Interview // Isabell Eberlein
»Es geht darum, die Frauen sichtbarer zu machen«
Fangen wir doch gleich mit der einfachsten Frage an: Warum gibt es nicht genug Frauen in der Branche?
Isabell Eberlein: Oh, ich weiß nicht, ob das die einfachste Frage ist. Vielleicht fange ich mit einer Geschichte an, als ich zum ersten Mal auf der Eurobike war. Dort habe ich erst mal nur Männer um mich herum gesehen und hatte das Gefühl, da sind so 80 Prozent Männer. Ich kam dort zu einer Veranstaltung, einem Frühstück der European Cycling Federation, wo keine Frauen auf dem Podium waren, vier Frauen waren im Publikum. In dieser Situation hat der CEO von Brompton gefragt: »Wo sind denn die ganzen Frauen? Die sind unsere Kundinnen. Aber sie sind nicht in dieser Branche repräsentiert.«
Ich habe viel darüber viel nachgedacht, warum die Frauen nicht da sind. Das Kernproblem ist die Ansprache und die Sichtbarkeit von Frauen. Es gibt Frauen in der Fahrradbranche, nur sind sie sehr wenig sichtbar, weil auf Veranstaltungen, in der Berichterstattung, auf den Messen, überwiegend die Männer gezeigt werden, die natürlich ein massives Übergewicht haben. Daher glaube ich, dass es erstens darum geht, die Frauen nach vorne zu holen und sichtbarer zu machen. Vor Kurzem war ich auf einer Veranstaltung, da wurde gesagt: »Wir müssen uns ja gar nicht um Recruiting bemühen, weil wir so eine tolle Branche sind. Alle wollen hier arbeiten.« So eine Herangehensweise ist sehr gefährlich, weil man dann nur die Leute einstellt, die so denken wie man selbst. Das mag funktionieren, solange man hoch spezialisierte Sportprodukte produziert und an den Mann bringen will. Wenn man aber Citybikes oder das Fahrrad als Verkehrsmittel sieht, dann muss man darauf achten, dass man einen repräsentativen Querschnitt der Gesellschaft hat.
Wenn es um den angesprochenen Punkt der niedrigeren Einstiegshürden geht: Wie macht man die Branche attraktiver für Frauen?
Ein wichtiger Punkt ist zum Beispiel das Recruiting. Wie macht man eine Stellenausschreibung? Was bietet man an? Was gibt es an Flexibilität? Muss diese Stelle eine Vollzeitstelle sein? Ist diese Stelle eine Präsenzstelle oder gibt es vielleicht Homeoffice-Möglichkeiten? Das sind wichtige Sachen. Was extrem auffällt, ist, dass die Fahrradbranche eine relativ kleine und überschaubare Branche ist. Es kommt sehr viel auf das Netzwerk an, und Frauen untereinander sind eben noch nicht genug vernetzt.
Es geschieht ja häufig, dass jemand von einer Firma in der Fahrradbranche zu einem anderen Unternehmen wechselt. Diese Attraktivität der Branche, um Leute aus anderen Branchen zu gewinnen, könnte noch größer sein. Es geht um neue Fachkräfte, um einfach auch Impulse von außen zu haben. Ich glaube auch, dass es Vorbilder braucht. Es gibt starke Frauen in der Fahrradbranche und von denen wünscht man sich, dass sie öfter zu sehen sind.
Sie bauen gerade ein Netzwerk für Frauen auf, das nicht nur branchenintern ausgerichtet ist, sondern auch weitere Kreise für die Fahrradbranche ansprechen soll. Wie ist da die Ausrichtung, wie entwickelt sich das?
Das Netzwerk ist erst mal für den Fahrradsektor gedacht. Das schließt NGOs oder Leute in der Wissenschaft mit ein. Es ist erst einmal für alle Frauen, die beruflich etwas mit dem Fahrrad zu tun haben. Das ist der Startpunkt. Wo wir aber hinmüssen mit diesem Netzwerk ist, dass es ein Ansprechpunkt wird. Ein Ort, an man sich informieren kann, dass man Leuten oder Frauen, die sich für die Fahrradbranche interessieren, Tipps geben kann, wie sie da reinkommen oder einfach Verbindungen herstellt. Mittlerweile sagen die Unternehmen selbst, »wir wollen diverser werden, weil wir merken, dass es hakt«.
