27 Minuten Lesedauer
Die Gesprächspartner vor 20 Jahren.
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Interview - Müller, Stiener, Nicolai

20 Jahre, 1 Werkstoff, 3 Konzepte - Zweiter Teil

Gunnar Fehlau fachsimpelt mit drei Vordenkern der Fahrradbranche und sprengt damit auch die bisher üblichen Dimensionen für Beiträge in velobiz.de Magazin. Hier ist der zweite Teil des Interviews mit Heiko Müller, Stefan Stiener und Karlheinz Nicolai.

Also doch nicht alles Gold, was glänzt. Wie hat sich die digitale Revolution des letzten
Jahrzehnts bei Riese & Müller niedergeschlagen?

Heiko Müller: Das Internet ist ein riesiges Schaufenster, in dem auch wir aktiv sind. Hier wird sich informiert und ausgetauscht. Das ist gut, wichtig und richtig. Doch das Internet ersetzt keine Probefahrt und keinen Service vor Ort, deshalb gibt es unsere Räder nicht im Internet zu kaufen.

Und Nicolai?

Karlheinz Nicolai: Das Internet erlaubt es uns, mit Kunden, Fans und Freunden von Nicolai rund um den Globus einfach in Kontakt zu bleiben. Das ist für uns ein wichtiger Faktor für das internationale Geschäft und für Kunden aus den Regionen, in deren Nähe sich kein Nicolai-Händler befindet. Unser Erfolg stützt sich auch aufs Internet.

Gibt es den Velotraum-Zyklus und wie steht der zum Branchenzyklus?

Stefan Stiener: Wir haben schon auch ganz leicht noch diesen Branchenzyklus. Er hat sich abgeschwächt, keine Frage. Aber dadurch, dass wir mit dreißig Händlern zusammenarbeiten, bringen diese den Rhythmus ein Stück weit mit. Wir erleben einfach, dass viele Händler mental irgendwann im Oktober, November in den Wintermodus schalten. Sicherlich aus dem Grund, dass sie zum Teil einfach tief erschöpft sind, zum anderen aber auch, weil sie das schon immer so machen. Wir haben den Vergleich bei uns vor Ort und da sehen wir schon, dass wir teilweise im Januar höhere Auftragseingänge verzeichnen als vielleicht im Juli oder August. Das ist etwas, da müssten wir die Händler ändern, um vom Saisonzyklus wegzukommen. Das können wir nicht, also schauen wir, wie wir damit klarkommen. Zur Eurobike ist das für uns ein notwendiges Übel, weil sie einfach sehr teuer und sehr personalressourcenintensiv ist. Das kann für ein kleines Unternehmen schon ein Problem sein. Deshalb versuchen wir, unsere Neuheiten dort zu präsentieren. Aber insgesamt laufen bei uns die Entwicklungen meistens durch. Und wenn es sich strategisch oder terminlich doch ergibt, dass man zur Eurobike „Hier!“ schreien kann, dann machen wir das. Ansonsten juckt uns das aber auch nicht besonders.

Zum Thema Saisonzyklus habt ihr drei ja doch unterschiedliche Ansätze. Stefan hat gerade das Wechselverhältnis zwischen Saisonzyklus und Neuheitenzyklus bei Velotraum erklärt. Seid ihr durch euer Wachstum und eure Vertriebsnetzoptimierung, Heiko, näher am bisherigen Zyklus der Branche dran? Und wie beständig siehst du diesen Zyklus für die Zukunft?

