Portrait - BFO
Neue Mobilität im Kopf
Tübingen, ein relativ neuer, kubusartiger Bau, rundum Glas, nicht weit der Altstadt. Im Erdgeschoss könnte vielleicht ein urbanes Café sein, stünde der Bau nicht in einem Mischviertel aus Industrie- und Wohnanlagen. Wir gehen durch die automatischen Glastüren, die den Kubus ungewöhnlicherweise über Eck öffnen, steuern direkt auf den Tresen einer Cafébar zu. Dahinter, an seiner eigenen chromblitzenden Kaffeemaschine: Jakob Lauhoff, Gründungsmitglied der Unternehmen Brake Force One und BFO Mobility, die hier seit knapp einem Jahr ihren Stammsitz haben. »Wir sind zwar noch nicht lang hier, aber jetzt ist es eigentlich schon fast wieder zu klein«, sagt der leidenschaftliche Barista an der Maschine, die er sich schon als Schüler gebraucht gekauft und dann instandgesetzt und restauriert hat. Letzteres ist deshalb nicht uninteressant, weil dies auch die Vorgehensweise Lauhoffs widerspiegelt: Emotionaler Zugang zur Funktionsweise der Technik. Dann Kreativität und Durchhaltevermögen.
So könnte man wohl auch beschreiben, was in der BFO-Zentrale vor sich geht, wenn man einen Tag dort verbracht hat. Auf jeden Fall erkennt man: Kreatives Gewusel gehört hier dazu.
Mehr Power für den Bremsgriff
Es ist aber gar nicht so einfach, zu verstehen, was hier alles passiert: In den Anfängen ging es bei diesem Unternehmen um die Entwicklung eines Bremskraftverstärkers, bald um eine Bremse, die mit Wasser statt mit Mineralöl oder Bremsflüssigkeit arbeitet. Und um ein ABS-System für E-Bikes. Produziert im engeren Sinne wird in der Bismarckstraße nichts. Außer Ideen und Konzepte für Fahrzeugteile, die daraus entstehen. Außerdem definieren die neuen Partnerschaften von BFO mit dem Friedrichshafener Antriebshersteller ZF und dem schwäbischen Bremsenhersteller Magura eher unscharfe Grenzen in Sachen Arbeitsbereiche. Hier ist in Zukunft die Umsetzung weiterer Ideen zu erwarten. Und ein komplettes Fahrzeug wurde hier auch fertig entwickelt, wenn auch nicht hier gebaut: der Flynn, der uns später noch eigens vorgestellt wird.
Zurück zur Entstehung von BFO. »Ich war passionierter MTBler«, so Lauhoff, »und mit das Wichtigste am Mountainbike ist die Bremse.« Dem 13-jährigen Biker war – wie wohl vielen anderen damals auch – die Bremsleistung zu gering. Wie könnte man sie verbessern? Jakob ließ diese Frage nicht mehr los. »Schon immer habe ich Dinge zerlegt, um sie zu verstehen«, sagt er. Dem kam entgegen, dass das Elternhaus viel Verständnis für den Forscherdrang des Nachwuchses aufbrachte. Der kleine Jakob machte sich also an die Entwicklung. Und verstand: Man muss zwei Funktionen der Bremse trennen. Für das Anlegen der Bremsbeläge an die Scheibe sollte die Übersetzung Hebel/Bremsbacken groß sein – kein langer Hebelweg. Für das eigentliche Bremsen sollte sie klein sein – für viel Kraftausbeute und Dosierbarkeit. Der Vater, selbst technikaffin, war angetan von der Idee des Juniors, eine Bremse zweistufig aufzubauen. Ein Lehrer erkannte sein Talent und zeigte ihm die ersten Schritte im CAD-Programm. Nach eineinhalb Jahren war die Idee reif für funktionierende Prototypen. Bis zur Serienreife musste sie aber noch etwas schlummern. Das kam Frank Stollenmaier ein paar Jahre später gerade recht. Der eigentlich völlig branchenfremde Frührentner, ehemaliger Produzent der Fernsehserie Käpt‘n Blaubär, dem gar nicht der Sinn nach Ruhestand war, ließ sein Fahrrad bei Vater Lauhoff reparieren. «Wenn du dich solange zu meinem Sohn setzt und dir seine Bremse erklären lässt, repariere ich es umsonst«, meinte der Vater zu ihm. Gesagt, getan. Der technikbegeisterte Stollenmaier war sofort Feuer und Flamme, informierte sich über die Fahrradbranche und schnell war die Produktion der Bremse ins Auge gefasst: Quasi zu Lauhoffs 18. Geburtstag wurde die Firma Brake Force One gegründet. Kapital dazu kam von Frank Stollenmaier und einem Dritten im Bunde, Ingo Tasler. »Das war schon eine extrem spannende Zeit«, so Lauhoff. Ich ging ja anfangs noch zur Schule, wurde praktisch täglich vor der Schultür abgefangen und direkt in die Firma gefahren«, erzählt er lachend. »Aber Stress war das für mich damals nicht – man muss sich das so vorstellen: Ich konnte plötzlich mit professionellem Anspruch genau das machen, was ich immer schon machen wollte.«
»Konkret eine neue Fahrzeugklasse!«
Heute besitzt Lauhoff sieben Patente und hat ein Studium als Maschinenbauingenieur abgeschlossen. Schließlich ging‘s nach dem Bremskraftverstärker – die Bremse von BFO war 2012 auf dem Markt – Schlag auf Schlag: Mit der H2O, einer Fahrradbremse, die mit Wasser statt mit Öl oder Bremsflüssigkeit funktioniert, hat BFO vor vier Jahren kräftig Furore gemacht. Das heute fast serienreife ABS-System wurde auf der Eurobike 2016 vorgestellt – zeitgleich mit dem des weitaus größeren Mitbewerbers Bosch. Der liefert allerdings ABS nur fürs Vorderrad – bei BFO ist auch die Hinterradbremse blockiergeschützt. Außerdem erkennt der Algorithmus durch die breit angelegte Sensorik, wann das Vorderrad kurz vor der Blockade steht oder das Hinterrad abhebt. Ist eines davon der Fall, übernimmt die Steuerung des Systems den Bremsdruck. Auch das Bremsen in Kurven soll damit sicherer werden.
