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Hoch hinaus gehen die ­Verkaufszahlen von E-MTBs auch in der Schweiz
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Report - Schweiz

Impulsgeber Elektrofahrrad

Obwohl das Klima im Schweizer Velohandel in den vergangenen Jahren deutlich rauer geworden ist, blieb die erwartete Markt­bereinigung bislang noch aus. Grund dafür ist das E-Bike: Das boomende Produktsegment prägt die Schweizer Branche aktuell weit über das Tagesgeschäft hinaus und ist Krisen­retter und Belastungsprobe, Erneuerer und Hemmschuh sowie Zukunftshoffnung und Risikofaktor zugleich.

Das E-Bike hat der Schweiz viel zu verdanken: Es war ein Schweizer Erfinder, der die grundlegende Technik entwickelte, die das Elektrovelo bis heute definiert: Dolphin-Gründer Michael Kutter baute als erster ein Zweirad mit pedalkraft-gesteuerter Tretunterstützung. Es war ein Schweizer Unternehmen, das das Elektrovelo in Europa mehrheitsfähig gemacht hat. Flyer schaffte es, das E-Bike dank zuverlässiger und einfach zu bedienender Technik aus der Bastlerecke herauszuholen. Es waren aufgeschlossene Schweizer Behörden, die dank einer liberalen Gesetzgebung schon früh einen rechtlichen Rahmen vorgaben, in dem die neue Produktkategorie ihr Potenzial entfalten konnte. Und es war die zahlungskräftige und qualitätsbewusste Schweizer Kundschaft, die schon früh Gefallen fand an der neuen Velokategorie. Die ersten Markterfolge in der Alpenrepublik wurden europaweit zur Kenntnis genommen und als Zeichen für das Potenzial der neuen Fahrzeugkategorie gedeutet.