Heiko Müller: Wie beständig der ist, das weiß ich nicht. Aber es ist tatsächlich so, dass wir voll in diesem Zyklus sind. Die Präsentation der neuen Produkte findet um die Eurobike herum statt. Dann Vororder, die die Händler schreiben und dann dementsprechend der Abverkauf über die Saison. Was wir allerdings versuchen, ist, dass wir über das ganze Jahr lieferfähig sind. Was wir also umgekehrt nicht machen ist, dass wir 90 Prozent unserer Verkäufe über die Vororder abwickeln, die spielt bei uns eine deutlich kleinere Rolle. Wir haben den Anspruch, dass wir unsere Kunden das ganze Jahr über bedienen können. Das liegt auch daran, dass bei uns die Räder von den Kunden speziell ausgewählt werden. Selbst wenn es letztlich nicht so viele Optionen gibt wie hier bei den Mitsprechern rechts und links, aber allein über die Möglichkeiten die du hast, das Rad auszuwählen, ergeben sich so viele verschiedene Produkte, dass ein Händler natürlich nicht mehr alle vorhalten kann. Das heißt, das klassische Geschäft, dass der Händler die Produktplatte im Laden zeigt und dann in der Saison die Kundenbestellungen individuell platziert, das ist bei uns auch so, und insofern versuchen wir das ganze Jahr über entsprechend lieferfähig zu sein. Um damit noch einmal auf den Saisonzyklus zu kommen, sind wir schon ziemlich nah am gewohnten Ablauf und ich sehe da jetzt auch kurz- oder mittelfristig keine Abkehr davon.

Der zweite Aspekt, über den man dann diskutiert, ist ja die Jahrestaktung. Muss man jedes Jahr etwas Neues bringen?

Heiko Müller: Nicht notwendig. Wir haben auch Modelle, die über mehrere Jahre durchlaufen. Bei uns laufen Farben zum Beispiel über mehrere Jahre, was nicht unbedingt üblich ist in der Branche. Also wir achten schon darauf, dass ein Modell und auch eine spezielle Modellausstattung über zwei, drei, vier Jahre relativ konstant auf dem Markt bleibt. Natürlich gibt es da jedes Jahr kleinere Komponentenanpassungen. Die gibt auch der Markt vor. Wenn mein Zulieferer seine Komponenten wechselt, dann habe ich keine andere Chance, als die auch bei uns anzupassen. Wir haben aber den Anspruch, eine langfristige Produktgestaltung beizubehalten. Für uns und unsere Kunden ist es der Worst Case, wenn sie sich im Mai oder im Juni ein neues Fahrrad kaufen, um dann im August festzustellen, dass das Modell eigentlich veraltet ist. Das wollen wir unbedingt verhindern und deswegen ist uns diese Konstanz so wichtig.

Wir haben über Jahrestaktung gesprochen, den Eurobike-Rhythmus sowie Beständigkeit und Verlässlichkeit bei den Produkten. Was haben wir aus deiner Sicht vergessen, Kalle?

