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Interview - Stefan Bendiks, Architekt und Stadtplaner

Der Aufschrei der Gegner ist immer groß

Stefan Bendiks plant zurzeit, wie sich die steirische Hauptstadt Graz zur Fahrradstadt weiterentwickeln soll. Der renommierte Dozent und Verkehrsexperte erlebt in seinen Projekten immer wieder, welche Probleme die Politik hat, die Verkehrswende zu rechtfertigen.

Obwohl Graz schon eine verkehrsberuhigte Innenstadt hat, erkennt Stefan Bendiks viel Potenzial für weitere Verbesserungen, vor allem im PendelverkehrObwohl Graz schon eine verkehrsberuhigte Innenstadt hat, erkennt Stefan Bendiks viel Potenzial für weitere Verbesserungen, vor allem im PendelverkehrDie Vision eines besseren Lebensraums wird zum Beispiel beim Radschnellweg im Park Belle-Vue in Leuven überdeutlich.Stefan BendiksObwohl Graz schon eine verkehrsberuhigte Innenstadt hat, erkennt Stefan Bendiks viel Potenzial für weitere Verbesserungen, vor allem im Pendelverkehr.

Herr Bendiks, einige Ihrer Thesen zur urbanen Mobilität der Zukunft hängen an der weiteren Verdichtung der Städte. Hat uns Corona nicht gezeigt, dass gerade in den Industrienationen diese Tendenz keineswegs sicher ist?

Das ist eine sehr große Frage. Ich glaube schon, dass die Menschen in die Innenstädte zurückkehren, weil sie sich danach sehnen. Möglicherweise wird das sogar mehr, da der ÖPNV gerade einen schweren Stand hat. Es fühlt sich nicht sicher an, mit vielen Personen in einem Bus zu sitzen. Hinsichtlich des ÖPNV bin ich nicht ganz so optimistisch.
Die entscheidende Frage ist, wie geht man damit um. Der Stadtraum lässt sich ja nicht beliebig vermehren. Wie verteilt man das neu? In vielen Städten wurden ja schon Verkehrsflächen zu Popup-Radwegen umgewandelt. Meine Hoffnung ist, dass das permanent bleibt.

Einkaufen ist ein wesentliches Kriterium, mit dem Auto zu fahren. Fällt hier ein wichtiger Motivationsfaktor weg, wenn die Menschen mehr online bestellen?
Die Menschen haben den Komfort des Online-Einkaufens entdeckt und werden davon nicht mehr vollständig abrücken, auch wenn ich persönlich das nicht besonders gut finde. Die Innenstädte dürfen sich nicht allein auf die Funktion als Shopping-Meile verlassen. Es geht eher darum, sich mit anderen Menschen zu treffen, Neues zu entdecken, auf der Terrasse zu sitzen, einen Kaffee zu trinken und auch mal etwas einzukaufen.
Amazon und Co. sind für die größeren Einkäufe ja fast unschlagbar. Leider, muss man sagen, denn das ist ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor für die Innenstädte. Und man wird sich auf Dauer fragen müssen, was macht man mit den ganzen Leerständen?
Hier muss man auch die Motivationsfaktoren unterscheiden. Für den Einkauf einer Waschmaschine ist Amazon vielleicht die beste Adresse, für den Einkauf der Lebensmittel für die Woche aber vielleicht der Markt. Und für den Wein der kleine Weinhändler, der gut beraten kann.

Das entlastet aber die Innenstädte in Sachen Verkehr.

Da bin ich anderer Meinung. Was ist mit den ganzen Lieferdiensten? Da müssen sich die Städte wirklich Gedanken machen. Wenn man das nicht reguliert, wird das den Verkehr ziemlich stark beeinflussen und nicht zum Positiven.

Wenn man das konsequent weiterdenkt, müssten die Städte kleinere Läden, Boutiquen und vielleicht Kunsthandwerker als Marketing-Werkzeug sehen, um Menschen in die Städte zu locken. Sie müssten diesen Gewerken günstig Flächen anbieten.
Absolut. Die Stadtplanung muss weiterdenken als nur das Räumliche oder das Bauliche. Wie kann man Flächen anbieten, die flexibel nutzbar sind? Wie kriegt man wieder Produktion in die Stadt zurück? Wir haben in den letzten Jahren sehr monofunktional geplant und entwickelt und einige Städte werden darunter leiden. Städte oder Quartiere, die schon immer mehr auf Vielfalt gesetzt haben, werden es da leichter haben.
Daran sieht man, dass neue Mobilitätskonzepte komplex sind. Und das übersteigt auch oft den Kompetenzbereich der Stadtplaner. Da müssen Städte in Systemen denken, da müssen Verwaltungen Anreize schaffen. Wenn man zum Beispiel möchte, dass die letzte Meile des Transports nur mit Lastenrädern erfolgt, dann muss die Stadt am Stadtrand entsprechende Flächen ausweisen, an denen vom Transporter umgeladen wird.

