650 B aufgestellt. Aber ich bin der Meinung, dass wir mit diesem Laufradgrößenwirrwarr, der sicherlich im Sport- und Spezialradbereich seine Berechtigung hat, den Kunden nicht unbedingt was Gutes getan haben und letztendlich vielleicht auch unseren Umsätzen nicht. Ich habe das Gefühl, dass viele Leute einfach sagen: »Ach, jetzt warte ich mal, bis sich das beruhigt hat, und dann schau ich noch mal. Mein altes Rad tut es ja noch.«

Bei Riese & Müller ist das Dogma ja nicht die Laufradgröße, sondern das Prinzip Vollfederung. Wie steht es darum?

Heiko Müller: Wir haben ja mit unserer Zweitmarke Blue Label vor einigen Jahren das Tor geöffnet für nicht vollgefederte Konzepte. Das erlaubt uns, in der Kernmarke Riese & Müller die reine Lehre weiter zu pflegen. Aber letztendlich war das eine pragmatische Entscheidung. Wir hatten den Wunsch, uns zu verbreitern und ein weites Spektrum an Rädern anzubieten. Da mussten wir uns aus verschiedenen Gründen auch von der Vollfederung verabschieden. Wir sind nach wie vor davon überzeugt, dass das perfekte Rad vollgefedert ist, aber es gibt eben auch Kunden, die das nicht wünschen, und das mussten wir respektieren lernen. Wie etwa am Rennrad, mag es ja durchaus sinnvolle Gründe geben, warum ein Rigid oder zumindest ein Hardtail das richtige Fahrrad für irgendeine Anwendung ist. Und da haben wir inzwischen Pragmatismus vor Dogmatismus gestellt.

Wenn die zunehmende gesellschaftliche Wahrnehmung fürs Fahrrad als Verkehrsmittel sich noch stärker infrastrukturell niederschlägt, brauche ich dann in fünf Jahren eigentlich noch ein vollgefedertes Alltagsrad? Wir sind gerade von der Tankstelle hier rüber gefahren mit dem Auto und haben gedacht: »Boah, sind das hier schlechte Radwege, kein Wunder, dass hier das vollgefederte Alltagsrad groß wird.« Wenn ich dann aber gucke, was bei uns zuhause gerade an Radwegen oder Radschnellwegen gebaut wird, muss ich sagen: Die sind so gut, dass man mit dem Auto eigentlich auf den Radweg abbiegen will, weil der besser ist.

Heiko Müller: Für bestimmte Anwendungen mag auch ein ungefedertes oder nur mit Federgabel versehenes Rad durchaus richtig sein. Wie gesagt, wir haben da ein bisschen unseren Dogmatismus abgelegt. Ich will jetzt auch nicht den Kunden immer nur auf das eine Rad bringen, sondern denke, er ist mündig. Der Köder muss dem Fisch schmecken und nicht dem Angler. Das heißt, man kommt nicht drum herum, an der einen oder anderen Stelle Produkte anzubieten, die vom ursprünglichen Markenkern abweichen, aber trotzdem gut sind und für diese Anwendungen einfach das Optimum bieten. Der Ansatz ist, dass man sagt: »OK, wie muss denn ein Rad aussehen für einen Kunden, der sagt, er möchte auf die Heckfederung verzichten?« Das ist dann genau so eine Herausforderung, der man sich stellen kann, und mit zwei Marken lässt sich das ja auch gut positionieren.

Nicolais Dogma ist zum Beispiel, dass ihr kaum Rohre biegt, sondern alles über Frästeile regelt. Was ist die Idee dahinter und wie viel Bestand hat die Idee?

