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Marketing // Nudging

Die Kunst der subtilen Verführung

Menschen entscheiden emotional und instinktiv. Aus diesem Grund machen oft kleine Elemente im Webshop oder Ladengeschäft den Unterschied zwischen guter und sehr guter Conversion. Viele Radshops übersehen das.

Haben sich die Männer unter den Lesern schon einmal gefragt, warum in manchen Pissoirs ein kleines Fußballtor installiert oder ein Abziehbild einer Fliege aufgeklebt ist? Haben sich die Leser schon einmal gewundert, warum auf Treppenstufen Kalorienzahlen oder Klaviertasten aufgemalt sind?
Der intendierte Effekt ist klar: Männer sollen genauer zielen, um den Reinigungsaufwand zu reduzieren, und alle Menschen sollen lieber Treppen steigen, statt den Fahrstuhl oder die Rolltreppe nutzen, um ihrer Gesundheit etwas Gutes zu tun und Strom zu sparen. Aber funktioniert das?
Es funktioniert. Das Beispiel mit den Fliegen im Pissoir hat schon 30 Jahre auf dem Buckel. Es stammt ursprünglich vom Amsterdamer Flughafen Schiphol und hat den Grad der Verschmutzung auf Männertoiletten um kolportierte 80 Prozent reduziert.
Die Klaviertasten auf den Treppenstufen hat sich die Metro in Stockholm einfallen lassen. Die Nutzungshäufigkeit der Treppe stieg um 66 Prozent im Vergleich zur »unmusikalischen« Variante.
Beide Beispiele gelten als Blaupause des »Nudging«. Der »Nudge« ist der kleine Stupser, mit dem die Elefantenmutter ihr Junges in Richtung Wasserloch schubst. Wohlwollend, das Beste für sich und das Kleine im Sinn, aber ein kleiner Verstoß gegen den freien Willen des Elefantenkindes. Das Motiv ziert den Umschlag des Buches »Nudge« von Cass Sunstein und Richard Thaler, die den Begriff 2008 eingeführt haben.

Das Gehirn sucht Abkürzungen

Die Lehre vom Nudging ist eine Erkenntnis aus der Verhaltensökonomie. Sie basiert auf bis zu 100 Jahre alten Studien aus der Verhaltensforschung und die meisten der beschriebenen Maßnahmen und Effekte sind hinreichend belegt.
Jedoch vollzieht sich die Wirkung von Nudging immer vor dem Hintergrund des individuellen Kontexts. Beim Online-Fahrradshop sind das Variablen wie der User, das Verhalten des Wettbewerbs, das Wetter, die politische Stimmung und vieles mehr. Daher ist jede Shop-Optimierungsmaßnahme immer als Test aufzubauen, um zu sehen, ob der jeweilige Psycho-Trigger tatsächlich wirkt.
Hinter Nudging steht die Erkenntnis, dass die allermeisten unserer täglichen Entscheidungen nicht durch den Verstand gefällt werden, sondern durch das limbische System, umgangssprachlich: aus dem Bauch heraus. Auch das ist eine gesicherte Erkenntnis. In MRT-Scans (Magnetresonanztomografie) des Gehirns konnte bewiesen werden, dass verhaltensauslösende Areale im Gehirn früher aktiv werden als diejenigen, die denken. Mitunter fällen beide Systeme die gleiche Entscheidung, dann fühlt es sich rational an. Aber in den allermeisten Fällen kommt es zu einer Post-Rationalisierung, bei der der Mensch sich nachträglich selbst die Absolution erteilt, eine kluge Entscheidung getroffen zu haben.
Wenn die Entscheidungen aber zunächst irrational getroffen werden, dann ist es ein Fehler oder zumindest suboptimal, rationale Kaufargumente in den Mittelpunkt der Kommunikation zu stellen. Schaut man sich die Websites der großen deutschen Radhändler an, so setzen dieser Tage alle auf das »Loswerden des Winterspecks«, das »Gesundbleiben im Lockdown« oder einfach: »Endlich wieder raus«. Illustriert werden diese Themen mit stimmungsvollen Bildern von Menschen, die das Radfahren genießen.

