Mobilität - Fünf Jahre Radentscheidsbewegung
Eindrucksvolle Bewegung
Der Oscar der Radentscheidsbewegung ging im März 2021 ganz klar nach Nordrhein-Westfalen. Denn wer hätte gedacht, dass dieses Autoland mit den vielen ineinander wuchernden Städten das erste Radverkehrsgesetz in einem Flächenbundesland bekommt? Und das in einem CDU-FDP-geführten Bundesland? Dr. Ute Symanski und ihrer Radkomm-Bewegung, aber auch dem Landesverkehrsminister Hendrik Wüst (CDU) ist es zu verdanken, dass es einen verabschiedeten Kabinettsentwurf gibt, der den Ausbau der Radwege zwischen Rhein und Ruhr gesetzlich festschreibt. Vorausgegangen ist dem die erfolgreichste Volksinitiative in NRW, die über 200.000 Unterschriften auf Papier sammelte.
CDU schreibt Radverkehrsgesetze
»Wenn wir Radinfrastruktur säen, ernten wir Radverkehr und weniger Stau auf den Straßen im Ruhrgebiet«, fasst Ute Symanski den gemeinsamen Nenner zusammen. Tatsächlich war es die direkte Demokratie, die in mittlerweile 43 Städten per Bürgerentscheid den Radverkehr auf die Agenda gesetzt hat. Diese Radentscheide haben mittlerweile Veränderungen bewirkt: etliche Kilometer »Protected Bikelanes« in Berlin, Darmstadt und Hamburg, modale Filter und abknickende Einbahnstraßen bei Fahrradstraßen in Berlin, einen kräftigen Schub auf den Straßen in Frankfurt, mehr Fahrradstraßen und Radverkehrszähler in Stuttgart.
Die Radentscheide haben aber auch Hunderte neuer Arbeitsplätze geschaffen – Radverkehrsplaner sind mittlerweile »Mangelware«, Planerinnen erst recht. Waren es in Berlin früher gerade mal zwei Planer, sind jetzt über 70 Fahrradexperten in Lohn und Brot und haben eine ganz andere Planungs- und Verwaltungspower.
100 Euro pro Einwohner und Jahr investieren
Auch die Budgets sind explodiert. Waren es in Berlin früher 3,70 Euro pro Einwohner und Jahr, also der Preis eines Weizenbiers, sollen nun pro Jahr und Person 15 Euro investiert werden, was einer Gesamtsumme von 51 Mio. Euro entspricht. Der Radentscheid in Marl war diesbezüglich der Erfolgreichste: Knapp 100 Euro pro Einwohner und Jahr will die Stadt Marl in NRW bis 2028 investieren.
Zu guter Letzt hat es auch einen Ruck im Bundesverkehrsministerium gegeben. Andreas Scheuer darf sich zu Recht als der beste Fahrradminister feiern, den wir je hatten. Absolut gesehen geht da natürlich noch deutlich mehr, wenn man an die verschleppte StVO- und Bußgeldkatalog-Novelle denkt. Dennoch sind kräftig neue Stellen geschaffen, dreistellige Millionenbudgets für den Radverkehr freigespielt und über sieben Fahrrad-Professur-Stellen finanziert worden.