Karlheinz Nicolai: Grundsätzlich sind wir erst mal funktionsgetrieben, aber natürlich muss man in einer gigantisch großen Branche gewisse Alleinstellungsmerkmale haben. Also muss ein Produkt erkennbar sein. Und solange im Rennsport ein Fahrer, der auf unserem Produkt, mit geraden Rohren oder unserer Federungstechnologie, eine schnellere Zeit fährt als mit einem Karbonteil, das hier und da noch einen Schwung mit reinkonstruiert hat, gibt es für uns keinerlei Handlungsbedarf. Solange wir unsere Entwicklungsziele erreichen können mit unserer Genetik – und da sage ich jetzt extra nicht Dogma, sehen wir keinen Grund, etwas anders zu machen. Es ist halt eine Art Kunstwerk. Nehmen wir den Vergleich, haben wir bestimmte Maltechniken, auf die wir stolz sind und die wir möglichst beibehalten. Außerdem bauen wir ja Build-to-Order, also nur Dinge, die bereits verkauft sind. Diesen ,handgenähten Schuh‘ möchte unser Kunde genauso haben. Wir kriegen Dutzende von E-Mails, wo genau das drin steht: »Wir finden das super, dass Ihr nicht den Hydroforming-Wahnsinn mitmacht.« Nur schon mal als Teaser für die Eurobike: Wir werden eine im Steuerrohrbereich sehr innovative Schmiede-Fräskombination einsetzen, die wieder ein Quäntchen besser ist als ein Hydroforming-Rohr, um bestimmte technische Eigenschaften darzustellen. Also, wir folgen nicht irgendwelchen Strömungen, nur weil es sie gibt, sondern wir suchen unseren Weg mit unserer »Maltechnik«.

Hat man als kleinerer Hersteller Angst, dass man entkoppelt wird von technischer Entwicklung, weil man bestimmte Sachen erst ab bestimmten Losgrößen kriegt, weil man eben nicht auf Augenhöhe mit einem Automobilzulieferer sprechen kann?

Stefan Stiener: Ich würde es nicht Angst nennen, aber es ist einfach etwas, was man im Fokus behalten muss. Zum Teil muss man sich von bestimmten Produkten eventuell verabschieden, auch wenn man sie gerne machen würde. Wir hätten zum Beispiel gerne mal einen Bosch-Motor mit Velotraum kombiniert, waren aber komplett außen vor. Inzwischen haben wir eine andere, wirklich passgenaue Lösung für den Einstieg in das Thema gefunden.

Umgekehrt verpflichten spezielle Absprachen mit großen Herstellern ja durchaus zu bestimmten Stückzahlen. Aber ich denke mir den Markt jetzt so in Bällen oder Blasen: Wenn die einen Bälle immer größer werden, dann werden ja auch die Zwischenräume zwischen den Bällen größer, wo dann wieder ein kleiner rein passt.

Stefan Stiener: Genau, das ist wie ein guter Beton, der braucht bei der Körnung eine gewisse Zusammensetzung. Da gibt es große Kiesel, kleine und den Zement. Wir haben noch so wahnsinnig viele Leute da draußen, die egal in welchem Radbereich – und speziell in unserem Segment – so unglaublich unbedarft sind. Bei uns stehen immer noch Leute im Betrieb und staunen über die Rohloff: »Was, seit wann gibt es denn das?« Ja, ich glaube, jetzt seit sechzehn Jahren. Also da ist noch Luft.

Wie abhängig seid ihr bei Riese & Müller zum Beispiel von den Motorenherstellern, inwieweit kann man sich da noch mit eigenen Ideen emanzipieren?

Heiko Müller: Also ich betrachte es jetzt eher als die Aufgabe der Fahrradhersteller, die Integration des E-Bikes weiter voranzutreiben. Ich sage immer, das E-Bike von heute ist das Auto von 1920. Da sind wir wirklich noch ganz am Anfang. Wir schrauben noch Komponenten und Motoren an irgendwelche Rahmen und Gepäckträger dran, und ich habe da so eine Vision, dass aus dem E-Bike in den nächsten Jahren ein komplett anderes Produkt wird – das von der Designsprache, von der Wahrnehmung, von der Anpassbarkeit an verschiedene Personen viel mehr zu einem Fahrzeug wird, ähnlich wie der Vespa-Roller in den sechziger Jahren das motorisierte Zweirad revolutioniert hat. An der Stelle kommen natürlich auch die Komponentenhersteller ins Spiel, denn ich glaube, es wird in Zukunft immer wichtiger, dass man gemeinsam Produkte entwickelt, die zusammenpassen, die als finales Produkt zu einem integrierten Fahrzeug werden.