Karlheinz Nicolai: Die sportlichen Fahrer oder die Menschen, die sich neue Mountainbikes kaufen, die regt das oft ziemlich auf, dass was vor zwölf Monaten gepredigt wurde, heute auf einmal nicht mehr stimmen soll. Von daher gibt es auch eine Kundschaft, die sich Konstanz wünscht, und die Konstanz versuchen wir zu erreichen, indem wir zum einen Komponenten so auswählen, dass wir wissen, sie funktionieren einfach. Wir hypen nicht das Neue so sehr, dass das Alte als Müll angesehen wird, denn dann ginge man einfach despektierlich mit dem Kunden um und mit dem Geld, das er vor zwölf Monaten ausgegeben hat. Nur weil ich bedingungslos die neuen Dinge feiere, habe ich noch kein beständiges Geschäft geführt. Zum anderen bringen wir ein Produkt, wenn es fertig ist und nicht, weil die Eurobike vor der Türe steht. Je älter wir werden, desto weniger lassen wir uns von solchen Veranstaltungen beeindrucken. Vor allem, weil bei der Eurobike alle schreien, dass sie etwas Neues haben. Da wird man ohnehin nicht so sehr gehört. Dieses Jahr haben wir sogar unsere Hausmesse antizyklisch auf den 17. bis 19. April gelegt, um zum Saisonstart neue Produkte zu präsentieren. Wir werden auch noch ein Pressecamp im Sommer machen, zu dem wir Neuheiten zeigen werden. Aber Produkte werden gemacht, wenn sie getestet sind, wenn sie validiert sind und wenn sich herausgestellt hat, dass sie besser sind als das, was wir in der Vergangenheit gemacht haben. Wir sind auch an der Stelle gar nicht so getrieben, weil wir das Glück haben, dass wir unterschiedliche Kunden, unterschiedliche Rhythmen haben. Deswegen können wir auch von einer Vollauslastung sprechen, was die Produktion angeht. Es gibt Kunden, die fangen im August an zu planen, weil sie im November das neue Bike haben wollen, das sie über den Winter aufbauen und mit dem sie im Frühjahr starten. Es gibt die Kurzentschlossenen, die wollen im Frühjahr auf dem neuen Rad sitzen. Dann gibt es die, die das Bike vom Kumpel fahren und sagen: „Verdammt, so eins will ich jetzt auch“. Die kaufen halt im Juli oder August. Also von daher sind wir – Gott sei Dank – diesem Rhythmus nicht so stark unterworfen. Die neuen Reifenbreiten bringen jetzt auch mehr Spaß im Winter. Diese Saisonalität stellt uns nicht vor schlimme Herausforderungen, in keinster Weise.

Stefan, du hast eben gesagt, Velotraum verzeichne im Februar höhere Auftragseingänge als zum Beispiel im Juli. Denkst du, das liegt daran, dass sich die Kaufentscheidung von kurzfristigen Fragen nach Saison oder Witterung desto mehr entkoppelt, je mehr die Menschen bereit sind, in ihr Rad zu investieren?

Stefan Stiener: Unbedingt. Also ich erinnere mich an Zusammenkünfte, als 30 cm hoch Schnee lag und man dachte: „Mein Gott, da kommt doch kein Mensch“. Unsere Kunden kommen ja von überall her. Aber alle vereinbarten Termine wurden eingehalten. Teilweise ohne Probe zu fahren, haben die Kunden sich sehr aufwändige, teure Räder machen lassen. Ich schließe mich da meinen Vorrednern an: Auf die Wertbeständigkeit von solchen teuren Produkten, wird ein sehr, sehr großes Augenmerk gelegt. Auch in Sachen Haltbarkeit. Zehn Jahre werden da gern einfach unterstellt, ohne überhaupt darüber zu sprechen. Und das teilweise bei einer strammen Nutzung. Wir erleben manchmal, dass die Leute sagen: „Mein Rahmen ist jetzt zehn Jahre alt, ich würde den neu beschichten lassen“. Und dann versuchst du ganz vorsichtig zu fragen, ob es sich lohnt, einen zehn Jahre alten Rahmen neu beschichten zu lassen, mit Ablaugen und allem drum und dran.

Gut, aber dann kommt die Emotionalität wieder ins Spiel.

Stefan Stiener: Genau, das hat ganz stark diesen Aspekt, ja natürlich.

Heiko, ist in den letzten zwanzig Jahren der Erstkäufer immer mehr zum Testfahrer geworden? Kommen die Produkte heute von der Komponentenseite zu früh auf den Markt? Ist es schlau, als Hersteller manchmal zu warten, bis die Komponenten ihre Kinderkrankheiten abgelegt haben? Kann man überhaupt warten? Könnt ihr bei einem neuen Bosch-Motor sagen: „Wir warten erst mal ein halbes Jahr, bevor wir den verbauen“?

