8 Minuten Lesedauer
Der Do-it- yourself- Radweg
i

Radverkehr - Wuppertal

Der Do-it- yourself- Radweg

Als Wuppertaler Bürger eine nicht mehr genutzte Bahntrasse zum Radweg umbauen wollten, musste die chronisch finanziell klamme Stadt abwinken. Also überlegte und fand die Wuppertalbewegung einen Plan B.

Der Filmemacher Tom Tykwer hat Wuppertal einmal als das San Francisco Deutschlands bezeichnet. Steile schmale Straßenzüge und viel Autoverkehr sind typisch für die 350.000 Einwohner zählende Stadt im Bergischen Land. Radfahren ist hier eine echte Herausforderung. Trotzdem steigen immer mehr Wuppertaler in den Sattel. Das hat einen Grund. Im Norden der Stadt, entlang der felsigen grünen Hänge des Wuppertaler Stadtgebiets, gibt es seit 2014 die Nordbahntrasse – eine Flaniermeile für Radfahrer, Fußgänger und Freizeitsportler. Die Trasse ist 22 Kilometer lang, sechs Meter breit und verbindet die verschiedenen Stadtteile entlang der Wupper miteinander. Den Umbau der Trasse haben Wuppertaler Bürger angeschoben und zum größten Teil auch selbst umgesetzt.
Dass es die Nordbahntrasse überhaupt gibt, verdanken die Stadtbewohner vor allem der Phantasie und der Hartnäckigkeit Carsten Gerhardts und seiner Mitstreiter aus der Wuppertalbewegung. Die 20 Mitglieder haben ihren Traum von einem Rad- und Freizeitweg fernab vom Autoverkehr in ein finanzierbares Konzept verwandelt und professionell umgesetzt. Dafür haben sie zehn Jahre den Großteil ihrer Freizeit geopfert.
Mit einem Sonntagsspaziergang 2005 fing alles an. Damals ist Gerhardt mit seiner Frau stundenlang über die zugewucherte Bahntrasse der ehemaligen Rheinischen Eisenbahngesellschaft gewandert. 1999 war hier das letzte Mal ein Zug unterwegs. Die ehemaligen Haltestellen und zahlreichen Stationsgebäude standen noch an der Strecke, waren aber ebenso zugewachsen wie die ganze Trasse. Stundenlang folgten die beiden den Schienen auf dem Höhenweg und waren plötzlich in einem ganz anderen Stadtteil. »Wir wussten gar nicht, dass das überhaupt möglich war«, sagt Gerhardt.

Stimmungsmacher

Der Unternehmensberater erkannte sofort: Die Strecke ist ein Kleinod und hat das Zeug für eine neue Attraktion für Wuppertal. Die war damals gerade mehr als notwendig. Die Stadt hatte zwar das weltberühmte Pina Bausch Tanztheater und ihre Schwebebahn, machte aber ansonsten seit Jahren Schlagzeilen mit ihrem maroden Haushalt und sinkenden Einwohnerzahlen. Entsprechend schlecht war die Stimmung in der Stadt.
Gerhardt erzählte Freunden und Bekannten von seiner Entdeckung. Schnell entwickelte die Runde aus Architekten, Ingenieuren, Rechtsanwälten und Handwerkern einen konkreten Plan für einen attraktiven Freizeitweg auf der ehemaligen Bahnstrecke. Hier sollten die Menschen fernab von Autos und Verkehrslärm Sport, Radfahren, Kunst und Spazierengehen miteinander verbinden können. Entsprechende Experten aus dem Freundeskreis erstellten eine Machbarkeitsstudie und eine Animation, wie die zukünftige Nordbahntrasse aussehen könnte.
Das Ergebnis überzeugte. Um die ehemalige Bahntrasse aus ihrem Dornröschenschlaf zu befreien und in einen Rad- und Freizeitweg umzubauen, waren ihren Berechnungen zufolge über 20 Millionen Euro nötig. Sie wussten: Die Stadt hat kein Geld. Aber über Fördertöpfe des Landes und der EU könnten sie 80 Prozent der Gesamtsumme abdecken, sofern die Stadt die restlichen Kosten übernähme. Doch die Wirtschaftslage von Wuppertal war schlecht und die Vertreter der Stadt erklärten den Vertretern der inzwischen gegründeten Wuppertalbewegung beim Gespräch: Selbst für die benötigen nur 20 % der Gesamtkosten sei im Nothaushalt der Stadt kein Geld vorhanden.
Die Absage spornte die Vereinsmitglieder jedoch nur zusätzlich an. Sie waren von ihrem Vorhaben und dem Mehrwert für die Stadtbewohner überzeugt und wollten ihre Idee unbedingt umsetzen. Im Frühjahr 2007 besuchten Gerhardt und seine Mitstreiter deshalb mit einem virtuellen Klingelbeutel die Wuppertaler Unternehmer und beschafften das notwendige Eigenkapital in Höhe von über 2,5 Mio. Euro sowie Sachleistungen im Wert von rund 1 Mio. Euro über Sponsoren. Kurze Zeit später erhielten sie auch die Zusage für die EU-Fördergelder aus Brüssel. Als die Stadt den Vereinsmitgliedern nun erklärte, sie könne die Trasse dennoch nicht bauen, gründeten sie kurzerhand eine eigene Bau- und Betriebsgesellschaft und legten mithilfe Hunderter Freiwilliger los.