Ist es für euch auch ein Antriebsmoment für das doch sehr starke Wachstum in den letzten Jahren, dass man erst ab einer bestimmten Größe mit Bosch oder anderen Komponentenherstellern auf Augenhöhe diskutieren kann?

Heiko Müller: Auf jeden Fall. Also wir sehen eine Riesenchance für den E-Bike-Markt, und wir wissen einfach, dass man als Hersteller einerseits eine gewisse Größe am Markt braucht, um etwa im Fachhandel die nötige Wichtigkeit zu haben, und auf der anderen Seite gilt das genauso für die Komponentenhersteller. So haben wir die letzten Jahre unsere Pflöcke eingeschlagen, unser Vertriebsnetz aufgebaut, um für den nächsten Schub, auch den nächsten Wachstumsschub, gerüstet zu sein. Andererseits haben wir zum Beispiel einen sehr, sehr engen Kontakt zu Bosch, auch was Neuentwicklungen angeht, und da werden wir durchaus gefragt, was der Markt braucht. Das Gleiche gilt selbst für Shimano, wo wir mit den Leuten aus Japan sprechen und die uns dann befragen bezüglich irgendwelcher Entwicklungen. Dafür braucht man schon eine gewisse Größe, und das macht natürlich Spaß, wenn man merkt, man hat da einen Einfluss und kann Ideen gemeinsam umsetzen und gemeinsam Produkte schaffen, die mehr sind als die Summe ihrer Teile.

Nicolai ist ja im Orchester der Mountainbike-Hersteller eher kleiner. Wie stellt ihr sicher, dass ihr da trotzdem weit vorne mitspielt?

Karlheinz Nicolai: Ein einfacher Mechanismus ist es, immer zu fragen. Selbst wenn einem die Ideen mal ausgehen, reicht es, wenn man hinterfragt, welche Dinge bei einem Bike nicht technisch, sondern historisch begründet sind. Das Thema Kettenschaltung etwa kommt jetzt immer mehr unter Druck. Das in Kombination mit der Systemintegration wird genügend Themen für uns geben, auch die nächsten zwanzig Jahre mit dem Ball immer ein bisschen vor der Konkurrenz zu sein. Wir werden dieses Jahr zum Beispiel das erste vollgefederte Mountainbike bringen, das ein Pinion-Getriebe und einen Gates-Riementrieb mit richtig viel Federweg kombiniert. Genauso sehe ich es in der E-Bike-Entwicklung, wo ich mehr als Lohnentwickler tätig bin, als dass wir das Thema in der Firma Nicolai aufgreifen. Hier ist es die logische Konsequenz, dass die Schaltung und der Motor zusammenzuwachsen, weil die Schaltung – ein historisch gewachsenes Element – mit dem Elektromotor sozusagen vergewaltigt wurde.

Bei Velotraum scheint die Erfolgsidee, dass ihr nur die Zielgruppe im Blick habt. Und die ist speziell – nämlich genau der eine Kunde, der gerade vor einem steht. Richtig?

Stefan Stiener: Ja, genau. Bei uns ist es die Nähe zum Kunden und seinen Bedürfnissen. Wir haben über die Jahre eine Kompetenz entwickelt und gehen damit trotzdem schlank und produktiv um. Mit unserem Baukastensystem bieten wir eine kuratierte Auswahl dessen, was der Markt hergibt und was uns in jedem einzelnen Fall sinnvoll erscheint. Nicht alles wird ermöglicht, aber alles, was Relevanz und Wirksamkeit erzeugt. Da können wir dem Kunden wirklich Dinge bieten, die eine Betriebsgröße, wie sie Riese & Müller etwa hat, einfach unmöglich macht. Das ist schon eine Frage des Maßstabs. Was uns fehlt, wäre eine Produktion wie sie Nicolai hat. Da kommen wir inzwischen immer wieder an Grenzen. Wir könnten noch viel bessere Produkte machen im Sinne von »passender für den Kunden«, wenn wir eine komplett eigene Fertigung hätten und nicht immer Rücksicht auf die Befindlichkeiten und Möglichkeiten Asiens nehmen müssten. Wobei die Möglichkeiten dort sehr, sehr groß sind, bei uns geht es mehr um Befindlichkeiten, sprich: die ewige Diskussion um Stückzahlen, um Entwicklungszeiten und -kosten. Das ist das, was uns momentan eher ausbremst.

