Markt - Lastenräder
Cargobikes: Ein Muss für alle?
Zugegeben, Cargobikes sind immer noch ein Nischenmarkt. Rund 100.000 Stück wurden 2020 laut Zweirad Industrie Verband (ZIV) hierzulande verkauft – im Vergleich zu mehr als 1,95 Millionen E-Bikes. Doch was diese Zahl nicht widerspiegelt, ist das enorme Potenzial dieses Fahrradsegments.
»Die Verkäufe sind stark gestiegen – jährlich um rund 30 bis 50 Prozent«, berichtet Wasilis von Rauch, Geschäftsführer des Bundesverbands Zukunft Fahrrad e. V. Hersteller wie Yuba sprechen von einer »jährlichen Verdoppelung« im Vergleich zu einem Absatzanstieg von 16,5 Prozent im Gesamtfahrradmarkt. Europaweit betrug das Verkaufswachstum im Lastenradsegment laut European Cargo Bike Industry Survey von 2018 auf 2019 rund 60 Prozent, für 2020 wird eine Zunahme von nochmals rund
53 Prozent prognostiziert.
Von den in der europäischen Studie befragten 38 Cargobike-Herstellern nannten 16 Deutschland als ihren wichtigsten Absatzmarkt, bei weiteren 15 war es unter den drei wichtigsten Absatzmärkten.
Dabei betrug der durchschnittliche Verkaufspreis eines Cargobikes rund 3.500 Euro. Hersteller wie Riese & Müller berichten gar von im Schnitt fast 7.500 Euro, die Kundinnen und Kunden gewillt waren, für ein Lastenrad auszugeben, für ein Fahrrad oder E-Bike waren es laut aktuellem Fahrrad- und E-Bike-Marktreport des ZIV kombiniert »nur« 1.279 Euro. Und obwohl das schon gute Zahlen sind, sieht Wasilis von Rauch »noch lange nicht das Ende der Entwicklung.«
Dass Lastenräder hierzulande boomen, dürfte zum einen daran liegen, dass Deutschland ein vergleichsweise bevölkerungsreiches Land ist und schon dadurch mehr potenzielle Abnehmerinnen und Abnehmer vorhanden sind. Wichtiger sind andere Argumente. So machen auch staatliche Förderungen diesen Biketyp attraktiver: Seit 2018 gibt es vom Bundesumweltministerium über ein Förderprogramm für Kleinserien eine Prämie für den Kauf von Lastenrädern, einige Bundesländer geben auf kommunaler Ebene nochmals einen Zuschuss von einigen Hundert bis Tausend Euro.
Was macht das Cargobike so attraktiv?
Wirklich entscheidend als Kaufargument sind die Eigenschaften der Fahrradgattung Cargobike als solche. So sind Lastenräder flexibel einsetzbar, zumal wenn es sich um Modelle handelt, die sich umbauen und so den Bedürfnissen der Benutzerinnen und Benutzer anpassen lassen. Sie transportieren Fahrerinnen und Fahrer und Ladung laut Wasilis von Rauch »im Vergleich zum Auto in der Stadt sicherer und oft auch schneller von A nach B«, da Staus unterwegs und Parkplatzsuche am Ziel für gewöhnlich kein Thema sind. Im Vergleich zum Pkw, der Versicherung und Benzin benötigt, hat ein Lastenrad geringe Fixkosten. Es beschert Unternehmen, die es nutzen, ein positives Image, und hilft, die Umwelt zu schonen.
So schreibt der Radlogistik Verband e. V. in seinem aktuellen Report beispielsweise, dass allein durch die Nutzung von Cargobikes im Bereich der Radlogistik 2020 »im Vergleich zur herkömmlichen Zustellung mit Dieselfahrzeugen durch die Radlogistik 400 Tonnen CO2 bei ca. 4,6 Millionen ausgefahrenen Sendungen vermieden werden« konnten. Olmo Witmond, Sales Manager German Speaking Countries und Benelux bei Cargobike-Hersteller Yuba sieht in den Lastenrädern gar einen »essenziellen Bestandteil der Verkehrswende, da immer mehr Menschen durch ein Zusammenspiel aus Umweltbewusstsein, Bewegungsdrang und dem Bedürfnis nach lebenswerten Städten das Auto stehenlassen oder verkaufen.« Eine Welle, auf der die Cargobikes mitreiten.
»Und eines ist ganz klar«, ist Wasilis von Rauch überzeugt:
Der E-Antrieb hat das Cargobike für viele Zwecke und Nutzerinnen und Nutzer deutlich attraktiver gemacht.