Bundesminister Andreas Scheuer: »Nachhaltige Mobilität muss gelebt werden und beginnt in den Köpfen. Dazu gehört, die Kompetenzen und den Sachverstand der Menschen in allen Planungs- und Entscheidungsprozessen in einem öffentlichen und kooperativen Diskurs wertzuschätzen. Beteiligungsverfahren sind gelebte Demokratie. Ein gutes Beispiel dafür sind Ideenwettbewerbe, die bereits spürbare Impulse für eine fahrradfreundliche Gestaltung der Städte und Regionen gesetzt haben. Entscheidend ist dabei, dass aus diesen Impulsen jetzt zügig Verbesserungen für die Radfahrenden vor Ort werden. Ich stelle den Ländern und Kommunen im Rahmen der Radverkehrsoffensive dafür ein breites Förderspektrum zur Verfügung.«
Verkehrspolitische Kettenreaktion
Der Ursprung der Radentscheidsbewegung lässt sich auf den Volksentscheid Fahrrad in Berlin zurückführen, den ich 2015 zusammen mit Frank Masurat, ADFC-Berlin-Vorstand, angeschoben habe. Es sorgte für Aufsehen nicht nur in Berlin, dass die Radfahrenden sich nicht mehr mit Brosamen abspeisen lassen wollten, sondern die Chuzpe besaßen, 10 glasklare Ziele für eine fahrradfreundliche Stadt zu formulieren, diese innerhalb von drei Monaten in Deutschlands erstem Radverkehrsgesetz juristisch auszuformulieren und dann noch 105.425 Unterschriften in drei Wochen sammelten, um den politischen Nachdruck im Vorwahlkampf um das Berliner Abgeordnetenhaus zu erzielen.
Es war ein »verkehrspolitischer Tsunami«, der von Berlin ausging und Vorbild für eine bundesweite Bewegung wurde. Bamberg folgte, dann Darmstadt, Frankfurt, Kassel und Stuttgart. Die letzten drei, die an den Start gingen, waren Bochum, Jena und Mannheim.
Die Verkehrswende medial und von unten geknackt
In 43 Städten haben Fahrrad-Engagierte die Radverkehrspolitik so auf die politisch-mediale Agenda gesetzt, dass Mobilität nicht mehr nur Auto ist und Journalisten durchaus nachfragen, was aus den versprochenen Radwegen geworden ist. Die Medien erwarten jetzt, dass die durch die direkte Demokratie ausgelösten Zusagen auch eingehalten werden, das Campaigning verteilt sich damit indirekt auf mehrere Schultern. Über 1.000 Medienbeiträge sind rund um den Volksentscheid Fahrrad entstanden, eine PR-Leistung, die kein Verband aus Kostengründen hätte beauftragen wollen.
In allen Städten, wo die Unterschriftensammlung abgeschlossen wurde, sind die Forderungen zu mehr als 80 Prozent von den Stadtparlamenten übernommen worden, ohne dass es zum Gang an die Urne kommen musste. »Kam, sah und siegte«, so hieß es schon bei Julias Cäsar, es gilt aber auch für die Radentscheide. In Wuppertal und in Braunschweig reichte schon die Gründung für einen Ratsbeschluss, ohne dass eine einzige Unterschrift zu sammeln war.
Das Fahrrad ist nicht mehr wegzudenken und fester Bestandteil guter Verkehrspolitik geworden. Im Wahlkampf 2016 in Berlin gab es die fünf Fahrrad-Parteien CDU, SPD, FDP und natürlich Grüne und Linke. Der Radverkehr ist eine neue politische Selbstverständlichkeit geworden. Themen wie weniger Autos in der Stadt, massiver Support auch für den Fußverkehr und den ÖPNV-Ausbau werden regelmäßig durch Radentscheide mittransportiert. »Sind wir mit dem Fahrrad gestartet, landeten wir mit der Verkehrswende bis hin zu einer neuen Autofrei-Bewegung«, räsoniert Dr. Kerstin Stark, eine der Mitgründerinnen des Volksentscheids Fahrrad und Vorstand bei Changing Cities e.V. Die Politik hat die verkehrspolitischen Botschaften gelernt: Autofahrende aufs Rad locken, um für weniger Stau und mehr freie Parkplätze für die anderen zu sorgen, die zwingend aufs Auto angewiesen sind, verfängt sich zunehmend in der Rhetorik der Parteien und der Politikerinnen.