Wer kauft ein Riese & Müller-Rad?

Heiko Müller: Fangen wir mit dem Birdy an. Ein Faltrad ist meist ein Zweitrad, das im Urlaub oder Alltag seinen großen Auftritt hat. Es wird in irgendeiner Weise mit anderen Verkehrsmitteln wie Bus, Bahn, Wohnmobil oder PKW kombiniert. Für den einen ist es das »kleine Rad für zwischendurch«, für andere eine tragende Säule alltäglicher Pflichtmobilität, die durchs Birdy ein bisschen Fahrspaß und damit Lebensqualität erhält. Die Fahrer unserer E-Bikes legen Wert auf Qualität und Komfort. Ihnen verleiht der E-Motor einen dauerhaften Rückenwind und die Vollfederung sorgt für Komfort. Viele von ihnen entdecken mit dieser Kombination aus Motorunterstützung und Federung das Radfahren völlig neu.

Karlheinz Nicolai: Es klang ja oben schon öfter an. Wir haben Kunden, die unsere technische Innovationskraft schätzen, und es gibt Kunden, die schlicht gerne ein in Deutschland gefertigtes Rad fahren möchten.

Welche Infrastruktur braucht ein Velotraum-Rad?

Stefan Stiener: Nehmen wir das Thema Radreise … hier gibt es zwei Lager. Die einen Velotraum-Fahrer wollen eine wohlorganisierte, gut kartographierte und damit planbare Infrastruktur, wie sie die vielen Flussradwege oder etwa der Bodensee bieten. Am anderen Pol finden sich die Radler, für die ein gewisses Überraschungsmoment, das Unplanbare und Spontane einen Großteil der Faszination an Radreisen ausmacht. Da denke ich vor allem an unsere Stammkundschaft bei den klassischen Reiserädern, unter denen sich eine ganze Reihe Welt-Umradler tummelt. Das zeigt sich aber auch bei unserem Reise-Fatbike Pilger. Mit diesen breiten Reifen und den damit verbundenen Möglichkeiten treten Infrastruktur und Untergrund noch weiter in den Hintergrund.

Wie verhalten sich Nicolai-Räder und Infrastruktur zueinander?

Karlheinz Nicolai: Als engagierte Mountainbiker gibt es für uns zwei Aspekte. Zum einen natürlich die Trailsperrungen und Beschränkungen in der Natur. Zum anderen die Bikeparks. Gerade diese speziell auf die Bedürfnisse der Biker und Möglichkeiten moderner Bikes abgestimmten Strecken sind eine perfekte Bühne für unsere Bikes: Hier kann sich ein Nicolai-Rad technisch beweisen und seine emotionale Energie versprühen. Wer mit unseren Bikes auf einem Flowtrail einzigartigen Spaß hat, der schreibt dies nicht nur der Strecke, sondern auch dem Rad zu. Womit er auch ganz richtig liegt.

Vorsprung heißt Produktions- und damit Entwicklungszeit. Bei euch bedeutet das also antizipieren, was die Leute im Alltag brauchen könnten? Und auch den Mumm haben, eine Idee ein zweites Mal aufzugreifen, wenn ich »Gemini« und »Load« in Verbindung bringen will?

Heiko Müller: Also, wir würden heute kein Fahrrad mehr bauen, wo wir eine Stückzahl von 150 Stück im Jahr erwarten. Das war vor zehn, fünfzehn Jahren anders.

Aber vielleicht zeigt das Beispiel Gemini und Load ja auch, wie Konzepte durch den Einsatz eines Motors einfach an Attraktivität gewinnen können.