Heiko Müller: Das kannst du natürlich nicht mehr machen. Mein Eindruck ist allerdings auch, dass die Produkte, die neu auf den Markt kommen, deutlich ausgereifter sind als vor zwanzig Jahren. Sowohl die Zubehörprodukte als auch die kompletten Fahrräder. Die Fahrradhersteller von heute gehen mit ganz anderen Teststandards an die Räder heran. Alle haben über die letzten Jahre enorm viel Erfahrung gesammelt. Als wir angefangen haben, vollgefederte Alltagsräder anzubieten, gab es dieses Produktsegment in der Form überhaupt nicht. Es gab die klassischen Stahlfünfeckrahmen, mit denen die Leute auf Tour gegangen oder im Alltag gefahren sind, und es gab vollgefederte Mountainbikes. Aber das hochwertige Alltagsrad mit Federung gab es nicht. Wir haben uns damals unsere eigenen Teststandards überlegt und über die Jahre unsere Kriterien angepasst, unsere Berechnungsgrundlagen und natürlich auch die Berechnungsverfahren deutlich verbessert. Also wir sind längst weg davon, dass ein Rad auf den Markt kommt und in den ersten ein, zwei Jahren erst mal größere Reklamationswellen auf uns zukommen. Das war in der Pionierzeit anders, und das hängt ganz klar damit zusammen, wie sich Produktgruppen und Anwendungen entwickelt haben und welche Erfahrungen dort gesammelt wurden.

Kalle, was ist mehr gewachsen, die Qualität der Produkte oder die Sensibilität und der
Anspruch der Endverbraucher?

Karlheinz Nicolai: Wenn man die Branche retrospektiv betrachtet, gibt es die drei Firmen auch, weil es vor 20 Jahren so viele schlechte Fahrräder gab. Heute zu überleben ist umso schwieriger, weil das nicht mehr so ist. Gerade im Fachhandel ist die Anzahl der guten Fahrräder enorm gewachsen. Und so lieb mir manchmal kleine Zulieferer sind: Sie werden immer weiter verdrängt, denn man wird heute zum Beispiel ungern einen neuen Stoßdämpferhersteller spezifizieren. Man weiß nicht, ob dieser Dämpfer funktioniert und der Hersteller über die Mechanismen verfügt, die Funktion konstant über die ganze Serie zu gewährleisten. Das ist das Gute an den großen Herstellern. Man kann sich ein Stück weit drauf verlassen, dass die Produkte nicht so schlecht sind wie vor zwanzig Jahren. Umgekehrt ist es ein klares Statement und auch die Herausforderung für die nächsten zwanzig Jahre, dass wir als Kleine hier am Standort Deutschland, wie schon vor zwanzig Jahren, immer noch das um ein Quäntchen bessere Fahrrad liefern. Das denke ich, eint uns drei. Ich denke auch, dass wir alle Firmen sind, die die Großen der Branche morgens um sieben auf der Eurobike besuchen, wenn wir selbst noch nicht da sind, und dass diese dann sehr genau hinsehen, was wir gerade so treiben. Das liegt in der Natur der Sache, und ich denke schon, dass wir alle drei so stark gewachsen sind, dass wir unseren Vorsprung halten können. Jetzt und für die nächsten Jahre, da bin ich mir ziemlich sicher.

Wenn ich darauf schaue, wie sich in den letzten zwanzig Jahren Fahrräder verändert haben, sehe ich beim Mountainbike, dass das Thema Geometrie richtig Fahrt aufgenommen hat. Die Längen, Winkel, allgemein die Passform hat sich dramatisch verändert. Ist das das nächste große Thema für euch, Kalle? Die Kunden haben bei Nicolai schneller als in der Großserie die Chance, ganz besondere geometrische Wünsche umzusetzen, die mit dem eigenen Fahrstil, dem eigenen Körper oder dem bevorzugten Terrain zu tun haben. Ist das nächste große Thema Ergonomie?