Die neue Selbstverständlichkeit Fahrrad
Der mediale Rückenwind hat den Fahrrad-Hype beflügelt und das Image des Radfahrens gewaltig verbessert. Radfahren ist in Berlin Alltagsmobilität geworden. Im Corona-Jahr 2020 wuchs der Radverkehr in Berlin um 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die Daten des Navigations-App-Anbieters Strava sind hier noch deutlicher: Nahmen im November beim Lockdown Light im Vergleich zum Vorjahresmonat die aufgezeichneten Trips um 50 Prozent in Frankfurt, 72 Prozent in Hamburg und 100 Prozent in Stuttgart zu, brachte auch die Verschärfung des Lockdowns rund um den 16. Dezember einen erneuten, kräftigen Zuwachs gegenüber Kalenderwoche 50 mit sich: 15 Prozent Zuwachs in München, 58 Prozent in Berlin und 71 Prozent in Köln. Fahrradfahren ist zu einer neuen Selbstverständlichkeit geworden und die Fahrrad-Läden sind leer gekauft.
Auch die angestammten Verbände von ADFC über VCD, von ZIV über VSF, von Deutscher Städtetag bis zum Deutschen Städte- und Gemeindebund haben ihre fahrradpolitischen Positionen verschärft, auf Vordermann gebracht und trauen sich mit mehr Selbstbewusstsein, fürs Fahrrad einzustehen. Auch Neugründungen sind entstanden, wie der Launch von Changing Cities als Trägerverein des Volksentscheides, aber auch des bundes-weiten Netzwerks Bundesrad, das in konzertierten Aktionen nicht nur den Parlamentskreis Fahrrad bespielt.
Politische Power der Fahrradbranche?
Auch für die Fahrradbranche braucht es ein Fazit:
Als Radentscheidsteam waren wir tatsächlich enttäuscht über die lächerlich kleinen Sponsoring-Summen seitens der Branche: Auf 5.000 Euro in Summe sind wir 2016/2017 gekommen.
Umso mehr erfreut es, dass der Bundesverband Zukunft Fahrrad e. V. gegründet wurde mit Wasilis von Rauch als ehemaligem VCD-Bundesvorsitzenden und dass Burkard Stork als ehemaliger ADFC-Bundesgeschäftsführer nun neuen Wind in den ZIV e. V. bringt. »Die Automobilbranche hätte einer vergleichbaren Initiative sicherlich massive Unterstützung zukommen lassen. Ich denke, wir als Branche können in solchen Fällen noch eine gute Schippe drauflegen«, fasst Wasilis von Rauch die Situation, aber auch die neue Motivation der Branchenverbände zusammen.
Noch mehr freuen würde es mich, wenn die Radentscheide und Changing Cities mit dem BundesRad seitens der Fahrradbranche mit ihren Rekordumsätzen 2020 mehr Rückenwind bekämen würden, ob finanzieller, personeller oder sonstiger Natur. Örtliche Fahrradhändler könnten sich auch mehr ihre IHKs vornehmen, um dort für andere verkehrspolitische Positionierungen zu werben. Oder einfach mal im direkten Schulterschluss mit den örtlichen Aktivistinnen und Aktivisten ein konkretes Radwegeprojekt vor den eigenen Schaufenstern anschieben. Es wäre ein Traum, wenn sich jeder Händler im 500-Meter-Umkreis um sein Geschäft für eine Top-Fahrrad-Infrastruktur einsetzt.
35-km-Fazit nach fünf Jahren Radentscheid in Berlin
Zum Fazit gehört leider auch, noch einmal penibel nachzuzählen: In Berlin sind es in den fünf Jahren nach dem Start des Volksentscheids Fahrrad 25 km Popup-Bikelanes geworden und in Summe vielleicht 10 km geschützte Radwege. Die grün überpinselten Radstreifen übersehen wir, denn sie widersprechen den neuen gesetzlichen Vorgaben und bringen nicht den Zuwachs an gefühlter und tatsächlicher Sicherheit, den wir brauchen, um ängstliche Autofahrerinnen aufs Rad zu locken. Dafür werden häufig Baustellen mit Baken für sichere Umfahrungen eingerichtet; die Zahl der Fahrradständer ist gewachsen. Gemessen an dem Berlin-Standard, dem Geist des Radentscheids und den gesetzlichen Vorgaben durch das Berliner Mobilitätsgesetz, ist das Erreichte in Berlin für die Partei der Grünen das, was für die SPD der Bau des Berliner Flughafens ist: Es dauert zu lange.
