Report - Ergonomie in der Werkstatt
Arbeiten und gesund bleiben
Was bedeutet Ergonomie eigentlich? Laut Deutscher Gesetzlicher Unfallversicherung versteht man darunter die Lehre von der menschlichen Arbeit. Einfacher gesagt befasst sich Ergonomie mit der Anpassung der Arbeit, d. h. der Arbeitsmittel, der Arbeitsorganisation sowie der Arbeitsumgebung an den Menschen. Ziele der Ergonomie sind die Humanität in Form menschengerechter Arbeitsplätze, die Wirtschaftlichkeit und die Arbeitsplatzsicherheit sowie der Gesundheitsschutz. Was bedeutet das konkret für den Fahrradhandel und die Fahrradwerkstatt?
Dr. Christoph Hecker ist bei der Berufsgenossenschaft Holz und Metall für den Gesundheitsschutz unter anderem in Zweiradbetrieben zuständig. »Als ein Beispiel sind die weitverbreiteten Montageständer für Fahrräder eine sehr gute Maßnahme, um gleichzeitig in Hinsicht Effizienz und Gesundheit vorteilhafte Arbeitsabläufe zu erreichen«, sagt Hecker. Das ergebe sich daraus, dass in Fahrradwerkstätten erhöhte feinmotorische Anforderungen des Hand-Arm-Systems bei der Montage von Fahrrädern auftreten. »Dies geht häufig in Verbindung mit Zwangshaltungen einher sowie mit Anforderungen durch Heben, Umsetzen und Tragen von Fahrrädern und relativ schweren Bauteilen bei Pedelecs«, so Hecker. Statistisch gesehen bewirke das Heben schwerer Lasten im Berufsfeld des Zweiradmechanikers seltener Berufskrankheiten. »Eher kann es bei Tätigkeiten in Fahrradwerkstätten zu Rückenschmerzen oder Rückenbeschwerden kommen, wenn z. B. in anstrengenden Körperhaltungen über längere Zeit Montagetätigkeiten erforderlich sind«, so die Erfahrung der Berufsgenossenschaft. »Diese Rückenbeschwerden können aber in der Regel durch geeignete Maßnahmen der Arbeitsgestaltung, z. B. durch Montageständer, Hebehilfen oder höhenverstellbare Tische, und der Verhaltensprävention, wie z. B. Ausgleichsübungen, vermieden werden oder bilden sich bei entsprechenden Maßnahmen wieder zurück«, erläutert der für Fahrradgeschäfte zuständige Experte. Ein weiterer Aspekt, den es zu berücksichtigen gilt, seien Überlastungen des Muskel-Skelett-Systems im Handbereich bei manuellen Tätigkeiten. Diese könnten zu Beschwerden oder Erkrankungen führen, wie dem Carpaltunnel-Syndrom (durch häufiges Beugen und Strecken im Handgelenk bzw. erhöhtem Kraftaufwand der Hände), dem Hypothenar-Hammer-Syndrom (Kleinfingerballen) oder dem Thenar-Hammer-Syndrom (Daumenballen), z. B. durch Schlagen mit der Hand auf einen Schraubenschlüssel zum Lösen einer Schraubverbindung.
Pflichten und rechtliche Grundlagen
Bedenkenswert für Betriebsinhaber ist, dass all diese Themen obendrein Pflichtthemen sind. Die Liste der laut Bundesanstalt für Arbeitsschutz (BAUA) relevanten Verordnungen und Gesetze ist lang: Arbeitsschutzgesetz, Betriebssicherheitsverordnung, Gefahrstoffverordnung, Bildschirmarbeitsverordnung, Lastenhandhabungsverordnung, Biostoffverordnung, Arbeitsstättenverordnung, Mutterschutzrichtlinienverordnung und die Lärm- und Vibrations-Arbeitsschutzverordnung oder auch die Technischen Regeln (TRGS). Zu beachten ist zudem das Arbeitssicherheitsgesetz (AsiG). Der Vollzug der Arbeitsstättenverordnung obliegt wiederum den Gewerbeaufsichtsämtern bzw. den Ämtern für Arbeitsschutz. Laut Dr. Hecker von der Berufsgenossenschaft sei das „Grundgesetz« des Arbeitsschutzes das Arbeitsschutzgesetz, das durch Verordnungen konkretisiert wird, darunter z. B. die Lastenhandhabungsverordnung. »Sehr einfach kann der Betriebsinhaber sich im Internet z. B. bei der Berufsgenossenschaft Holz und Metall über den Rechtsrahmen und konkrete Hilfestellungen zur Umsetzung informieren oder auch durch die zuständige Aufsichtsperson beraten lassen«, empfiehlt Hecker.
Ein Blick ins Arbeitsschutzgesetz zeigt, dass der Unternehmer nach dem Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG, § 3) verpflichtet ist, die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Beschäftigten zu sichern und zu verbessern. Das heißt, er muss Unfall- und Gesundheitsgefährdungen der Arbeitsplätze der Mitarbeiter unter Berücksichtigung körperlicher und psychischer Belastungen ermitteln (§ 5 ArbSchG). Er muss das Gesundheitsrisiko beurteilen, Präventionsmaßnahmen festlegen und dies auch überwachen. Insbesondere bei größeren Betrieben gilt zudem die Nachweispflicht, das heißt, die Maßnahmen sind genau zu dokumentieren.
