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Marketing - TikTok

BikeTok – die Radbranche und TikTok

Es ist der reichweitenstärkste Marketing-Kanal des Planeten, aber die Radbranche fremdelt mit dem Kurzvideo-Dienst.
Zu jung die Zielgruppe, zu albern der Content. Beides sind Vorurteile, mit denen man dringend aufräumen muss.

Marco hat genau 1907 Follower auf TikTok. Das ist respektabel, aber eigentlich nichts Besonderes. Besonders ist allerdings die Reichweite seines besten Videos. Satte 107.000 User haben sich das Video vom siebten Dezember angeschaut. Es geht um die einfache Frage, ob Marco in seinem Sortiment auch Downhill-Räder hat. Das Video zeigt, wie ein Two15 von Cube aufgebaut und kurz gefahren wird. Mehr nicht. Fast 10.000 Likes hat das Video bekommen. Das sind fünfmal mehr, als der Kanal Fans hat. Und fast 200 User haben kommentiert.
Marco ist Marco Reyhle von Radsport Reyhle in Dornstadt bei Ulm. Und der Kanal, auf dem das möglich ist, heißt TikTok. 1,7 Milliarden Menschen sind auf TikTok angemeldet, hat Statista berechnet. Damit ist TikTok das zweitgrößte Social Network der Welt, und wenn man den Verlauf der Kurven anschaut, dann kommt der chinesische Kurzvideo-Dienst dem Platzhirschen Facebook immer näher.

TikTok funktioniert anders

In der Gunst vieler Marketer hat TikTok Facebook längst überholt. Das liegt zum einen daran, dass viele junge Nutzerinnen und Nutzer der Plattform von Meta inzwischen den Rücken gekehrt haben. »Auf Facebook sind meine Großeltern«, lautet der gelangweilte Vorwurf.

Freddy Allerdisse kennt sich mit Radmarketing aus. Er betreut die digitalen Aktivitäten beim Münsterland Giro.

Der zweite Grund ist, dass TikTok anders funktioniert. Wie am Beispiel Radsport Reyhle deutlich wird, haben TikTok-Videos immer die Chance, viel mehr Menschen zu erreichen, als ein Kanal Abonnenten hat. Bei Facebook und Instagram ist das anders. Dort adressiert man zunächst die eigenen Fans und Follower und nur von dort geht es dann weiter, nämlich wenn diesen Menschen ein Video so gut gefällt, dass sie es weiterleiten. Die persönliche Verbindung zwischen dem Absender und dem Empfänger von Content steht im Mittelpunkt.
Bei TikTok und auch bei Pinterest steht der Content im Mittelpunkt. Vor allem auf der Startseite der App und im Bereich Discovery werden permanent neue Inhalte angezeigt, die zum Großteil zwar inhaltlich zu dem passen, was der entsprechende User bereits früher gesehen hat. Die Videos müssen aber nicht von »abonnierten« Accounts kommen. Da TikTok daran interessiert ist, die User so lange wie möglich auf der Plattform zu halten, entsteht eine Art selbsterfüllende Prophezeiung. Ein erfolgreiches Video wird immer bei immer mehr Nutzern auf der Startseite eingeblendet und dadurch natürlich noch erfolgreicher.
Freddy Allerdisse, der Gründer der Agentur Mundwerkkunst aus Dülmen, hat mit einem Kunden mal eine Wette gemacht: »Ich kann über Nacht mehr Views auf einem Video bekommen, als euer ärgster Konkurrent auf seinem besten Youtube-Video hat«. Allerdisse selbst hatte nur eine Handvoll Fans auf seinem Konto, aber er gewann die Wette trotzdem. Er nahm sich ein Video vom Fußballer Neymar und kommentierte es ironisch. Acht Sekunden hat das Video. 170.000 Menschen haben es sich innerhalb von 24 Stunden angesehen.

Was macht ein gutes TikTok-Video aus?

