Albert Herresthal blickt auf 2022 zurück:
Gestählte Nerven, verbesserte Resilienz
Vielleicht war es doch nicht so eine gute Idee, in einer Zeit der Warenknappheit auf „Teufel komm raus“ Fahrräder und Pedelecs zu bestellen, die sich jetzt zum Winter hin im Lager stapeln – soweit dafür Fläche und Liquidität überhaupt ausreichen. Allein an dieser kleinen Episode lässt sich ablesen, wie schnell sich das Blatt wenden kann und dadurch auch wieder neue Probleme entstehen. Lagerdruck und Unterfinanzierung sind oft Auslöser für Preiskämpfe und Rabattschlachten. Dabei war es eine der bedeutendsten „Errungenschaften“ der Corona-Zeit, dass am POS wieder mehr über den Nutzen des Radfahrens und über tolle Produkte gesprochen werden konnte und weniger über Preise und Rabatte. Wie gewonnen, so zerronnen?
Wer das Jahr 2022 reflektieren will, muss auch zeitlich vorherige Ereignisse einbeziehen, denn manches, was uns heute „kalt erwischt“, hatte seinen Ursprung bereits im Gestern. Das gilt auch fürs Positive: So hat beispielsweise die Corona-Zeit der Branche neues Selbstbewusstsein gegeben (Fahrrad gehört zur „kritischen Infrastruktur“) und eine Orientierung auf den Wert gesunder Mobilität. Die folgende Containerknappheit und Verteuerung in Verbindung mit totalen Lockdowns in China sowie die Verknappung von Produkten waren Auslöser dafür, Lieferketten komplett neu zu denken und daraus Konsequenzen zu ziehen – ein Prozess, der noch keineswegs abgeschlossen ist (siehe Bike Valley in Portugal). Schließlich stellt der am 24.2.2022 von Russland begonnene Krieg um die Ukraine eine Zäsur dar, denn er beeinflusst die (Fahrrad-)Welt gleich in mehrerlei Hinsicht. Einmal, weil sich hier vor unseren Augen eine Tragödie abspielt, die niemanden von uns kalt lässt. Aber auch, weil er die tiefste politische Krise der letzten Jahrzehnte darstellt, die Menschen massiv besorgt und verunsichert. In welcher Weise dies Auswirkungen auf das Konsumverhalten hierzulande hat, ist noch gar nicht abzuschätzen. Welche Auswirkungen sich aus dem Krieg für Weltwirtschaft(-ssysteme) und auch die Klimakrise ergeben, lässt sich allerdings erahnen: Die wirtschaftlichen Prognosen sind eher düster.
Sehr handfest berühren uns aktuell die Energiekrise und die nicht nur durch sie ausgelöste Inflation. Wie komplex und differenziert Menschen darauf reagieren, lässt sich gerade auf dem Fahrradmarkt gut ablesen. Während in anderen Konsumbereichen ein Trend zu Billigprodukten und Sonderangeboten zu erkennen ist, bleiben im Fahrradhandel eher die Einstiegs-Preisklassen liegen. Wenn dies den Trend zur Qualitätsorientierung stärkt, wäre dies zum Vorteil für alle: Gut für´s Fahrrad, gut für die Branche, das Klima und die Nachhaltigkeit! Diese Chance sollten Industrie und Handel nutzen und mit dazu beitragen, dass hieraus ein dauerhafter Trend entsteht: Durch entsprechende Kommunikation und Marketing, durch eine wertige Angebotspolitik – und durch den Verzicht auf zersetzende Preiskämpfe. Der Fahrradmarkt 2023 ist gesund genug, um allen eine auskömmliche Existenz zu sichern.
Dass die Attraktivität unseres Marktes auch von Branchenfremden gesehen wird, darf uns nicht verwundern. Ja, es haben weitere Konzentrationsprozesse stattgefunden und etliche Unternehmen aus dem Automotive Sektor sind eingestiegen – was bereichernd für uns sein kann, wenn aus neuen Blickwinkeln von außerhalb unserer Bike-„Bubble“ die Branche analysiert wird. Gleichwohl ist der Fahrradmarkt weiterhin vielfältig genug, so dass Marktmacht gut verteilt bleiben dürfte. Wenn uns die Achterbahnfahrt der letzten zweieinhalb Jahre etwas gelehrt hat, dann doch, dass die Branche die verschiedenen Krisen gut bewältigen konnte. Die Fahrradbranche hat ihre Resilienz deutlich gestärkt: Mit Anpassungen an die Verhältnisse, aber auch mit kreativen Lösungen, die sich dauerhaft bewähren. Oft braucht es erstmal tiefe Krisen, um zu echten Fortschritten zu gelangen. Die Branche hat gute Nerven gezeigt, viel gelernt und an Selbstbewusstsein gewonnen. Sie war und ist in der Lage, sich immer wieder neu zu erfinden. Daher ist mir um die Zukunft nicht bange.
Albert Herresthal
www.herresthal.org
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