Ein weiterer Vorteil der Lastenräder ist, dass sie eine breit gefächerte Zielgruppe haben. So sieht Cora Geißler, Inhaberin des Cargobike-Shops velogut in Berlin, »eine hohe Akzeptanz im Familien- wie auch im Wirtschaftsbereich. Die jüngere Generation schafft sich eher ein Lastenrad als ein Auto an.« Sei es, um die Einkäufe zu transportieren, die Kinder zur Kita oder Schule zu kutschieren oder mit dem Hund zum Gassigehen an den Stadtrand zu radeln.
Zur Kita, zum Spielplatz ... Viele Kinder lieben die Fahrt im Cargobike
Viele Unternehmen erweitern ihren Fuhrpark um Cargobikes. Sie sind nicht nur bei Paketdiensten wie DHL, Möbelhäusern wie Ikea oder Baumärkten wie OBI im Einsatz, bei Letzteren beiden als Leihangebot an Kundinnen und Kunden. Auch kleinere Handwerksbetriebe und Serviceunternehmen entdecken die Gattung der Lastenräder für sich. So sehr, dass Wasilis von Rauch prophezeit, dass »der Wirtschaftsverkehr den Absatz über Privatleute mittelfristig überholen« könnte.
Worauf es beim Cargobike ankommt
Dadurch, dass das »Cargobike eine Lösung für den Alltag von Familien und Gewerbetreibenden sein« muss, um im Markt bestehen zu können, wie Jimmy Riddle, Produktmanager bei Chike-Vertreiber Hermann Hartje KG, es ausdrückt, muss es bestimmte Eigenschaften aufweisen. Das Transportsystem muss gegebenenfalls flexibel sein, natürlich muss man sich auf dem Rad wohlfühlen. Immer jedoch muss die Qualität stimmen.
Bei Händler Ahoi Velo Cargobikes in Hamburg haben Billighersteller und undurchdachte Konzepte keine Chance: »Es kommt bei uns wesentlich auf die Qualität an, auch die Themen Kindersicherheit und Materialität rücken in einem Autoland wie Deutschland immer weiter in den Vordergrund«, berichtet Ahoi-Velo-Chef René Reckschwardt. Eine Einschätzung, die die Hersteller zu teilen scheinen. So hat Riese & Müller gemeinsam mit Tektro eine Bremsanlage speziell für die Anforderungen von Cargobikes entwickelt, es gibt Sicherheitsfeatures wie Dauer-, Fern- und Bremslicht und eine Seilzuglenkung für hohe Wendigkeit. Babboe achtet neben Bremsen und Beleuchtung auf hohe Paneele und gute Anschnallgurte für die Sicherheit der kleinen Passagiere.
Yuba legt den Fokus klar auf Usability und Zuverlässigkeit. »Ein Lastenrad ist unter anderem ein Nutzfahrzeug und sollte von den Eigenschaften her entsprechend betrachtet werden«, erklärt Olmo Witmond und verweist darauf, dass die Qualität von sicherheitsrelevanten Komponenten im vergangenen Jahrzehnt stark gestiegen sei. »Das macht die Hürde, ein Lastenrad zu kaufen, viel niedriger«, glaubt er. »Auch für Menschen, die sich bislang nicht als Fahrradfahrer identifizieren.«
Das müssen Händler wissen
Damit jemand ein Cargobike kauft, genügt es nicht, sich als Einzelhändler ein paar davon in den Laden zu stellen und zu hoffen, dass der Boom den Rest erledigt. »Hochwertige Lastenräder lassen sich nicht nebenher verkaufen«, weiß René Reckschwardt von Ahoi Velo Cargobikes. Die Kundschaft erwarte eine erstklassige Beratung, und die setzt mindestens das Fachwissen um das Rad selbst voraus. So ist laut Anke Bellack, Sales-Marketeer Deutschland für Babboe, Wissen zum Fahrverhalten von einspurigen und zweispurigen Cargobikes ebenso notwendig wie zu Modellen mit E-Motor.
»Lastenräder sind von der Technik her kaum anders als normale Fahrräder«, erklärt Olmo Witmond von Yuba und führt aus: »Was die Beratung für Lastenräder anders macht als bei herkömmlichen Fahrrädern, ist, dass die Kunden nicht wissen wollen, was die tollste, neueste Technik ist, sondern wie das Rad den Alltag erleichtern kann. Wer vorhat, mit dem Lastenrad jeden Tag drei Kinder zur Kita zu bringen, interessiert sich wenig dafür, wie das Übersetzungsverhältnis ausgelegt ist, sondern möchte wissen, wie ein Maxi Cosi angebracht werden kann und wie man das Rad zur Werkstatt bekommt, wenn etwas defekt ist. Die Beratung sollte darauf abgestimmt sein.«
Genau wie der Werkstattservice, der im Idealfall so aussieht wie beim Berliner Cargobike-Spezialisten Velogut: »Wir haben das Glück, in der Stadtmitte 500 Quadratmeter Lager vorhalten zu können. Ohne das könnten wir nicht alle Reparaturen annehmen«, erzählt Cora Geißler. »Unsere Werkstatt hat spezielle Aufnahmen und zwei Hebebühnen für die Lastenräder, um es den Mechanikern und Mechanikerinnen zu erleichtern, sicher und effizient zu arbeiten.«
Doch auch ohne eine solche Ausstattung kann der Einzelhandel Cargobikes als Teil des Sortiments überzeugend präsentieren. Zentral ist dafür ein positives Kundenerlebnis. Das sollte, so Timo Gührer, Head of Sales & International Strategy bei Riese & Müller, »Möglichkeiten zu Probefahrten ebenso beinhalten wie eine angemessene Präsentation«.