Freddy Allerdisse ist eine Koryphäe, wenn es um TikTok geht. Im Dezember erzählte er seine Geschichte als Speaker auf dem Marketing-Tag von Velobiz in Schweinfurt. Dabei gelang es dem hemdsärmeligen und unprätentiösen Westfalen, selbst die kritischen unter den Zuhörern aus der Radbranche zumindest zum Nachdenken zu bewegen. Sein Pitch: TikTok hat nicht nur Reichweite, es ist auch verdammt einfach. »Wir hätten gar nicht die Kapazitäten, um für Kunden permanent Videos zu produzieren. Unser Ziel ist es, dass sie es selbst machen«, so Allerdisse.
Der Mann hat leicht reden. Der Großteil der Radbranche fühlt sich nicht auf Anhieb wohl vor der Kamera. Hat man überhaupt Interessantes zu erzählen? Ist das lustig? Beides wischt Allerdisse als untaugliche Argumente vom Tisch. Wer erfolgreich Produkte produziert oder an Kunden verkauft, hat auch Geschichten zu erzählen. Und Lustigkeit plant man nicht, die entsteht. Wenn das doch nicht geschieht, ist das auch nicht schlimm. TikTok ist so viel mehr als »lustig«. Zu den erfolgreichen TikTokern in Deutschland gehören Herr Anwalt (6 Mio. Follower), Lehrer Schmidt (702.000) oder Bestattungen Burger (1,2 Mio.). Sie reden über Rechtsfragen, Lehrplaninhalte oder den Tod. Manchmal witzig, meistens nicht.
Schaut man sich die Entwicklung des Kanals von Marco Reyhle an, dann bekommt man ein gutes Gefühl dafür, wie die Dinge funktionieren. Zu Beginn waren es eher statische, vielleicht geskriptete Promotion-Filme. Gut gemacht, aber ohne Feuer. Und mit jedem Video entspannt er sich, der Content hat mehr Dynamik und die Beteiligten haben offensichtlich Spaß. Das ist das »Geheimrezept«, aus dem letztlich auch Humor entsteht.
»Nehmt euer Smartphone und legt einfach los«, sagt Freddy Allerdisse. Die ersten drei oder vier Filme muss man ja nicht auf TikTok posten, aber man kann sie Freunden zeigen und sich Tipps holen. Dass die Radbranche jede Menge Content hat, der andere Menschen auf TikTok interessiert, daran hat Allerdisse keinen Zweifel. In Schweinfurt zeigte er dem Publikum das erfolgreichste deutsche Fahrradvideo, das er finden konnte. 1,1 Mio. Abrufe hat das Filmchen von Carlsson Colucci, bei dem er sich und seine Freunde bei einer Radtour »durch Europa« filmt. Tatsächlich geht es eher um kleine Ausflüge ins Berliner Umland.

_ Die Videos von Marco Reyhle werden immer lässiger. Sein bestes erzielte 107.000 Aufrufe bei nur knapp 2000 Fans auf dem Kanal._

Freddy Allerdisse redet sich fast in Rage, wenn er über die Vermarktungsmöglichkeiten solcher Reichweiten spricht. Das Video von Colucci hat definitiv keinen kommerziellen Zweck, aber es gäbe zweifellos potenzielle Partner aus der Wirtschaft, die da mitmachen. Vom Radhersteller bis zum Restaurant am Ziel, vom Energy-Drink bis zum Bekleidungsanbieter. Fünf Filme hat Colucci in diesem Format gemacht. Keiner hat weniger als 25.000 Abrufe.
Freilich gibt es gewisse Merkmale bei den Filmen, die tendenziell zu mehr Reichweite beitragen.

1. Authentizität:
Menschen machen das, was sie tun und reden, wie sie reden. Auch Marco Reyhle startet mit (fast) Hochdeutsch und wird dann wieder schwäbischer. TikTok fühlt sich oft so an, als würde man einem Freund eine Anekdote erzählen.

2. Selbstironie:
Wem ein Fehler unterläuft, der schneidet ihn nicht weg, sondern lacht darüber. Natürlich kann man versuchen, das »perfekte« Video zu machen, aber es ist eben auch kein Problem, wenn man zwei Versuche braucht und beide im Video zeigt.

3. Der Eyecatcher:
Die Aufmerksamkeitsspanne bei TikTok-Videos ist noch geringer als auf den anderen Plattformen. Insofern sollte man gleich zu Beginn etwas zeigen, was das Interesse bindet. Viele TikToker schneiden eine Szene aus der Mitte des Films auch noch mal an den Anfang, wenn da ein spannendes Produkt, eine schöne Landschaft oder eine Actionszene zu sehen ist.

4. Kurze Videos:
30 Sekunden sind eine Richtgröße. Aber wie Marco Reyhle zeigt, funktionieren auch viel kürzere Filme. Und wie man bei Herrn Anwalt und Bestattungen Burger sehen kann, ist auf TikTok auch Platz für längere Geschichten, wenn der Content diese Zeit eben benötigt. Beide haben sich im Laufe ihrer Videos so bei 45 bis 60 Sekunden eingependelt.

5. Wenig Schnitt:
Man kann TikTok-Videos nachbearbeiten und mit Effekten versehen. Das muss aber nicht sein. Fredy Allerdisse betont, dass man nur das tun sollte, was mit den einfachen Schnitt-Apps direkt auf dem Handy zu machen ist. Für ihn ist Geschwindigkeit bei der Veröffentlichung wichtiger als Perfektionismus. Gute Apps sind zum Beispiel CapCut oder InShot.