Heiko Müller: Klar, also gerade das Thema Transportrad ist ja noch komplett am Anfang und, wie du sagst, durch den Motor überhaupt erst marktfähig geworden. Ich sehe da eine große Entwicklung, die diesem Produktsegment noch bevorsteht. Natürlich mit einem völlig geänderten Konzept, aber zumindest die Idee Lastenrad mit E-Antrieb haben wir da wieder aufgegriffen. Das ist momentan noch kein Massenprodukt, aber ich gehe davon aus, dass sich dieses Segment positiv entwickeln wird, weil eigentlich jeder, der das mal länger benutzt hat, feststellt, dass man damit viele Mobilitätsaufgaben bewältigen kann. Während Nicolai sagt, wir sind einfach schnell in technischer Umsetzung, weil wir eine hohe Fertigungstiefe haben, sind wir einfach sehr gut und früh dabei, Ideen aufzugreifen. Wir sehen die Zielgruppe, bevor sie für die Großen eine Relevanz hat, bedienen sie, und in der Zeit haben wir unsere Ernte eingefahren.

Stefan Stiener: Offen gesagt, haben wir uns weitgehend von einer statischen Planung abgekoppelt. Freilich ist es nützlich, die mediale Energie einer Messe für die Vorstellung neuer Räder oder Generationen zu nutzen, aber letztlich präsentieren wir Modelle, wenn sie fertig sind und wir bereit sind, sie liefern zu können. Ein Velotraum-Rad ist kein Mitnahmeartikel, sondern das Ergebnis eines langwierigen Prozesses. Einen Teil machen wir für uns in der Entwicklung, das nimmt viel Vorlauf in Anspruch und darf es auch. Der zweite Teil findet dann mit dem einzelnen Kunden bei der individuellen Anpassung statt.

Karlheinz Nicolai: Wir machen bekanntermaßen auch viel Entwicklungsarbeit für anderen Marken und Firmen. Insofern sind wir eigentlich in einem Dauerzustand schöpferischer Ingenieursarbeit. Dass dies solide geschieht und das Ergebnis erst auf den Markt kommt, wenn es fertig ist, ist für unsere Firmenkunden genauso wichtig wie für unsere Nicolai-Kunden. Einen festen Modellzyklus im Jahrestakt gibt es bei uns nicht. Wir haben eine Taktung für neue Rahmen und Rahmenoptionen und eine Taktung für die Spezifikationen der Komplett-Bikes. Diese richtet sich in erster Linie nach der Verfügbarkeit neuer Komponenten. Wenn sich da etwas Sinnvolles tut und ausgereifte Bauteile zu bekommen sind, können wir schnell reagieren. Da warten wir auf keine Messe oder andere äußere Termine.

Welchen Stellenwert nimmt bei euch das Thema Standardisierung ein?

Stefan Stiener: Also bei uns steht das zum Beispiel im Bereich Bremsen immer wieder im Raum. Wir würden heute am liebsten alle Fahrräder nur noch mit Scheibenbremsen machen, weil wir dann einfach auch schon mal mit den Laufradgrößen viel flexibler wären. Auf der anderen Seite erleben wir tagtäglich, dass für viele Leute, so wie sie die Räder nutzen, die Felgenbremse immer noch wahnsinnig wichtig ist. Und da bin ich der Meinung, dass die Komponentenindustrie nichtzuhört.

Wir haben das an ein paar Stellen so ein bisschen angeschnitten. Es gibt ja einerseits dieses Optimierungsstreben, andererseits den Konstanzgedanken. Die sind in Konkurrenz, und das trifft sich ja am ehesten bei dem, was man gerne Standards nennt. Ich würde das ja eher Bemaßungen nennen, weil man bei Standard irgendwie denkt, man könnte sich da lange drauf verlassen. Aber Standard heißt ja nur, dass sich gerade ein paar Leute darauf geeinigt haben, dass das das nächste große, wichtige Ding ist. Mal anders gefragt: Auf wie viele Standards muss man sich festlegen, wenn man eine Größe hat wie Riese & Müller?