Neue Umsatzrekorde

Die Schweiz, und insbesondere die Schweizer Velobranche hat aber auch dem E-Bike viel zu verdanken: Dank der stetig wachsenden Nachfrage nach der neuen Fahrzeugkategorie ist der Branchenumsatz in den letzten Jahren auf ein Allzeithoch angestiegen. 2016 erzielte der Schweizer Velohandel einen Umsatz von über 1,4 Mrd. CHF. Nicht einmal während dem Mountainbike-Boom Anfang der Neunziger Jahre wurde so viel Geld für Fahrräder und dazu passende Teile und Dienstleistungen ausgegeben. Entscheidend dazu beigetragen haben die hohen Ansprüche der Schweizer Konsumenten und die Bereitschaft, dafür auch Geld zu investieren: Dank E-Bikes kletterte der durchschnittliche Verkaufspreis auf 1750 CHF in der Saison 2016. Der durchschnittliche Verkaufspreis für Fahrräder ohne Motor liegt aktuell bei stolzen 1280 CHF und damit ebenfalls weitaus höher als in den Nachbarländern. Dieser Wert stieg in den letzten zehn Jahren leicht an. Erst die wachsenden Absatzzahlen der E-Bikes und deren hoher Durchschnittsverkaufspreis von 3480 CHF haben den Gesamtumsatz deutlich über die Schwelle von einer Milliarde CHF gehoben.
Obwohl die Schweizer Velobranche auf einer elektrischen Welle reitet, herrscht nicht ausschließlich eitel Sonnenschein. Wer sich 2017 im Markt umhört, trifft nahezu überall auf große Verunsicherung über die Zukunft des Velohandels und auch viel Frust.
Dafür gibt es fünf Hauptgründe: Wachsender Konkurrenzdruck durch neue Anbieter und die Verschiebung des Konsums ins Internet machen dem Handel zu schaffen. Damit zusammen hängen die wachsende Preissensibilität und die steigenden Ansprüche der Konsumenten, die sich ihrer Macht im Kampf der Anbieter um Kundschaft immer bewusster werden und diese auch gezielt ausspielen. Gleichzeitig begann der Absatz im klassischen Geschäft zu kriseln: Obwohl Radfahren immer noch die liebste sportliche Freizeitbeschäftigung der Schweizer Bevölkerung ist, ging die Nachfrage zurück: Der Velobesitz nimmt ab, und das Mountainbike, jahrelanger Garant für Verkaufserfolg im Schweizer Velohandel, verlor innerhalb weniger Jahre einen Drittel seines Geschäftsvolumens.
Erschwerend kommt hinzu, dass Sortimentspflege und Aftersales-Service den Handel vor wachsende Herausforderungen stellen. Eine wachsende Vielfalt von Produkten und schnelle Entwicklungszyklen bereiten dabei dem Handel genauso Kopfzerbrechen wie die immer unberechenbarere Verfügbarkeit von neuen Modellen sowie passenden Ersatzteilen. Und zu guter Letzt litt die Velobranche in den vergangenen Jahren immer wieder unter dem Wetter. Weil Freizeitfahrer einen beachtlichen Teil der zahlungskräftigen Schweizer Velokäufer ausmachen, steht und fällt der Erfolg eines Verkaufsjahres im Schweizer Velohandel mit der Anzahl der warmen, sonnigen Tage. Denn diese Fahrer verspüren nur bei freundlicher Witterung Lust darauf, sich in den Sattel zu schwingen. Als Folge davon bleiben immer wieder größere Posten von Velos und E-Bikes am Ende einer verregneten Saison in den Geschäften stehen. Zuletzt war das 2016 der Fall, und die Folgen davon sind auch im laufenden Jahr noch zu spüren. So wurden Anfang der Saison vielerorts letztjährige Modelle mit satten Rabatten angepriesen. Diese Angebote fanden ihre Käufer, denn ein konstant milder und sonniger Saisonstart kurbelte die Nachfrage an. Dafür drückten die Lagerüberhänge auf den Geschäftserfolg: Einerseits, weil sie nur mit geringem Gewinn weiterverkauft werden konnten, andererseits, weil sie den Absatz von aktuellen Modellen zu regulären Preisen spürbar bremsten.