Was ist der Anlass, dass sich Unternehmen mit diesem Thema auseinandersetzen?
Als Beispiel fällt mir das Designbüro ein, das ganz viel Designarbeit macht fürs Fahrrad. Die stehen vor der Situation, dass deren Auftraggeber fragen: »Wo sind die Frauen? Ihr seid nur Männer, ihr designt, was euch gefällt. Aber gefällt das auch den Frauen? Gefällt es allen?«
Wo würde die Branche denn noch ganz konkret profitieren von mehr Frauen, neben dem Design? Welche Bereiche sind noch relevant?
Momentan gibt es keine Zahlen darüber, wo Frauen in der Branche arbeiten. Mein Gefühl ist, dass sie stärker in Personalabteilungen oder im Marketing zu finden sind. In den Werkstätten zum Beispiel sind sehr wenige. Wenn ich in eine Werkstatt oder einen Fahrradladen gehe, wo ich weiß, da ist eine Frau, dann weiß ich, dass die mir keinen blöden Kommentar reinhaut, wenn ich mit einem Platten ankomme und keine Lust habe, das selber zu reparieren.
Den größten Vorteil hätte die Industrie, wenn sie diverser wird, weil es eben darum geht, neue Zielgruppen zu erschließen. Durch Corona haben wir gemerkt, dass das Fahrrad in die Mitteder Gesellschaft hineinwächst. Es ist aber immer noch so, dass die meisten Leute, die hier in Berlin auf dem Rad unterwegs sind, eher weiß oder vielleicht sogar mit einem akademischen Hintergrund sind. Sobald man dann in Berlin in den Randgebieten unterwegs ist, fahren die Leute schon wieder weniger Fahrrad. Wenn man verstehen will, warum diese Gruppen nicht Fahrrad fahren, dann musst man diese Gruppen zu sich reinholen. Mein liebstes Beispiel ist mein Vortrag übers Fahrradfahren, den ich an einer Neuköllner Schule unter Jugendlichen gehalten habe. Das war der härteste Vortrag, den ich je gehalten habe. Die haben gesagt, »Fahrradfahren ist uncool, Fahrradfahren ist peinlich«. Die körperliche Betätigung, denen hat alles wehgetan. Die hatten eine Projektwoche und haben danach gesagt: Never ever würden die noch mal Fahrrad fahren. Da habe ich mich gefragt: Wie kriegen wir die?
Wie kriegen wir die?
Wir brauchen Botschafter oder Vorbilder, zu denen die Leute aufschauen, damit das Fahrrad einen anderen Stellenwert gewinnt. Bei allem Erfolg, den die Fahrradbranche hat, sind wir immer noch nicht in der ganzen Gesellschaft. Deswegen würde ich das Thema gerne ausweiten über Frauen hinaus. Man kann auch Frauen und Männer besetzt haben und trotzdem noch nicht die ganze Gesellschaft abbilden. Dieses Diversitätsthema, das zum Beispiel in den USA schon viel weiter ist, haben wir noch nicht wirklich mit auf dem Schirm. Wir müssen unterschiedliche Bedürfnisse mit berücksichtigen. Dazu gehört die Frage, wie man unter Jugendlichen das Fahrradfahren cool machen kann, die vielleicht unterschiedliche Hintergründe haben.
Wie kann die Industrie hier ansetzen?
Designer designen immer für sich selber. Man kann Designern den Auftrag geben, designe ein Kinderrad, designe ein Frauenrad. Wenn die Design-Gruppe homogen ist, dann entwerfen sie für ihre Bedürfnisse, sie machen das, was sie als cool erachten. Wenn man ein diverses Team hat, kann man auch diverse Bedürfnisse berücksichtigen. Es gibt unterschiedliche Studien, unter anderem von Boston Consulting, die zu dem Ergebnis kommen, dass diverse Teams bis zu 20 Prozent mehr Umsatz erwirtschaften können.
Wie ist denn der Stand der Dinge bei Diversitätsfragen in der Branche? Sie haben ja jüngst eine Umfrage der Cycling Industry Europe angestoßen und abgeschlossen. Welche Ergebnisse ließen sich dort herauslesen?