Karlheinz Nicolai: Ja. Denn Geometrie, Ergonomie, Fahrwerk, das hängt alles zusammen. Die Art und Weise, wie Mountainbike gefahren wird, ändert sich. Wenn ich heute in einen Bikepark nach Kanada fahre, da wird so Fahrrad gefahren wie vor 25 Jahren Motorrad gefahren wurde. Die Geschwindigkeiten, die Querbeschleunigungen, die Kurvengeschwindigkeiten, all diese Dinge waren vor zwanzig Jahren so nicht existent. Wenn ich in solche Bereiche gehe, muss ich auch die Geometrien ändern, also längerer Radstand, flacherer Lenkkopf, tieferes Innenlager. Nicht in erster Linie, weil die Fahrräder von damals alle schlecht waren, sondern weil die Leute heute völlig anders Mountainbike fahren als vor zwanzig Jahren. Das wird nicht mehr im Schneckentempo um den Baum gezirkelt, sondern lieber auf flowigen Trails gefahren, auf denen man dann auf eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 25 km/h kommt. Das war in dieser Form damals gar nicht möglich. Heute habe ich Federungskomponenten, die vieles platt bügeln, was mir im Weg herum liegt. Trotzdem muss ich immer wieder die letzten drei Prozent on top herausholen, um mich weiter zu entwickeln. Das faszinierende an unterschiedlichen Sportlergenerationen ist ja, dass das immer noch dieselben Menschen sind, mit den gleichen Genen. Aber jede weitere Sportlergeneration ist seltsamerweise zu viel höheren Leistungen fähig. Wir freuen uns immer wieder, wenn wir die neuen Fahrer mit den neuen Fahrstilen erleben. Daher kommt auch gleichzeitig der Drive, die neue Idee, was jetzt geschehen muss, um das Fahrrad zu dieser Zeit wieder ein Stückchen besser zu machen. Sei es die Reifengröße, ein längerer Radstand, andere Winkel, das sind die Themen heute, die waren vor sieben Jahren kein Thema.

Stefan, ein anderer Anwendungsbereich, aber das gleiche Thema bei euch, oder?

Stefan Stiener: Geometrie stellt bei uns nur einen Teilaspekt dar, wir verfolgen ja von Anfang an einen viel umfassenderen Ansatz. Selbstverständlich ist Ergonomie beim Reiserad ein Riesenthema. Im Extremfall verbringt der Kunde auf unseren Rädern Wochen am Stück im Sattel. Wie Kalle schon sagt, lernen wir da natürlich auch von den Bedürfnissen unserer Kunden, auch wenn die Veränderungen der letzten zwanzig Jahre vielleicht nicht so extrem sind wie im Mountainbike- Bereich. Es ist sicherlich so, dass das Ergonomiethema beim E-Bike und Alltagsrad nicht so im Vordergrund steht wie beim Mountainbike oder Rennrad und deshalb oft insgesamt zu wenig beachtet wird. Ich denke, das liegt einfach daran, dass man im Alltag an dieser Stelle toleranter sein kann, weil man nicht das berühmte letzte Prozent aus seinem Körper herauskitzeln muss.

Heiko, eine Steilvorlage für dich als Hersteller elektrifizierter Alltagsräder, oder?

Heiko Müller: Ich würde umgekehrt sagen, Ergonomie ist ein wichtiger Faktor, der Menschen oft vom Radgenuss abhält. Das erklärt(e) zum Beispiel auch den Erfolg unserer analogen Räder: Dank Vollfederung und ergonomischem Rahmendesign waren sie viel komfortabler zu fahren als die meisten anderen Räder der Zeit. Dies hat sich durch den E-Antrieb nochmals verstärkt und hier bleibt nach wie vor ein großes Potenzial, bei grundlegend ähnlicher Technik auch weiterhin für die Alltagsanwendung bessere Räder zu verwirklichen.

Was bedeutet für euch Deutschland als Standort eurer Unternehmen? Welche Vor- und Nachteile seht ihr?

Stefan Stiener: Ein klares Problem für uns ist nach wie vor das Image der Fahrradbranche. Ich habe es wirklich schwer, gute neue Leute zu finden.