Die Klischees und wie man damit umgeht

Natürlich fragt der geneigte Marketer oder Inhaber nun, warum man das alles eigentlich tun sollte. Die naheliegende Antwort darauf lautet: Employer Branding. Wer nach Nachwuchs für seinen Laden oder Herstellungsbetrieb sucht, liegt bei TikTok sicher richtig. Man zeigt sich den Jungmonteuren gegenüber modern, offen und locker. Tatsächlich ist es oft eine gute Idee, die Herstellung der Videos und Betreuung des Kanals jungen Mitarbeitenden zu überlassen, die einen organischen Zugang zu TikTok haben und die gleiche Sprache wie die Nutzer sprechen.
Stück für Stück kann man so zum Beispiel das tägliche Arbeiten im Betrieb zeigen und dem potenziellen Nachwuchs so ein besseres Bild vermitteln. Und man kann in einem solchen Format auf Vorurteile eingehen und dagegen argumentieren. Für das Sanitärtechnik-Unternehmen Enseling baut Mundwerkkunst gerade einen TikTok-Kanal auf. Zur Überraschung von Freddy Allerdisse arbeiten viele der Monteure in einer Vier-Tage-woche. Weiß der potenzielle Bewerber das?

Die Entwicklung von TikTok geht enorm schnell. Abgesehen von Facebook wurden alle anderen Social Networks in Sachen Nutzerzahlen überholt.

Aber wer nutzt TikTok eigentlich? Die Hauptnutzerschaft ist zwischen 18 und 25 Jahre alt, also im perfekten Azubi-Alter. Die am schnellsten wachsende Zielgruppe ist allerdings die zwischen 25 und 35. Hier finden sich Nutzer und Nutzerinnen, die über das Budget für ein neues E-Bike verfügen.
TikTok ist also nicht nur für die Nachwuchsgewinnung spannend, sondern vielleicht auch für den Vertrieb. Marco Reyhle zum Beispiel betont in seinen Videos immer wieder, dass man auch Service für Räder macht, die nicht in Dornstadt gekauft wurden. Das ist ein wichtiger USP, denn bekanntlich gibt es viele Händler, die zu diesem Thema eine ganz andere Haltung haben.
Und natürlich taugt der Kanal zur Promotion von Events, wie einem Tag der offenen Tür. Hier kann man tatsächlich – wie bei allen Social Networks – etwas Geld in die Hand nehmen und Werbung schalten. Diese lässt sich spezifisch für bestimmte Zielgruppen und Regionen aussteuern. TikTok selbst empfiehlt, dass man seine Werbung genauso gestaltet wie ein eigenes TikTok-Video. Wer also zum Tag der offenen Tür einlädt, setzt sich vor die Kamera und tut das einfach. So wie er es am Stammtisch auch tun würde.
Weil das Produzieren von Videos für TikTok gerade für jüngere Menschen so einfach ist, hat sich in den letzten Jahren ein Sonderformat herauskristallisiert, das auf der Plattform einzigartig ist: die Hashtag-Challenge. Dabei wird entweder ein Wettbewerb ausgerufen oder eine Aufgabe gestellt und die Nutzer nehmen mit eigenen Videos daran teil. Der Versandhändler Otto hat die Menschen aufgerufen, sich über sich selbst lustig zu machen: #machDichzumOtto.
Noch besser zur Radbranche passen Aktionen wie die CleanSnapChallenge. Nutzer wurden aufgerufen, ein kleines Stück Natur vor ihrer Haustür vom Müll zu befreien. 27 Millionen Menschen schauten sich die entsprechenden Videos an.
Tatsächlich sollte man umsichtig mit Challenges umgehen, gerade, wenn es zum Beispiel um Rad-Stunts geht. Immer wieder gibt es Meldungen von jungen Menschen, die sich schwer verletzen oder sterben, weil sie an krassen Challenges teilgenommen haben.
Und man darf bei aller Euphorie auch nicht vergessen, dass die Daten, die TikTok sammelt, vermutlich direkt nach China exportiert werden. Am 23. Dezember ging die Meldung herum, dass TikTok in den USA gezielt Journalisten ausspioniert hat. Das muss weiterhin kritisch betrachtet werden, gilt allerdings für alle Social Networks in unterschiedlicher Form. Für die Kommunikation rund um Fahrradthemen dürfte das je nach eigener Perspektive ein geringeres Problem sein. Also los gehts. Vielleicht ist gerade die Saisonvorbereitung ein guter Zeitpunkt für den Einstieg in TikTok. //

20. März 2023 von Frank Puscher
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