Ein Ergebnis war, dass die wenigsten Unternehmen der Fahrradbranche Quotenregelungen haben. Die Umfrage ist zwar nicht repräsentativ mit ihren 500 Teilnehmern, aber 85 Prozent haben geantwortet, dass man das auf jeden Fall Frauen in der Radbranche braucht. Es gibt jedoch keine konkreten Zahlen darüber, wie viele Frauen dort arbeiten. Wir hatten die Frage gestellt, ob in den Unternehmen Gender oder Diversität überhaupt eine Rolle spielt. Immerhin 40 Prozent haben geantwortet, dass es das gibt und dass sie das berücksichtigen.
Welche Ziele und Projekte will das Netzwerk für Frauen »Women in Cycling« umsetzen?
Das Ziel dieses Netzwerks besteht darin, dass der Fahrradsektor inklusiver und diverser wird und dass Chancengleichheit hergestellt wird, die momentan unseres Erachtens nicht gegeben ist. Erst damit könnten wir das volle Potenzial des Fahrrads überhaupt erst ausschöpfen. Momentan gehe ich davon aus, dass wir viele Zielgruppen noch gar nicht erreichen. Dort ist noch ein Riesenpotenzial zu heben. Dann hat sich dieses Netzwerk vier Ziele gesetzt: Das erste Ziel ist, dass man überhaupt erst mal eine Plattform schafft, die Frauen untereinander bekannt macht. Man lernt die Leute nicht kennen, wenn es kein Format dafür gibt. So hat dieses Netzwerk nicht nur eine Plattform, sondern auch ein Expertinnenportal, wo man gezielt nach Expertinnen suchen kann. Das zweite Ziel ist, dass wir keine »All-men«-Veranstaltungen mehr in der Fahrradbranche haben wollen. Ob man jetzt eine Geschäftsführerin braucht oder Produktentwicklerinnen oder welche Funktionen auch immer, es gibt in diesen Positionen auch Frauen. Dann wollen wir Unternehmen dabei unterstützen, dass sie sich Ziele setzen, was Diversität und Chancengleichheit angeht. Und nicht zuletzt wollen wir dafür sorgen, dass Frauen auch in höhere Positionen kommen können. Bei NGOs etwa kann man beobachten, dass dort zwei Drittel mehr Frauen als Männer arbeiten, aber nur bis zum mittleren Management. Darüber sind es dann wieder die Männer, die die Chefpositionen innehaben.
Wie ist die bisherige Reaktion auf die Initiative von »Women in Cycling«?
Wir haben eine riesige Resonanz mit über 1000 Anmeldungen und werden überrannt vom Interesse. Ich erwarte von dem Event, dass es sehr inspirierend wird und wir dort viele unterschiedliche Frauen zusammenbringen. Wir wollen, dass die Leute am Ende Kontakte geknüpft haben. Wir haben auch ein Ambassador-Programm, bei dem wir Frauen in Schlüsselpositionen gesucht haben, die beispielsweise in der Wirtschaft, im Sport oder in der NGO-Welt unterwegs sind und die dort Netzwerke mitbringen. Dazu gehören zum Beispiel unter anderem Susanne Puello, Dr. Sandra Wolf, Annalena Horsch und Monika Sattler.
Gibt es denn Zahlen zu den ganz konkreten Umsätzen im Verkauf von Frauenprodukten versus Männersachen und der ganzen Schnittmenge, die es da so gibt?
Ich kein Fan von Frauen- und Männerprodukten, weil ich glaube, dass es auch ein gutes Unisex-Produkt sein kann. Die Fahrradbranche hat lange den Fehler gemacht, zu glauben, »pink it and shrink it« sei eine Lösung. Also dass man einfach alles in Pink macht und ein bisschen kleiner und zack ist das für Frauen.
Ich glaube nicht, dass das der richtige Marketing-Weg ist. Viel wichtiger ist die Ansprache. Man würde besser damit fahren, die Unterscheidung nicht so groß in den Mittelpunkt zu stellen. Cargo-Bikes sind dafür ein sehr gutes Beispiel, weil die oft Familienvehikel sind und von Frauen und Männern gefahren werden. Da wird mir oft gespiegelt, dass oft die Frauen die Treiberinnen und Mobilitätsentscheiderinnen sind, gerade wenn es um Familienmobilität geht. //
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