Nudging, so geht‘s

Interessanterweise gilt das bei FahrradXXL, Rose oder Fahrrad.de meistens nur für die Kategorie- und Übersichtsseiten. Auf den einzelnen Produktseiten geht es dann doch wieder um funktionale Faktenkommunikation.
Das ist ein Versäumnis, findet Philip Spreer. In seiner langjährigen Beratungspraxis hat Spreer viele vermeintlich gute Produktseiten gesehen, die sich mit wenigen Handgriffen verbessern ließen. Die Maßnahmen, die dabei zum Einsatz kommen, sind immer eine Mischung aus gelernten Standards und neuen Experimenten. In beiden Fällen weiß man im Vorfeld nicht, ob sie funktionieren.
Daher setzt man solche Neuerungen immer als Vergleichstest zwischen zwei oder mehreren Seiten auf. Die eigentliche Entscheidung, was auf die Website kommt, übernimmt dann der User durch sein Verhalten. Sven Rocksloh, der E-Commerce-Manager von BOC, verwendet das Personalisierungstool TRBO, um einfache Tests schnell aufsetzen zu können. Wenn sie erfolgreich sind, bittet er seine Agentur, das fest in die Website zu integrieren.
Exklusiv für Velobiz zeigt Philipp Spreer ein Beispiel aus seinem neuen Buch, das am 18. März erscheint. Es geht um Arbeitsschuhe. Die Prinzipien dahinter sind für den Leser leicht übertragbar.
In der ersten Analyse bewerteten Spreer und seine Kollegen, wie sich die Produktseite aus Sicht unterschiedlicher Nutzertypen anfühlt. Gerade bei B2B-Produkten ist das besonders spannend, da oft der Einkäufer nicht die gleiche Person ist wie der spätere Nutzer, der eventuell auch die Anforderung für das Produkt gegeben hat. Während der Einkäufer nach Zahlungsmethoden, Rabatten oder der Einhaltung von ISO-Sicherheitsstandards fahndet, will der Benutzer vielleicht nur sichere Schuhe, die auch noch cool aussehen.
Genauso ist es im Endkundengeschäft an Privatpersonen. Hier gibt es den Lehrer im Ruhestand, der für sich und seine Frau vor allem ein sicheres E-Bike kaufen will. Dort ist der Student, der sich vielleicht das gleiche Modell anschaut, aber weil er sich damit umweltbewusst fortbewegen will. Eine »Anamnese« der aktuellen und potenziellen Käufer und deren emotionaler Neigungen ist die Grundlage guten Nudgings. Das Stichwort lautet hier »Buyer Personas«.
Spreer und sein Team stellten fest, dass auf den Produktseiten kein Content für »Heroes« existierte. Es wird sachlich und funktional argumentiert, aber die Tatsache, dass die Benutzer von Sicherheitsschuhen oftmals kernige Typen sind, die mitunter gefährlichen Berufen nachgehen und auch stolz darauf sind, fand keine Berücksichtigung.

Spreer und sein Team bauten um:

  1. Bewertungssternchen signalisieren, dass Peers mit dem Produkt zufrieden sind.
  2. Features-Beschreibungen wurden mit kleinen Icons versehen, damit sie besser wahrgenommen werden.
  3. Ein Streichpreis wurde eingeführt.
  4. Der Kunde wird direkt angesprochen: »Setze neue Maßstäbe«. Das impliziert die Handlungsaufforderung und erzeugt eine Art Vorhersage des Kaufs.
    Dazu kommt noch eine Reihe weiterer Details bei der Gestaltung eines übersichtlichen Layouts sowie bei der klaren optischen Priorisierung der wichtigsten Funktionen »Größe auswählen« und »Kaufen«.
    Über allem thront aber die wichtigste Veränderung: Das Aufmacherbild zeigt den Schuh nun am Fuß eines »Heroes«. In diesem Fall ist es offensichtlich der Mitarbeiter einer Stadtreinigung. Und genau darum geht es. Helden sind nicht nur die Superstars aus Sport oder Film. Gerade Corona hat gezeigt, wie wichtig es ist, allen Berufsgruppen den verdienten Respekt zukommen zu lassen. Jeder möchte sich in seinem Beruf ein kleines bisschen wie ein Held fühlen.
    Das große Produktbild überstrahlt den Rest des Inhalts. Das ist der sogenannte Halo-Effekt. Die Stimmung im Bild geht direkt ins Unterbewusstsein und beeinflusst dort die Kaufstimmung. Der rationale Teil des Gehirns hat Pause.
    Und das Ergebnis? Im Vergleich zur Vorgängerseite erzeugte die neue Seite 36,1 Prozent mehr Conversions und ein Umsatzplus von 26 Prozent. Und das ist beileibe nicht der krasseste Optimierungswert, den Spreer und sein Team von Elaboratum über die Jahre gesehen haben. Je nach »Schlechtigkeit« der ursprünglichen Seite sind noch größere Steigerungen möglich.

Die Folgen für die Fahrrad-Branche

Das Beispiel von Philipp Spreer zeigt zweierlei. Zum einen sind mit relativ überschaubaren Mitteln Verbesserungen auf den Seiten und damit im Umsatz zu erreichen. Zum anderen aber sollte daraus klar werden, dass Nudging, also die kleinen Elemente der Verführung, im Grunde nur die Spitze des Eisbergs sind.
Nudging funktioniert in vielen Bereichen, zum Beispiel dann, wenn es darum geht, mehr Menschen in ein Kundenbindungsprogramm zu
überführen oder einen Newsletter zu abonnieren. Die Orientierung an den emotionalen Bedürfnissen sehr unterschiedlicher Kundentypen ist nicht nur eine Frage der Produktseiten, sondern eine Frage der Gesamtstrategie eines Unternehmens. Was macht aus Sicht der Kunden wirklich den Unterschied? Ist es der nächste Meter Wasserdichtigkeit oder ist es vielleicht doch das progressivere Design?
Dazu gehört auch der Umgangston eines Unternehmens. Gibt man sich seriös distanziert oder setzt man auf eine Kumpel-Ansprache unter Bikern? Im Idealfall kann man beides, je nachdem, welcher Kundentyp gerade vor einem steht.
Fakt ist: Die emotionale Ebene bestimmt den Kauf. Sie ist bei jedem Menschen unterschiedlich. Gerade bei Leidenschaftsprodukten wie Fahrrädern spielt sie eine besonders große Rolle. Website-Betreiber sollten unbedingt morgen damit anfangen, mehr Nudging zu betreiben, und auch stationäre Shops können sich überlegen, wie sie ihre Kundschaft auf eine Weise ansprechen, die ihre Kauflust anregt. Gerade die aktuelle Umbauwelle in den Radläden bringt hoffentlich manche Verbesserung. //

11. Februar 2021 von Frank Puscher
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