Kontrolle und Beratung
Für die Aufsicht der rechtlichen Vorgaben des Arbeitsschutzes sind in Deutschland die Gewerbeaufsichtsämter und die gesetzlichen Unfallversicherungsträger zuständig. »Für Fahrradwerkstätten ist als gesetzlicher Unfallversicherungsträger die Berufsgenossenschaft Holz und Metall zuständig«, so Hecker von der Berufsgenossenschaft. Bereits der Verdacht auf eine Berufskrankheit müsse der Berufsgenossenschaft gemeldet werden, wozu Unternehmer und Ärzte verpflichtet sind.
Ein zentraler Kern der gesetzlichen Unfallversicherung sei die Haftungsablösung. »Sie leistet einen wichtigen Beitrag für die Existenzsicherheit von Unternehmen sowie den sozialen Frieden. Denn mit seiner Beitragszahlung gibt der Arbeitgeber die Haftung bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten an die Berufsgenossenschaften und Unfallkassen ab – und diese kümmern sich um alles, was damit zusammenhängt«, erläutert Dr. Hecker den Zusammenhang.
Montageständer: Neue Lösungen für E-Bikes und Pedelecs
Professionelle Hebebühnen, Montageständer oder »dritte Arme«, ergonomische Bodenbeläge oder Energieampeln, die den Mechaniker Überkopf mit Strom und Luft versorgen, tragen zu einer ergonomischen Arbeitsplatzgestaltung bei. Bei Rema Tip Top stand beispielsweise auf der Eurobike 2012 der pneumatische Montageständer XL im Focus, der durch seine Hebefunktion besonders auch schwere E-Bikes, die ca. 30 kg wiegen dürfen, auf Arbeitshöhe bringt. Mittels einstellbarer Tragrollen und eines 3-Punkt-Spannsystems können die verschiedensten Rahmenformen fest eingespannt werden. »Gerade für großgewachsene Mechaniker hat dieser Ständer die optimale Höhe. Trotz des relativ hohen Händlerpreises haben wir bereits einige verkauft«, so Uwe Dohse, Zweirad-Koordinator bei Rema Tip Top. Die Winkelverstellung ermöglicht zudem eine Verdrehung des eingespannten Rades um ca. 160°.
Uwe Dohse empfiehlt zusätzlich, sich mit dem Thema ergonomische Bodenbeläge zu befassen. »Wir haben uns lange mit dem Thema ergonomische Bodenbeläge auseinandergesetzt und einen Anbieter gefunden, der solche Bodenmatten herstellt«, sagt der Werkstattausrüster. Auch die von Dohse empfohlene Energieampel für die Strom- und Luftversorgung direkt in Griffhöhe über dem Arbeitsplatz in Arbeitshöhe hilft, den Arbeitsplatz des Zweiradmechanikers ergonomisch zu gestalten. Ein von Rema Tip Top angebotener neuer Kompressor, der nur noch so laut sei wie ein Kühlschrank (40 db), soll dem Arbeitsplatz ebenfalls mehr Ruhe gönnen.
Ergonomie gewinnt an Bedeutung
Wer hingegen eine Auffahrbühne beispielsweise zur Reparatur schwerer Pedelecs oder E-Bikes bevorzugt, wird bei Großhändler Ra-Co fündig. Die Hebebühne »Worklift´r« ist in der Lage, Fahrzeuge bis 300 kg zu stemmen. Die Bühne ist über Rollen flexibel in der Werkstatt bewegbar. Geschäftsführer Wolfgang Schreck und sein Sohn Christian Schreck bieten ihre Werkstatteinrichtungen aus eigener Produktion unter der eigenen Marke Cyclus Tools seit 1996 an. Schreck junior berichtet, dass im Ergonomiebereich aktuell sehr viel in Bewegung ist. »Das Thema Ergonomie hat in der Fahrradwerkstatt erst in den vergangenen ein bis anderthalb Jahren an Fahrt gewonnen. Auslöser ist die Tatsache, dass zuvor kaum E-Bikes in die Reparatur beim Händler gelangten und diese sich nicht dem Problem gegenübersahen, regelmäßig sehr schwere Räder bewegen und vor allem heben zu müssen«, begründet Christian Schreck die neuen Entwicklungen. »Gleichzeitig haben große Fahrradhersteller und Filialisten damit begonnen, sich den Fragen der Ergonomie am Arbeitsplatz zu stellen. Dies ist vor allem für die Fahrradhersteller zwingend, deren Zukunftsplanung auf die Einrichtung reiner E-Bike-Geschäfte bzw. Monomarken-Stores zielt«, erläutert Schreck den Trend. Namhafte Fahrradmarkenhersteller und große Filialisten würden die ergonomische Optimierung der Werkstatteinrichtungen vorantreiben, auch weil diese zunehmend Aushängeschild für Betriebe seien. »Die Kunden wollen sehen, was mit ihren teuren E-Bikes in der Werkstatt geschieht«, so Christian Schreck. Daher entwickelt sein Vater Wolfgang Schreck als findiger Spezialist der Ra-Co GmbH aktuell ein Werkstattsystem mit einem großen Fahrradhersteller, das laut Christian Schreck wie eine Küche in jede Werkstatt eingebaut werden kann, also unterschiedlichem Raumangebot angepasst werden und sich auch für Kunden sehen lassen kann.
Dem E-Bike sei somit wohl Dank, dass das Thema Ergonomie in der Fahrradwerkstatt aus dem Dornröschenschlaf erwacht ist. Die Mechaniker, die Unternehmer, die staatlichen Stellen und Versicherungsträger wird es freuen. Denn Ergonomie rechnet sich vielfältig.
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