Ihr seid auch mitten in einer Autoregion, das verschärft das vielleicht noch.

Stefan Stiener: Genau – und das kann sich kaum einer vorstellen. Wir bilden ja auch aus. Kürzlich hatte ich wieder eine Schulklasse da, und für die war das echt neu, dass es Firmen da draußen gibt wie Velotraum oder Riese & Müller oder sogar Nicolai. Man muss denen zeigen, dass es auch im Fahrradbereich total interessante Jobs gibt, tolle Firmen. Die meisten kennen ja nur ihre krautigen Fahrradhändler, die bis zur völligen Selbstaufgabe schuften. Da ist ja nichts sexy, so toll das Produkt auch ist!

Heiko, was genau heißt bei euch eigentlich Produktionsstandort Deutschland?

Heiko Müller: Wir kaufen die Rahmen in Asien ein, von einem Zulieferer, mit dem wir schon zwanzig Jahre zusammenarbeiten, der Rest wird hier in Deutschland montiert. Ein wichtiges Thema bei der Produktion vor Ort ist natürlich der Kostendruck, von den Mieten bis zu den Personalkosten. Da musst du extrem scharf kalkulieren, wenn du die klassischen 499- oder 799-Euro-Trekkingräder anbietest. Aber auch im Premiumsegment, wo du vielleicht etwas Spielraum hast in der Kalkulation, wirst du am Markt verglichen und musst viel Geld dafür ausgeben, deinen Preis zu erklären. Der damit natürlich noch steigt. Das ist ein gewisser Teufelskreis. Dann über die Jahre ein Wachstum zu finanzieren mit der hiesigen Kostenstruktur, das ist schon eine echt harte Aufgabe. Da hätte man es natürlich im Ausland mit allen Vorzeichen ein bisschen leichter. Aber auf der anderen Seite stehe ich zu dem Standort und ich lebe auch gerne in Deutschland. Dann muss ich mich mit den Rahmenbedingungen arrangieren.

Kalle, ihr baut Rahmen komplett in Deutschland, was ist deine Perspektive?

Karlheinz Nicolai: Ich denke, dass die Rahmenfertigung nach Europa zurückkommen wird – und zwar bei den ganz Großen. Denn wenn zum Beispiel ein namhafter Hersteller etwa 60.000 seiner E-Bikes mit Mittelmotor pro Jahr verkauft, dann bedienen die sich jetzt schon dreier Fabriken in China. Für 60.000 Räder im Jahr kann man sich auch hier eine automatisierte Produktionslinie hinstellen. Also fängt es genau da wieder an, wo es zuerst ausgestorben ist, bei den Megastückzahlen. Der nächste Aspekt ist das Vor-Ort-Argument: Beim Gemüse achte ich ja auch darauf, dass es aus der Nähe stammt. Ebenso kann man sich mal fragen, wo das Fahrrad herkommt. In den USA wird damit sehr offensiv umgegangen: Ein hiesiges Produkt, das sichert amerikanische Arbeitsplätze. Natürlich kann der Preis dann nicht das Hauptargument sein.
Der Standort Deutschland bringt aber auch unternehmerische Probleme mit sich: Baugenehmigungen, die drei Jahre dauern oder Bankfinanzierungen, die aus seltsamen Gründen abgelehnt werden … so eine allgemeine Unternehmerunfreundlichkeit. Man wird mit knallharten Erwartungshaltungen des Staates konfrontiert, die man bedienen muss. Wenn z B. meine Sekretärin Tage damit zubringt, Statistiken auszufüllen, fühlt man sich manchmal wie eine gemolkene Kuh.

Heiko Müller: Ja, das kann ich bestätigen. Das ist auch echt noch mal härter geworden in den letzten Jahren. Ich habe das Gefühl, es kommen jedes Jahr drei neue Verordnungen hinzu, Entsorgungsstatistik und dergleichen …

Karlheinz Nicolai: Oder Brandschutz zum Beispiel. Am Ende muss man es vielleicht so sagen, dass der Vorteil geordneter Strukturen in Deutschland an anderen Stellen genauso zum Nachteil werden kann.