Nach einer kleinen bundesweiten Twitter-Umfrage unter den Radentscheiden war auch dort die Bilanz eher mager: So richtig begeistert war noch niemand von dem, was sich auf den Straßen so tut.
Es gilt, in der Politik genauer zwischen Legislative und Exekutive zu unterscheiden: Gesetze, Programme und Papier sind vorhanden, allein es fehlt beim Management von den Spitzen der Exekutive und bei der Umsetzung in den Amtsstuben der Verwaltungen. Anderseits sind Kopenhagen und Amsterdam auch nicht an einem Tag entstanden, sondern über vier Jahrzehnte Schritt für Schritt umgebaut worden. Sind wir zu ungeduldig?
Zwischen Mutmachen und »Verwaltungs-Campaigning«
Die Radentscheidsbewegung hat aber noch etwas Weiteres ausgelöst: Sie hat Mut gemacht, dass im Autoland Deutschland eine Verkehrswende möglich ist, dass es Verbindendes zwischen Autofahrenden und Radfahrenden gibt und es sich trotzdem klar für ein Mehr fürs Rad und das Leben in der Stadt eintreten lässt. Der Volksentscheid Berlin autofrei, der nun das »Berliner Gesetz für gemeinwohlorientierte Straßennutzung« (GemStrG Bln) vorgelegt hat, ist ein Beispiel dafür. Die autofreie Friedrichstraße ein weiteres, ebenso die Demonstrationen für autofreie Straßen, der Tag der freien Straße auf der Leipziger Straße in Berlin in guter internationaler Anlehnung an die sonntäglich geräumten Magistralen in Mexiko, Paris und Jakarta.
Das Superwahljahr 2021 wird auch ein Jahr, in dem übers Rad abgestimmt wird. Ob es um die vierrädrige Zukunft bei der Motorwende geht, die lebenswerteren Städte mit mehr Platz fürs Flanieren, Laufen oder Radfahren oder einfach nur anständige Fahrradinfrastruktur, die Grünen sind hier klar, die Linke ebenfalls.
BundesRad als eine weitere Einladung
Aus der Radentscheidsbewegung ist das BundesRad geworden, eine schlagkräftige Vernetzungsinitiative mit klaren Forderungen an die Landes- und Bundespolitik, weil oft nur dort die nötigen Änderungen der Rahmenbedingungen beschlossen werden können: Die Verkehrswende findet zwar lokal statt, aber viele bundesweite Gesetze und Regeln bremsen sie immer wieder aus.
Zusammenfassend wird 2021 das Jahr der Klimawahl werden, denn 2021/2022 ist das letzte verbleibende Zeitfenster, um die langfristig wirkenden Umbauentscheidungen und Marktregulierungen für ein klimaneutrales Deutschland 2035 einzuleiten. Unterbleiben die großen Entscheidungen in den ersten zwölf Monaten, erlischt oft die Kraft der Parlamentarier bzw. die Lobbyisten der Gegenseite haben die Kneifzangen und Schraubstöcke wieder so eng angelegt, dass die Chance verstreicht, das 1,5-Grad-Limit abzusichern und unseren Kindern und Enkeln eine halbwegs akzeptable Umwelt und Gesellschaft zu hinterlassen.
Zusammenfassend und in einem Satz: Die Radentscheidsbewegung hat die Radverkehrspolitik Stadt für Stadt, in den Ländern und im Bund mehrheitsfähig gemacht und wird weiter mit cleverem Verwaltungscampaigning bei der konkreten Umsetzung vor Ort für jeden Quadratmeter gefordert sein. Es wäre schön, wenn die Hersteller und Händler den Engagierten in den Radentscheiden, beim BundesRad oder bei Changing Cities mehr Rückenwind geben würden.
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