Wichtiger sei laut Olmo Witmond, eine neue Art Verkaufserlebnis zu schaffen, »mit Sachen wie Empfang, Kaffee, Probefahrten, showroomartiger Einrichtung und einem erweiterten Serviceangebot.« Damit lasse sich eine komplett neue Zielgruppe ansprechen. Eine, die mit dem Cargobike-Kauf eine grundlegende Entscheidung trifft, wie sie ihre Zukunft gestalten möchte und die der Händler bei diesem Prozess begleiten kann und muss.
Dieses Potenzial sehen wohl immer mehr Fahrradeinzelhändler. So hat Chike-Vertreiber Jimmy Riddle beobachtet, dass es zwar »kein Massenmarkt ist, den man mit Cargobikes erreicht. Aber mehr und mehr Händler haben bereits ihr Sortiment um Lastenräder erweitert.« Olmo Witmond und Antje Bellack glauben sogar, dass in Zukunft kein Vollsortimenter mehr ohne Cargobikes auskommen wird.
Fahrrad mit »Kofferraum«: Vor allem in der Stadt können Cargobikes den Pkw ersetzen.
Wohin geht die Lastenrad-Reise?
Da, wo etwas übermäßig schnell wächst, können nicht alle Strukturen mithalten. Das ist bei Lastenrädern nicht anders. So beklagen zum Beispiel Yuba und andere derzeit Schwierigkeiten der Lieferkette und infolgedessen Lieferengpässe. René Reckschwardt von Ahoi Velo Cargobikes fordert eine Ausbildungsoffensive im Cargobike-Bereich, weitere Kaufprämien und Förderprogramme und sieht, ebenso wie der Radlogistik Verband e. V. eine mangelnde Infrastruktur: »Es fehlen Tausende Kilometer Radwege«, sagt er.
Der Radlogistik-Bericht sieht darüber hinaus Bedarf am »generellen Ausbau und der Ertüchtigung von Radwegenetzen und von (Rad-)Infrastruktur« sowie an der »Schaffung von durchgängigen, mindestens zwei Meter breiten Radwegen für sicheres Radfahren für alle«. Wasilis von Rauch bemängelt zudem, dass es einen großen Mangel an sicheren Abstellmöglichkeiten gebe. Man könne ein Cargobike nicht in den Keller oder die Wohnung tragen. Abstellanlagen im öffentlichen Straßenraum seien daher nötig, beispielsweise auf umgewandelten Pkw-Parkplätzen.
Auch wenn das Cargobike seine eigenen »Verkehrsprobleme« hat, wird dieses Fahrradmarktsegment weiterwachsen, »solange die Verkehrsprobleme generell weiter zunehmen, die Fahrradbegeisterung weiterwächst und die Lastenräder immer hochwertiger werden«, ist Ahoi-Chef Reckschwardt überzeugt.
Immer mehr namhafte Radhersteller nehmen Cargobikes ins Sortiment auf, immer mehr etablierte (E-)Bike-Händler und -Händlerinnen erweitern ihr Sortiment um diese Fahrradgattung und »es entstehen gleichzeitig neue Geschäftsmodelle, die sich ausschließlich auf das Cargobike-Segment spezialisieren«, berichtet Timo Gührer von Riese & Müller.
Wasilis von Rauch sieht eine Entscheidung pro Cargobike für den Fahrradhandel als durchaus nutzwertig: »Ich denke, die Entwicklung und der Absatz gehen weiter steil nach oben, insofern lohnt es, dieses Segment mit abzudecken. In vielen Regionen abseits der Großstädte ist das Händlernetz noch recht dünn, man kann also zum regionalen Pionier werden und sich damit Vorteile bei der Kundenbindung erarbeiten.« Er rät ab von unüberlegten Entschlüssen, da Cargobikes platz- und beratungsintensiv sind, ist aber sicher, dass »bei passenden Bedingungen in den kommenden Jahren ein sehr gutes Geschäft drin ist.« Oder wie Yuba-Sales-Manager Witmond es ausdrückt: »Das Cargobike muss nicht immer der Schwerpunkt sein, aber man sollte sich als Händler unbedingt damit befassen.«
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