Universeller Rettungsanker mit Motor

Dass unter dem hohen Druck dieser Herausforderungen nicht schon viele Schweizer Branchenvertreter eingeknickt sind, hat zahlreiche individuelle Gründe und das E-Bike als großen gemeinsamen Rettungsanker. Der Boom setzte für viele Unternehmen gerade rechtzeitig ein, um Umsatzeinbußen zu kompensieren und Mehraufwände zu decken. Der positive Effekt zeigte sich zugleich bei Stückzahlen und Umsatz: Als einzige Produktkategorie in der Schweizer Velobranche verzeichnete das E-Bike in den vergangenen fünf Jahren nennenswertes Wachstum. Zwischen 2011 und 2016 hat sich der Absatz beinahe verdoppelt. Die Inlandanlieferung betrug gemäß bereinigter Zollstatistik und Angaben der Schweizer Hersteller in der Saison 2016 über 105.000 E-Bikes.
Durch das hohe Preisniveau war das E-Bike in der vergangenen Saison bei einem stückzahlenmäßigen Marktanteil von 21,4 % bereits für 42,5 % des gesamten Fahrzeugumsatzes im Schweizer Velohandel verantwortlich. Als Folge davon widerstanden die über Jahrzehnte gewachsenen Strukturen des Schweizer Velohandels auch die letzten turbulenten Jahre relativ unbeschadet. Ein Konzentrationsprozess, wie er in manchen anderen Detailhandelsbranchen und in der Radindustrie anderer Länder bereits stattgefunden hat, blieb bisher aus. Nach wie vor zählt die Schweiz über 1700 Fachgeschäfte mit Veloangebot. Daraus ergibt sich eine europaweit einzigartige Dichte von mehr als 20 stationären Händlern pro 100.000 Einwohner. Nicht einmal ausgeprägte Fahrradnationen wie die Niederlande und Dänemark kennen ein so dichtes Fachhändlernetz. Dafür sind die Geschäfte im europäischen Vergleich auch sehr klein: Im Schnitt belegen sie weniger als 220 Quadratmeter Fläche und bieten weniger als drei Angestellten Arbeit. Diese charakteristische Kleinteiligkeit der Schweizer Velobranche findet sich auch auf Vertriebsebene: Mehr als 300 Lieferanten bedienen den Fachhandel mit mehr als 290 Velo- und Elektrovelomarken sowie über 1000 verschiedenen Zubehör- und Komponentenmarken.
Das E-Bike ist aber nicht nur Lösung, sondern zu einem Teil auch Ursache für die aktuellen Herausforderungen der Schweizer Velobranche. Zum Beispiel Konkurrenzdruck: Die satten Wachstumsraten der boomenden Produktegruppe haben einige neue Player angelockt. Etwa die Hälfte der zehn absatzstärksten Elektroveloanbieter war vor zehn Jahren noch nicht im Schweizer Markt vertreten oder spielte nur eine untergeordnete Rolle. Auch im Einzelhandel konnten neue Vertriebsstrukturen Fuß fassen und rasch Erfolge feiern: Verschiedene spezialisierte E-Bike-Shops wurden in den vergangenen fünf Jahren neu eröffnet. Im boomenden Marktsegment spielen sie bereits eine überdurchschnittlich starke Rolle: Obwohl die reinen E-Bike Geschäfte aktuell nur knapp 5 % der Fachhändler ausmachen, haben sie sich im Elektrovelohandel bereits einen Marktanteil von etwa 15 % ­gesichert.
Zum Erfolg beigetragen hat, dass es sich bei diesen jungen Spezialisten meist um Quereinsteiger handelt, die sich mit frischen Ideen an die Arbeit machen. Ungewohnt für den Schweizer Velohandel ist, dass sie beispielsweise stark als überregional agierende Ladenketten organisiert sind. Bedeutende Anbieter wie M-Way, E-Motion Technologies und Stromvelo.ch können damit Synergieeffekte nutzen, die dem kleinräumig organisierten traditionellen Velofachhandel nicht zur Verfügung stehen. Zu ihrer professionellen Organisation gehört auch eine verkaufsorientierte Marktbearbeitung, die offensichtlich beim Kunden ankommt. Viele klassische Velofachgeschäfte können hier nicht mithalten, weil sie sich nach wie vor stark über ihre Mechaniker-Kompetenz im After Sales Service definieren. Dass der Werkstattarbeit im Schweizer Velohandel ein hoher Stellenwert eingeräumt wird, ist an sich nicht verkehrt. Denn Reparaturen und Revisionen rechnen sich bei vielen der teuer verkauften Qualitätsvelos auch nach Jahren noch und sind daher ein wichtiger Bestandteil des Geschäfts. Weil in vielen Geschäften aber daneben die Verkaufskompetenz in den letzten Jahren vernachlässigt wurde, fehlen nun manchen traditionellen Händlern die Argumente, um den offensiven Newcomern im Elektrovelosegment Paroli bieten zu können. Geholfen hat den spezialisierten E-Bike-Shops auch, dass viele etablierte Velofachgeschäfte anfänglich sehr skeptisch waren, als die ersten E-Mountainbikes auftauchten. Während sie sich zurückhielten, zeigten die Newcomer kaum Berührungsängste mit der neuen Kategorie und konnten entsprechend überdurchschnittlich stark von der Nachfrage nach solchen Velos profitieren. Und diese ist groß: Innerhalb fünf Jahren hat sich der Absatz von E-Mountainbikes mehr als versiebenfacht. 2016 war bereits jedes vierte verkaufte ­Elektrovelo in der Schweiz ein E-­Mountainbike.