Die ersten, die schreien werden, sind die lokalen Einzelhändler.

Nur dann, wenn es eben als isolierte und willkürliche Maßnahme wahrgenommen wird. Wenn die Stadt ein klares und langfristiges Konzept verfolgt, kann man den Händlern die Vorzüge attraktiverer Innenstädte erklären. Es geht um eine Vision vom urbanen Leben in der Zukunft. Es ist doch viel schöner, wenn vor der Tür ein Lastenrad steht als ein DHL-Laster. Und dann muss es eben auch die Parkbank zum Verweilen geben. Aber klar: Das wird nicht für alle Gewerbetreibenden attraktiv sein.

Gelingt das in der Praxis, bei so vielen widerstrebenden Interessen?

Schauen Sie sich Paris an, mit seinem 15-Minuten-Konzept. Von jedem Wohnort soll in einer Viertelstunde alles erreicht werden können, was man zum Leben braucht. Man kennt Paris bis jetzt wirklich nicht als die fahrradfreundlichste Stadt.

Haben Sie ein Bild im Kopf? Gibt es eine Stadt in Europa, die das richtig gut macht?

Da gibt es natürlich die üblichen Verdächtigen. Groningen ist das Vorbild par excellence. Da gibt es überhaupt keinen Grund, warum man mit dem Auto reinfahren sollte. Aber das ist eine kleine Stadt. Kopenhagen, Amsterdam sind Beispiele, Hamburg kann das ähnlich dezentral machen wie Paris. Das ist wirklich ein gutes Beispiel, weil die Pariser sehr kritisch sind, wenn man ihnen das Auto wegnehmen will. Da gibt es enorme politische Widerstände. Und die Bürgermeisterin hat das nicht nur durchgesetzt, sondern ist sogar wiedergewählt worden.

Wählerstimmen ist ein spannendes Thema. Hinkt die politische Wahrnehmung der öffentlichen Meinung hinterher? Ist die Bevölkerung mental eigentlich schon weiter?

Meiner Erfahrung nach ist es ganz oft so, dass die Politik in einer bestimmten Phase der Planung von einer bestimmten Gruppe sehr viel hört. Und das sind nicht die Befürworter.

Am Anfang ist die Unterstützung oft ganz breit. Und an einem bestimmten Punkt gibt es plötzlich einen ganz massiven Aufschrei.

Das sind oft die Gewerbetreibenden, die manchmal auch von Oppositionsparteien aktiviert werden.
Hier muss die Politik entscheiden, wie man darauf reagieren soll. Da muss man dem Bürgermeister klar machen, dass das immer so ist und dass es sich nicht um die Mehrheit handelt. Die Befürworter zeigen an dieser Stelle keinen Aktionismus mehr, denn es scheint ja bereits entschieden.
Wenn wir in Belgien an Projekten arbeiten, werden wir immer gefragt, ob wir es schaffen, das innerhalb
einer Legislaturperiode durchzuziehen. Der Auftrag beginnt direkt nach der Bürgermeisterwahl und sollte sechs Monate vor der nächsten Wahl abgeschlossen sein. Dann kann die Politik den Bürgern zeigen, wie es funktioniert hat. Wir müssen den Bürgermeistern auch die Angst vor solchen Entscheidungen nehmen.

Kann ein zusätzlicher Radweg Wählerstimmen gewinnen?

Nicht allein. Man muss solche Projekte umfassender betrachten oder umfassender kommunizieren. In Paris wird nicht der einzelne Umbau in einer Straße kommuniziert, sondern das Ziel dahinter: »Wir werten die Straße auf«. Das ist dann ein Paket von Maßnahmen. Bäume werden geplant, Flächen werden begrünt, es werden Bänke hingestellt und es wird eben auch ein Radweg gebaut. Oder man macht den Radweg gar nicht separat, sondern plant den Bereich verkehrsberuhigt, sodass die Radfahrer bequem mit dem normalen Verkehr mitschwimmen können.
Das wird oft in Diskussionen vergessen, vor allem hier in Deutschland. Die Diskussion um einen einzelnen Popup-Radweg führt immer zu: Dem einen etwas wegnehmen, um es dem anderen zu geben. Und das ist ja völlig unsinnig, weil die meisten Autofahrer zumindest auch Fußgänger sind, viele sind auch Radfahrer.
Ich bin aktuell in der Planung für Graz. Und obwohl der Bürgermeister das ehrgeizige Ziel ausgegeben hat, 200 Kilometer Radwege bauen zu wollen, sprechen wir gar nicht so viel über den einzelnen Radweg. Wir wollen auch die Fußgänger mitnehmen und den öffentlichen Nahverkehr.
Allerdings muss man bei dieser Umverteilungsdiskussion auch beachten, dass wir das Auto und den ÖPNV in den vergangenen Jahrzehnten massiv bevorzugt haben. Da muss man einen Ausgleich schaffen.