Heiko Müller: Natürlich ist das ein Thema, die Komponentenvielfalt nicht komplett ausufern zu lassen. Bei uns ist der Prozess eigentlich immer der, dass wir uns Komponenten auswählen, die wir für sinnvoll halten. Aus diesem Pool picken wir heraus, welche Komponenten wir dann für welches Modell einsetzen. Dabei schauen wir, dass die Vielfalt nicht zu groß wird. Trotzdem haben wir jetzt zum Beispiel fünf Laufradgrößen bei uns in der Produktion, von 18 bis 29 Zoll. Klar, wenn man in der Produktpalette eine gewisse Bandbreite abbilden will. Beim Thema Bremsen versuchen wir zum Beispiel schon, die Vielfalt deutlich zu reduzieren. So dass wir sagen, okay, es gibt bestimmte Komponenten, die funktionieren gut und die setzen wir dann auch an einer Vielzahl von Rädern ein. Ich brauche keine zehn verschiedenen Bremsen an unseren Rädern. Also das muss man schon optimieren. Das heißt aber auch, sich zu überlegen, an welchen Stellen Vielfalt sinnvoll ist.

Karlheinz Nicolai: Standards sind dafür da, eingeführt, verbessert und dann wieder abgesetzt zu werden. Umso weiter sich beispielsweise das Mountainbiken ausdifferenziert, desto weniger Gültigkeit erhalten Standards über eine gesamte Radkategorie. Nehmen wir nur einmal die Laufradgröße. Viele Jahre spielte sich MTB nur in 26 Zoll mit Reifenbreiten zwischen 1,75 und 2,5 Zoll ab. Seit einigen Jahren bewegen wir uns zwischen 24 und 29 Zoll bei Breiten von 1,75 bis 4,8 Zoll. Damit ist ein Quasi-Standard verschwunden, und viele neue Möglichkeiten haben sich aufgetan. Eine Herausforderung für Hersteller und Händler, eine Chance auf mehr Individualität für den Fahrer.

Welche Rolle spielen Komponenten und deren Innovation für euer Konzept?

Stefan Stiener: Zum Teil sehr wichtig, aber um ein Gegenbeispiel zu bringen: Ob eine Shimano-XT-Gruppe 30 oder 33 Gänge hat, ist für uns vollkommen irrelevant. Schöne Reifenentwicklungen oder Reifen-Felgen-Konzepte können dagegen total interessant sein und für uns ganz neue Fenster aufmachen, wie beim »Pilger«.

Wie wichtig ist bei Riese & Müller diese Wechselwirkung? Das Birdy hat ja seine Performance erst dadurch richtig entwickeln können, dass auf einmal Standardqualitätskomponenten auch in kleinen Größen zu kriegen waren.

Heiko Müller: Ja, das ist richtig. Komponenten spielen natürlich eine wichtige Rolle. Wir wählen die Komponenten aber sorgfältig entsprechend der Konzepte aus und versuchen, unsere Produktpalette nicht künstlich aufzublasen, sondern klar voneinander differenzierte Produkte anzubieten. Innerhalb eines Rahmenmodells konzentrieren wir uns dann auf drei oder vier maximal verschiedene Ausstellungsvarianten, um ganz klar sagen zu können, für den Kunden ist das die perfekte Schaltungskomponente oder Ausstattung. Inzwischen kann man auch bei uns durchaus mal eine Vorjahres-Deore-Schaltung oder DX-Schaltung verbauen, ohne dass ein Aufschrei durch die Klientel geht. Beim Mountainbike ist das natürlich eine völlig andere Geschichte, da muss immer die neueste Gruppe dran sein, weil die Kundschaft sich allabendlich durch die entsprechende Literatur auf dem neuesten Stand hält. Ich denke, unsere Kunden interessieren sich eher für das Konzept, für den Nutzen, für die Funktionen, als jetzt für jedes einzelne Teil. Aber es ist natürlich bei uns umso wichtiger, dass die Komponenten ordentlich funktionieren, das heißt, dass die Zuverlässigkeit hoch ist und die Wartungsintervalle lang.

Wie ist das bei Nicolai?