Wachsende Abhängigkeit

Künftig wird das Elektrovelo wohl noch wichtiger werden. Erste Zwischenbilanzen zur Saison 2017 zeigen, dass sowohl E-Bikes für den Alltagseinsatz wie auch für sportliche Fahrten im Gelände nochmals deutlich stärker nachgefragt wurden als in den Jahren zuvor. Zwar konnte sich auch das Mountainbike wieder etwas von seiner Krise erholen, und im Segment der Alltagsvelos hält der Mini-Boom der stilvollen Urbanbikes in den größeren Schweizer Städten an. Das Elektrovelo spricht aber eine viel breitere Zielgruppe an und gewinnt Leute fürs Velofahren, die zuvor jahrelang nicht mehr in die Pedale traten. Für die Schweizer Velobranche heißt das wohl, dass ihr Erfolg mittelfristig noch stärker vom E-Bike abhängen wird als heute. Damit steigt die Gefahr des Klumpenrisikos nochmals deutlich an. Bereits jetzt erzielt der Schweizer Velohandel den steigenden Umsatz mit deutlich weniger Kunden als noch vor zehn Jahren. Wird die Kundenbasis nicht in absehbarer Zeit wieder breiter, tritt die Schweizer Velobranche in eine klassische Altersfalle: Das Durchschnittsalter der aktuellen Kundschaft steigt an, und die Nachwuchsbasis schrumpft durch eine deutlich abnehmende Velonutzung bei Kindern und Jugendlichen bereits deutlich. Dadurch könnte der Absatz schon in wenigen Jahren deutlich ins Stocken geraten, wenn mehr Kunden altershalber aus dem Sattel steigen als neu hinzukommen. Bereits ein stagnierender Absatz bei E-Bikes wird den strukturellen Druck auf die Branche nochmals deutlich erhöhen, und die bislang herausgezögerte Marktbereinigung wird sich dann kaum noch vermeiden lassen. Wer sich geschickt genug positioniert, um diesen Wandel zu überstehen, kann sich langfristig mit großer Wahrscheinlichkeit auf eine stabile Geschäftsbasis freuen.
Denn obwohl weniger Jugendliche Velo fahren, wird das Velo viel von seiner Popularität in die Zukunft retten können. Denn ein beachtlicher Teil der Bevölkerung nutzt das Velo immer bewusster und intensiver. Zudem entdecken nun viele Schweizer Städte das Velo als Lösung für ihre wachsenden Verkehrsprobleme und beginnen, gezielt die Infrastruktur dafür auszubauen. Sofern diese Maßnahmen den gleichen belebenden Effekt auf den Veloverkehr haben wie in den Vorzeigeländern Dänemark und Holland, wird dies der Velobranche auf lange Zeit eine berechenbare Nachfrage sichern. Denn anders als bei sportlichen Trends braucht es länger, bis sich das Mobilitätsverhalten ändert. Dafür reagiert es dann auch weniger empfindlich auf kurzfristige gesellschaftliche Trendwechsel und ist weniger abhängig von konjunkturellen und wetterbedingten Schwankungen. Auch bei dieser Zukunftsperspektive wird das E-Bike eine bedeutende Rolle spielen. Durch den Hilfsmotor kann es nämlich überall dort punkten, wo der durchschnittliche Velofahrer die Grenzen des Fahrkomforts erreicht. Dieser ist aber entscheidend, damit das Velo als Verkehrsmittel an Bedeutung gewinnt, und darum empfiehlt sich das E-Bike besonders als Mobilitätsalternative. Ob das E-Bike dann einen Drittel aller Veloverkäufe in der Schweiz ausmachen wird oder sogar die Hälfte, darüber sind sich die verschiedenen Visionäre der Velobranche und der Verkehrsplaner nicht einig. Ganz egal, wer recht haben wird: Es wird genug sein, dass das E-Bike die Schweizer Velobranche dauerhaft und noch stärker als bisher verändert.

21. August 2017 von Urs Rosenbaum
Velobiz Plus
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