Apropos Bosch – damit sind wir zurück beim derzeit wichtigsten Projekt bei BFO: dem Flynn. Der Mini-Scooter ist für BFO der Einstieg in die viel versprechende Sparte Mikromobilität, also alles, was sich um die letzte Meile in der Stadt dreht. Eigentlich sollte Flynn, so die Darstellung der BFO-Macher, bei Bosch entwickelt werden. Dazu habe sich der Riese an das als innovativ bekannte Unternehmen BFO gewandt. Die brachten das Projekt voran, doch als die interne Finanzierung auslief, sei es von Bosch ad acta gelegt worden – vielleicht, weil das Unternehmen doch nicht als Fahrzeughersteller debütieren wollte? Stollenmaiers Unternehmen konnte die Rechte und Patente kaufen. Schon am Flynn arbeitende Entwickler fanden bei BFO ein neues Zuhause. Heute ist das Projekt nahezu abgeschlossen. Die Hard- und Software wurden von BFO entwickelt. »Konkret ist das eine neue Fahrzeugklasse«, sagt Produktmanager Marc Zimmermann, der uns die Details erklärt. »Es geht darum, so flexibel wie ein Fußgänger zu bleiben.« Der Roller ist faltbar, läuft auf extrem kleinen, luftgefüllten Gummireifen. Die Räder haben keine Naben im ursprünglichen Sinn, die Felgen drehen sich auf Lagerringen. So ist eine Konstruktion möglich, bei der die Bremsbacken – von Magura beigesteuert – die Bremsscheibe von innen in die Zange nehmen. Der fertige Flynn wird etwa sechs Kilogramm wiegen. Der Motor sitzt im Trittbrett, angetrieben wird per Riemen. Funktionsweise: Wie beim Pedelec wird der menschliche Kraft-schubs verstärkt. Je fester der Fahrer sich abstößt, desto mehr Energie liefert der Flynn selbst hinzu – und desto länger läuft der Scooter ohne den Beinschub. Leistungspeak auch hier: 500 Watt. Die endgültige, voraussichtlich ab Herbst 2018 erhältliche Version wird Beleuchtung und Bremslicht besitzen. Einen Diebstahlschutz über Tracking wird es auch geben, einen Transport-Rucksack für den Roller ebenfalls. Die eigentliche Produktion findet nicht bei BFO statt; welches Label Flynn letztendlich trägt, wird bei unserem Besuch noch nicht gesagt.
Nach der Vorstellung des Flynn bricht Zimmermann nach Paris auf: Ein Gremium aus Institutionen und anderen zukünftigen Herstellern von Scootern wie Decathlon, Honda, Ninebot oder VW trifft sich dort, um weiter an den zukünftigen EU-Bestimmungen für die Scooter zu arbeiten. Man bringt sich ein – schließlich haben die Unternehmen Interesse an der Gesetzesnorm der neuen Fahrzeugklasse, die für ihr Produkt sinnvoll sind.
BFO mit Firmensitz in Tübingen umfasst in seinem Angebotsspektrum neben innovativen Bremsen auch die Konzipierung und Entwicklung von leichten elektrischen Fahrzeugen. Beginnend mit Produktmanagement und Definition der Fahrzeuge, über die Konstruktion, FEM-Berechnung, Soft- und Hardwareentwicklungen, über den Bau von Prototypen, Erprobung und Absicherung bis hin zur Erstellung von Fertigungsunterlagen für die Serienfertigung wird alles aus der Hand von BFO geboten. Prototypen und Kleinserien dazu entstehen am Standort Mühlacker. Dort gibt es neben der Produktion der Bremsen einen umfangreichen Maschinenpark. Mit Spezialisten wurde die Kompetenz in Richtung Elektrik und Elektronik erweitert, um Komponenten nach automotiven Standards entwickeln zu können. BFO kann sich damit als Entwicklungspartner für die Zweirad- und Automobilindustrie, insbesondere im Bereich der e-Mikromobilität bewähren.