So gleich ihr mit eurem generellen Anspruch seid, das bessere Produkt abzuliefern, so unterschiedlich definiert ihr es. Der eine mit Performance, der andere mit Alltagsnutzung und Nutzwert, der dritte mit Reiselanglebigkeit und Ergonomie. Es ist spannend, dass es da drei Firmen gibt, die mit unterschiedlichen Ideen drei Mal Erfolgsgeschichten darstellen. Wir haben jetzt aber die ganze Zeit über eure Eigenwahrnehmung gesprochen. Lasst uns zum Schluss doch mal die Perspektive wechseln. Stefan, wo ist Nicolai in zwanzig Jahren? Bauen die die Rahmen für euch?

Heiko Müller: Willst du dann die Provision einsacken?

Ja, da war doch was. Irgendein Geschäftsmodell muss ich ja auch intensivieren.

Stefan Stiener: Spaß beiseite, ich sehe da hervorragende Perspektiven, wenn die Fremdentwicklung nicht zu viele Ressourcen verbraucht und sich die Firma Nicolai sozusagen nicht verzettelt – und wenn sie es schafft, weiterhin diese Produktion im eigenen Land durchzuziehen. Etwas skeptischer bin ich nämlich bei der Frage, ob die Aluminiumrahmenproduktion wirklich wieder nach Deutschland zurückkommt. Ich glaube, dass das für lange Zeit noch ein extremes Alleinstellungsmerkmal bleibt, diese Möglichkeiten vor Ort zu haben, seine eigenen Ideen stringent umzusetzen, ohne auf Partner angewiesen zu sein. Und klar, mit dem Quer-Know- How aus dem Motorcross-Sport und sonstigen Ingenieursarbeiten ist genügend Vorsprung und Input da, um eben immer diese kleine Nuance vorne dran zu sein. Ob die Velotraum-Rahmen mal bei Nicolai gefertigt werden? Ich denke, da muss Nicolai aufpassen. Wenn sie zu viel Fremdproduktion reinnehmen, bleibt vielleicht zu wenig Kapazität übrig. Aus unserer Sicht wäre eine Kooperation durchaus wünschenswert – nicht für das Volumen unserer Produkte, weil dann einfach der Preis zu hoch würde, aber für so ein paar Spezialitäten, wo wir sogar gerne noch kleinteiliger werden würden. Sollten sich bei Nicolai mal Kapazitätsüberhänge ergeben, sehe ich also wunderbare Möglichkeiten. Man muss halt immer schauen, mit wem man zusammenarbeitet, weil es unter den Kleinen viele gibt, die relativ klamm sind.

So Heiko, du hattest jetzt ein paar Minuten Zeit, dir zu überlegen, wo Velotraum …

Heiko Müller: Velotraum? Also, ich hatte gerade schon über Nicolai nachgedacht.

Nee, dann hätte Stefan wieder über sich reden müssen.

Heiko Müller: Ja, das stimmt.

Das war sogar Geisteswissenschaftlermathematik.

Heiko Müller: Also ich denke, dieses Streben nach Individualität in allen Bereichen ist ein Thema, was auch auf Dauer Bestand haben wird. Ich sehe das auch in anderen Branchen: Der Wunsch, sich mit dem Produkt, was ich benutze, abzuheben vom Massenmarkt und einfach für mich das richtige Produkt zu finden, das ist keine Mode für mich, sondern ich will fast sagen ein Grundbestreben der Menschheit. Jeder hat so seinen Bereich, in dem er sich austoben will. Es ist ganz wichtig, dass Velotraum, wie in den letzten zwanzig Jahren, diese speziellen Kunden im Blick hat und immer wieder technisch up-to-date ist. Du darfst nicht den Fehler machen, irgendwann in Nostalgie abzurutschen, sondern musst ständig vorne dran bleiben, musst aktuelle Marktströmungen, aktuelle Technologien auf dem Schirm haben. Das Thema Individualität ist ein wichtiges und insofern sehe für die nächsten zwanzig Jahre keine Notwendigkeit, diese Grundausrichtung über den Haufen zu werfen. Ob das dann 700 oder 15.000 Fahrräder sind, wird sich zeigen, aber die schieren Stückzahlen sind ja gar nicht das, was euch bewegt, sondern der Anspruch, eine solide Firma zu sein, die ein bestimmtes Segment bedient.