Ausgerechnet Graz. Die Stadt ist von drei Seiten von Bergen umgeben und hat eine stark verkehrsberuhigte Innenstadt.

Ja, für die Innenstadt stimmt das. Unser Blick richtet sich auch eher auf den Pendelverkehr. Und sehr viele kommen von Süden, wo keine Berge sind. Da gibt es wahnsinnig Potenzial für Radwege. Und ähnlich wie Groningen ist Graz eben auch recht klein. Da kann man viel mit dem Rad abdecken.
Aber klar: Die topografischen Gegebenheiten begrenzen die Möglichkeiten. Wer auf den Hügeln rund um Graz lebt, wird, wenn überhaupt, nur auf das E-Bike umsteigen.


Obwohl Graz schon eine verkehrsberuhigte Innenstadt hat, erkennt Stefan Bendiks viel Potenzial für weitere Verbesserungen, vor allem im Pendelverkehr

Gibt es konkrete Leistungsziele, die zu Beginn eines solchen Projekts festgelegt werden?
Das wird sehr oft am Anfang publikumswirksam formuliert. In Graz geht es wie gesagt um die Menge der Radweg-Kilometer, wobei nicht alles Radschnellwege werden.
Es ist wichtig, so etwas klar und deutlich zu kommunizieren. Das baut Druck auf die Beteiligten auf. Das ist eine klare Ansage an die Verwaltung. Nur so kommen Projekte voran. Wenn man keine Ziele formuliert, passiert nichts.

200 Kilometer Radweg sind aber doch kein Konzept, sondern eine isolierte Maßnahme.

Ertappt. Es geht noch um mehr.

Wenn man Pendlerströme verändern will, braucht man auch eine Antwort auf die Frage: Was passiert, wenn es regnet?

Die Abstellmöglichkeiten sind ein wichtiges Thema. Wie werden E-Bikes oder Lastenräder gefördert? Wir konzentrieren uns jetzt erst einmal auf die Infrastruktur. Da gibt es am meisten zu tun. Alles andere nutzt erst etwas, wenn die Menschen sich auf dem Rad sicher und wohl fühlen.

Es gibt international Beispiele mit überdachten Radwegen. Ist das auch ein Konzept für die Region Steiermark?

Ich bin da skeptisch. In Holland gibt es eine Website, wo aufgelistet wird, wann es wirklich regnet. Das ist erstaunlich wenig. Ich glaube nicht, dass das Wetter oder ein Wetterschutz hier etwas ändern. An der Kreuzung wird man trotzdem nass.

Wie ist es mit der Verbindung zu anderen Verkehrsmitteln wie dem Zug? Darf man das Thema Bikesharing dem Privatsektor überlassen?

Die Vergangenheit hat gezeigt, dass das nicht ganz unproblematisch ist. Am Anfang gab es eine riesige Begeisterung und jetzt haben wir alle die Bilder im Kopf, von großen Haufen mit Billigsträdern. Da bin ich schon sehr kritisch. Das Paradebeispiel für mich sind die Niederlande mit dem System OV-Fiets. Da kann man zu seiner
Zugkarte einfach ein Fahrrad dazu buchen, bezahlt drei Euro und kann den ganzen Tag fahren. Die Räder
werden direkt im Bahnhof abgestellt.
Die niederländische Bahn hat ein ureigenes kommerzielles Interesse daran. Sie sehen, wie viele Menschen mit dem Rad zum Bahnhof kommen. Die haben dann aber am Zielbahnhof eben kein Verkehrsmittel. Ich glaube, die niederländische Bahn verdient mit dem Radverleih mehr als mit Bahntickets.

Wie sieht der Radalltag von Stefan Bendiks aus?

In Graz bin ich nur mit dem Rad unterwegs. Es gibt hier keinen Grund, das Auto zu nehmen.
Zwischen Graz und Brüssel nutze ich gelegentlich das Auto, wenn es nicht anders geht den Flieger und manchmal den Nachtzug ab Wien. In Brüssel bin ich nur zu Fuß unterwegs. Brüssel ist auch (noch) nicht wirklich eine Fahrradstadt.
Und zu unserem Haus in den Ardennen geht es nur mit dem Auto. Ich habe auch gar kein grundsätzliches Problem mit dem Auto. Aber bei mir steht das eben dann auch mal drei Wochen nur rum. Im Alltag ist das Rad für mich alternativlos. Aber wenn man auf dem Land lebt, gibt es eben oft keine Alternative zum Auto. Ich finde auch, Auto plus Rad ist eine unterschätzte Kombination. Entweder gibt es einen Fahrradverleih oder ich habe das Faltrad im Auto. Ich liebe diese Abwechslung. Wenn ich mal ein paar Tage nicht Rad fahre, bin ich unausgeglichen. //

8. April 2021 von Frank Puscher
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