Karlheinz Nicolai: Wir nehmen die Komponenten sehr genau unter die Lupe. Alles was neu raus kommt, wird erst mal gefiltert und was wirklich nur Marketing ist, aber keinen Mehrwert bietet, aussortiert. Die Produkte, die dann wirklich Sinn machen beim Simplifizieren, wie jetzt zum Beispiel
1 x 11, sind alle sehr, sehr gut einsetzbare Entwicklungen. Daneben ist Langlebigkeit bei unseren Rahmen ja ein großes Thema. Entsprechend haben wir auch bestimmte Anforderungen an die Komponenten. Es kann ja nicht sein, dass ein Mountainbike-Fahrer drei Mal in der Saison sein Innenlager wechseln muss. Vor zwei Jahren haben wir angefangen, komplette Bikes anzubieten, weil die Kunden heute wenig Zeit haben und es viele gibt, die unserer Auswahl der besten Komponenten vertrauen. Das ist aber immer noch ein relativ kleiner Teil; der typische Nicolai-Kunde hat im Keller eine besser ausgestattete Werkstatt als sein Fahrradhändler, kennt sehr genau alle Komponenten und baut sich das Rad selbst zusammen.

Stefan, ihr kriegt von Shimano oder Sram die gleiche Komponentenkiste geschickt und baut da jeweils drei völlig unterschiedliche Räder raus, die in sich aber eine geschlossene Logik haben. Das finde ich ja total spannend. Trotzdem oder gerade deshalb gibt es in jedem Bereich Dinge, die die Entwicklung verändert haben. Also bei euch mit Pinion oder Rohloff, die Fahrrad einfach anders gemacht haben. Mit Blick auf tatsächliche oder potenzielle Velotraum-Kunden: Wo sagst du, das sind die Komponenten und technischen Bereiche, wo ich mir a) was wünsche oder wo ich b) noch etwas sehe? Was wird der nächste Impulsgeber sein?

Stefan Stiener: Also für uns ist es wirklich zum einen die Reifenentwicklung, aber dann würde ich gleich auch die Systementwicklung Reifen-Felge nennen – nicht so sehr die Laufradgröße, da reagieren wir einfach auf das, was sich am Markt durchsetzen wird.

Reifenbreite ist die neue Reifengröße?

Stefan Stiener: Das ist sicherlich ein ganz wesentlicher Aspekt, auf den wir ein besonderes Augenmerk haben. Aber die Impulse generieren wir nicht unbedingt selbst oder die Zulieferer. Eine Besonderheit von Velotraum ist ja, dass wir sehr stark direkt mit dem Kunden arbeiten. Nur die Hälfte unseres Geschäfts geht über Händler, das andere machen wir vor Ort. Wir betreuen so langsam schon Generationen innerhalb einer Familie, und da kommt dann irgendwann die Generation, die sagt, jetzt möchte ich in dem und dem Bereich gerne Unterstützung haben. Das wird für uns weiterhin ein Thema sein, das wir allerdings auf einer kleinen, velotraumspezifischen Flamme kochen.

Kalle, welche Impulse siehst Du bei der Reifenfrage?

Karlheinz Nicolai: Die Weiterentwicklung der Komponenten ist natürlich auch die Grundvoraussetzung für neue und bessere Produkte auf unserer Seite. Wir müssen jetzt momentan erst einmal Erfahrungen sammeln mit 27,5-Zoll-plus-Bereifung. Manche Sachen underraten wir auch manchmal, wie zum Beispiel das Produkt Fatbike, was einen Megaspaß macht. Da hat man eigentlich gar nicht mit gerechnet und sagt jetzt: »Hoppla, das haben wir jetzt mal total unterschätzt, wie viel Mehrwert beim Radfahren man dadurch induzieren kann«. Die tiefe Kenntnis jeder Komponente, die neu rauskommt, ist wichtig für den weiteren Erfolg auch von Nicolai. Aber wir sind natürlich sehr stark vernetzt mit der Industrie und werden auch oft gefragt: »Was sollen wir denn jetzt mal machen?« Da kann man auch gut ein wenig steuern. Oder wir versuchen unsere Ziele zu erreichen, indem man dem einen oder anderen Komponentenhersteller schon mal einen Schubs in eine Richtung gibt.