Bürger bauen Rad- und ­Freizeitweg

Gerhardt ist Unternehmensberater; er weiß genau, wie Firmen oder Start-ups vorgehen müssen, um eine Idee erfolgreich umzusetzen. Das spiegelt sich auch in der Arbeitsweise der Wuppertalbewegung wider. Der Verein setzte von Anbeginn auf eine breite Öffentlichkeitsarbeit und eine intensive Bürgerbeteiligung. Über die Webseite der Wuppertalbewegung und viele öffentliche Veranstaltungen informierten die Mitglieder die Wuppertaler jederzeit über den aktuellen Stand des Projekts. Außerdem gab es bereits 2007 rund 200 Meter Trasse zum Ausprobieren für alle Bürger. Das Teilstück hatten die Stadtbewohner und der Verein in Wichlinghausen in ihrer Freizeit und in Eigenregie gebaut. So wurde die Nordbahntrasse von Anbeginn ein Projekt von Bürgern für Bürger.
Wer mitmachte, brauchte allerdings auch stets eine Prise zivilen Ungehorsam. »Offiziell darf man die alten Viadukte gar nicht betreten«, erklärt Gerhardt. Aber daran störte sich der Verein nicht. Die Mitglieder luden zu Sonntagsspaziergängen ein und liefen mit hunderten Wuppertalern über die alten Schienen, die Tunnel und die historischen Viadukte. Bereits vor der Spenden-Sammelaktion startete die Wuppertalbewegung den ersten Aufruf zu einer großen Aufräumaktionen auf der alten Bahntrasse. Die Resonanz war riesig. Hunderte Bürger kamen, fällten stundenlang kleine Bäume, gruben Gestrüpp aus und sammelten Müll. Rund 20 Mal rückten in den folgenden Monaten und Jahren ehrenamtliche Helfer an, um in ihrer Freizeit weiter an der Trasse zu bauen. Mit diesen Aktionen wollte die Wuppertalbewegung Geld sparen, zeitgleich stärkte sie damit das Gemeinschaftsgefühl der Aktivisten und der Stadtbewohner.
2010 war das erste Teilstück fertig. Inzwischen kam es immer häufiger zu Unstimmigkeiten zwischen dem Verein und der Stadt. Es zeigte sich, dass die 130 Jahre alten Tunnel, Viadukte und Brücken nicht zu den kalkulierten Kosten saniert werden konnten. 2011 übernahm die Stadtverwaltung den weiteren Bau der Trasse. Sie folgte dabei größtenteils den Plänen des Vereins. Mit einer Gesamtsumme von rund 32 Millionen Euro wurde die Trasse deutlich teurer als ursprünglich kalkuliert. 2014 war sie fertig und die Wuppertalbewegung hat das Grundstück in Erbpacht übernommen.
Seitdem ist die Nordbahntrasse komplett in der Hand der Bürger. 50 Einrichtungen und Privatpersonen kümmern sich als sogenannte Streckenpaten um die Instandhaltung. Die Aufgaben reichen von der Versorgung mit Licht bis zum Leeren der Mülleimer. Das klappt auf der Trasse besser als in manchem öffentlichen Park. Neben Unternehmen, Privatleuten oder Vereinen sind auch viele Schulen Streckenpaten. Sie helfen regelmäßig bei gemeinsamen Pflanzaktionen. Denn sie profitieren täglich von der Nordbahntrasse.

Schüler selbstständig mobil

Rund 20 Schulen befinden sich in unmittelbarer Nähe der Trasse. Seit es sie gibt, hat sich die Alltagsmobilität vieler Kinder und Jugendliche komplett gewandelt. Statt mit dem Bus oder im Elterntaxi zur Schule zu fahren, sind sie jetzt selbstständig mobil. Sie fahren mit Rollern, Inlinern, Skateboards oder per Fahrrad zur Schule oder gehen zu Fuß. Das war für viele von ihnen zuvor nicht möglich, weil die Anstiege der Straßen in Wuppertal zu steil waren oder der Autoverkehr zu dicht.
Aber auch die Erwachsenen nutzen die Strecke intensiv im Alltag. Wer im Norden der Stadt wohnt und arbeitet, pendelt auf ihr mit dem Rad zur Arbeit. Das ist praktisch und macht Spaß. Denn die Trasse ist eine grüne Oase inmitten der Stadt. Die hohen Felswände schirmen die Verkehrsgeräusche fast komplett ab. Teilweise führt die 22 Kilometer lange Strecke direkt durchs Naturschutzgebiet. Im Sommer verwandeln sich diese Abschnitte in einen wilden grünen Dschungel.
Über 100.000 Menschen leben im direkten Einzugsgebiet der Trasse. Das ist fast ein Drittel der Wuppertaler Stadtbewohner. Ihre Quartiere wurden durch den neuen Rad- und Freizeitweg aufgewertet. Die Trasse gilt innerhalb und außerhalb der Stadt als innovatives Leuchtturmprojekt, das viele Besucher anzieht. Ausflügler und Radtouristen aus ganz Deutschland besuchen die Nordbahntrasse und die Anwohner nutzen sie zum Sporttreiben, Spazieren gehen und Klönen.

10. Dezember 2018 von Andrea Reidl
Velobiz Plus
Die Kommentare sind nur
für unsere Abonnenten sichtbar.
Jahres-Abo
115 € pro Jahr
  • 12 Monate Zugriff auf alle Inhalte von velobiz.de
  • täglicher Newsletter mit Brancheninfos
  • 10 Ausgaben des exklusiven velobiz.de Magazins
Jetzt freischalten
30-Tage-Zugang
Einmalig 19 €
  • 30 Tage Zugriff auf alle Inhalte von velobiz.de
  • täglicher Newsletter mit Brancheninfos
Jetzt freischalten
Sie sind bereits Abonnent?
Zum Login