So, kannst du bitte noch folgenden Satz sagen, damit ich das Zitat von dir habe?

Heiko Müller: Ja?

„Wir sind den zwei Millionen E-Bikes im Jahr näher, als der Merkelschen Million E-Autos.“

Heiko Müller: Ja, das sehe ich auf jeden Fall so!

Aber Flachs beiseite: Findet das mit einer eigenen Rahmenproduktion statt? Und wie elektrifiziert sind die Räder in zwanzig Jahren?

Heiko Müller: Also, eine eigene Rahmenproduktion ist nicht zwangsläufig nötig. Das steht und fällt damit, wie eng man mit einem Rahmenzulieferer zusammenarbeitet. Wenn wir mit unseren Partnern nicht unsere speziellen Konzepte machen könnten, würde unser Geschäftsmodell nicht funktionieren. Ich glaube, dass auch Velotraum in den nächsten Jahren nicht um die Elektrifizierung herumkommt. Dieses Thema wird sich noch deutlich mehr durchsetzen als es momentan der Fall ist. Die Stückzahlen oder die Anteile des elektrifizierten Fahrrades am Gesamtfahrradmarkt werden irgendwann die fünfzig Prozent überschreiten und es wird keine zehn Jahre mehr dauern. Insofern denke ich, wird man sich dem Thema auch als kleiner, spezialisierter Anbieter nicht verschließen können, weil man sonst eine bestimmte Kundengruppe von vornherein ausschließt.

Zu guter Letzt sagt uns Kalle, wo Riese & Müller in zwanzig Jahren steht.

Heiko Müller: Da bin ich jetzt aber sehr gespannt.

Karlheinz Nicolai: Äh, ja, Riese & Müller wird ganz klar dem Volkswagen Marktanteile abnehmen, weil …

Heiko Müller: Boah, Kalle macht gerade den Schampus auf.

Karlheinz Nicolai: Nee, weil ich sehe, dass das ganze Thema Fortbewegung der Familie im täglichen Umfeld immer mehr zunimmt. Die Frage „brauche ich ein Zweitauto oder brauche ich ein Cargobike?“ drängt sich prinzipiell in jeder Familie in der Stadt auf. Wenn ich mir überlege, dass ich in München vor drei Wochen mit dem Auto für fünf Kilometer 45 Minuten gebraucht habe – und hinten drin hatte ich ein Fahrrad mit. Da habe ich mich schwarz geärgert, dass ich das Ding nicht einfach abgestellt habe, das Wetter war schön und …

Die Lernkurve ist da.

Karlheinz Nicolai: Ja, die Lernkurve ist da. Also ich sehe einfach, dass es bei Riese & Müller von der Gesamtstrategie her ganz klar nach vorne geht – mit allen Hindernissen, die man überwinden muss, aber in Ruhe und mit einem kontinuierlichen Wachstum. Und die Automobilhersteller, auch wenn das jetzt nur ein Beispiel war, die haben ja auch zu kämpfen an der Stelle. Es gibt eine Menge fehlender Antworten von der Automobilindustrie. Die Fahrradindustrie dagegen hat sie, mit solchen Nutzfahrzeugen, wie sie Riese & Müller im Programm hat.

17. August 2015 von Gunnar Fehlau

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