Heiko Müller: Laufradgrößen folgen der Funktion und der Verfügbarkeit geeigneter Komponenten. Das Birdy-Faltrad entfaltet seine Fahrdynamik erst vollends, seit es geeignete Hochdruckreifen auch in 18-Zoll-Größe gibt. Umgekehrt muss man aber auch nicht alle Größenmöglichkeiten um ihrer selbst willen anbieten. Wir bieten die kleinen Rahmenhöhen mit 26-Zoll-Rädern an, die großen gibt es in 29 Zoll. Das macht technisch, ergonomisch und fahrdynamisch Sinn. So halten wir das auch in Zukunft.

Ich würde gerne noch einmal auf den Punkt Bremsen zu sprechen kommen. Warum ist es verfrüht, das Ende der ­Felgenbremse auszurufen?

Stefan Stiener: Ein Stück weit hängt das mit einer gewissen Alltagsverblödung zusammen. Alltagstauglichkeit heißt ja auch, dass man einfache Dinge noch selbst machen kann. Bei der Scheibenbremse geht es dagegen so weit, dass die Leute nicht in der Lage wären, ein Laufrad mit Scheibenbremse auszubauen und wieder einzubauen, ohne dass sie Leib und Leben riskieren. Das ist bei unseren Kunden zum Teil so. Und deshalb ist die Felgenbremse für uns weiterhin ein total wichtiges Thema. Das Blöde ist, dass die einzige hydraulische Bremse von Magura kommt und die ihr eigenes Brot backen. Das Produkt wird extrem stiefmütterlich behandelt. Also früher oder später müssen wir uns davon verabschieden, weil wir einfach keine vernünftige Hardware mehr dafür bekommen, wo wir sagen können, »Wow, das ist immer noch eine gute Lösung«.

Scheibenbremsen sind ja auch ein sehr gutes Beispiel für den Transfer von Mountainbike- oder Sporttechnik in den Alltag. Heiko, ihr habt sie verbaut und seid für Modelle im norddeutschen Raum wieder davon abgekommen, wegen der Problematik der einfach nicht durchgeheizten Systeme.

Heiko Müller: Genau, also wir haben irgendwann angefangen, das Schwachbremsverhalten von Bremsen zu beurteilen. Das haben wir früher gar nicht in Erwägung gezogen, ist aber ein Punkt, warum für manche Modellreihen die klassische HS33 doch die bessere Bremse ist als die Scheibenbremse.

Karlheinz Nicolai: Für uns ist Mountainbiken ohne Scheibenbremse einfach nicht mehr denkbar.

Stefan, jetzt kommt eine Frage genau für dich: Im Zeitalter von Internet und Kurierdiensten, wo ich eigentlich jedes Ersatzteil binnen 72 Stunden an jeden Flecken des Planeten bringen kann – warum gibt es da bei einem Reise­rad noch die Argumentation mit der Reparierbarkeit?

Stefan Stiener: Da gibt es eine erhebliche Differenz zwischen der virtuellen Realität, von der immer mehr meinen, dass es auch die Realität der Dinge sei, und dem tatsächlich Möglichen. Das Besorgen des richtigen Ersatzteils ist nicht immer so einfach, wie man sich das vorstellt. Wir haben jetzt erst ein schönes Beispiel gehabt, da haben selbst in Australien die Leute das Zeug nicht aus dem Zoll gekriegt. Für mich fing die Fahrraddiaspora manchmal in Kroatien oder irgendwo in Italien schon an, wo es nicht mehr so einfach ist, Teile zu bekommen.

Wenn vier Experten über den Fahrradmarkt fachsimpeln, dann ist auch nach 18 Seiten Interview erst die Hälfte ­gesagt. Den zweiten Teil des Inter­views mit Heiko Müller, ­Stefan Stiener und Karlheinz Nicolai finden sie hier: velobiz.de/article/13848

17. August 2015 von Gunnar Fehlau

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