Think Tank aus netten Nerds
Ähnlich wie die Entstehung von BFO läuft die Rekrutierung neuer Mitarbeiter auch heute noch. Ein gutes Beispiel ist der neue Mitarbeiter Leo Dobler. Er entwickelt mit Kollegen die Leistungselektronik des Flynn, also den elektronischen Teil, der das Verhältnis von Akku und Motor regelt. Hier geht es auch um Geräuschminimierung und viele andere Dinge. Und Leo ist gerade mal 18 Jahre alt. Ein BFO-Mitarbeiter war auf die Youtube-Videos des Elektronikbastlers aufmerksam geworden. Als Leo ein offensichtlich gut funktionierendes E-Skateboard vorstellte, nahm man Kontakt auf und lud ihn ein, doch mal vorbei zu kommen. Ein paar Tage später hatte er seine Lehrstelle, bei der er gerade angefangen hatte, gekündigt und einen Schreibtisch bei BFO inklusive dualem Studienplatz ab September 2018 zu übernehmen. »Um überhaupt kreativ und wirklich innovativ arbeiten zu können, braucht man viele Freiheiten«, weiß Lauhoff aus eigener Erfahrung. »Da muss man auch mal etwas falsch machen dürfen. Angstkultur hilft nicht weiter. Und junge Spinner kriegen hier eine echte Chance«, lacht er.
Die Geschwindigkeit, mit der Auftragsarbeiten für andere Unternehmen entstehen und ausgeführt werden, sei enorm. Meist ist die Dokumentation und die sicherheitstechnische und rechtliche Abwicklung von Entwicklungen zeitlich wesentlich aufwändiger. Übrigens entstanden auch viele der innovativen Ideen zufällig – oder dadurch, dass man kleine Probleme ernst nimmt. Vielleicht hat man es deshalb der Ehefrau des CEO Stollenmaier zu verdanken, dass die Wasserbremse H2O entstand: Sie war nämlich von dem herumspritzenden Öl, das ansonsten für den Bremsdruck sorgt, ziemlich genervt. Also fing Lauhoff an, mit Wasser in den Bremssystemen zu experimentieren. Ganz nebenbei konnte BFO mit der Neuentwicklung neben dem Bremsmedium mit der H2O auch viele Detail-Neuheiten präsentieren. Zum Beispiel die werkzeuglose Montage der Bremsleitungen, den integrierten Bremskraftverstärker oder einen besonders knackigen Druckpunkt, wie allerorts bescheinigt wird. Schon vor fünf Jahren wandte sich Audi für eine E-Bike-Reihe an BFO, um das E-Bike mit H2O auszustatten. Nebenbei: Das ABS-System wurde ursprünglich auch von einem Autohersteller, der sich Imagegewinn mit eigenen Fahrrädern versprach, in Auftrag gegeben. »Es gibt hier jede Menge an Aufträgen, über die wir momentan aus Geheimhaltungsgründen nicht sprechen dürfen«, sagt Lauhoff, und in seinem Lächeln steckt auch etwas Stolz. Man hat in Tübingen das Gefühl, die Arbeit an vielen Konzepten selbst sorgt dafür, dass es immer weitergeht, immer neue Ideen entwickelt werden – ein Perpetuum mobile der Ideen. An wie vielen Projekten man bei BFO derzeit arbeitet, weiß Lauhoff nicht genau. »Man kann ja oft nicht voraussagen, was vielleicht ins Leere läuft und aus welchen Spielereien größere Projekte entstehen.« Auftragsarbeiten für andere Unternehmen gehen vom Produktmanagement über die Konstruktion, Soft- und Hardware-Entwicklung und Prototypenbau bis zur Basis der Serienfertigung. Ziel ist dabei immer, die hohen Standards der Automotive-Branche zu gewährleisten. Die im Sommer 2017 als Dienstleister für Fahrzeughersteller neu gegründete BFO Mobility ist personell nicht haarscharf abgegrenzt von der Mutterfirma BFO. Eher fühlen sich die Mitarbeiter wie in einer Art firmeninternem Netzwerk. Mittlerweile sind das für das gesamte Unternehmen 45 Leute, wobei etwa 15 auf die neue BFO Mobility entfallen. Drei davon sind heute im Dualen Studium. Sie entwickeln unter anderem BFO Connect, ein System, das vor allem Tracking, Diebstahlschutz und Gerätekommunikation beinhaltet. Neben Tübingen und Mühlacker gibt es mittlerweile noch zwei weitere kleine Standorte. Im Erdgeschoss des Kubus in Tübingen teilen sich besagte 15 Mitarbeiter etwa 320 Quadratmeter: einen großen Besprechungsraum, eine Werkstatt – ein Gewusel aus Schaltungsplatinen, Lötkolben, seltsamen technischen Vorrichtungen und vielen elektronischen Kleinteilen. Dazu ein kleines Labor, zwei offen angelegte Büros mit flexiblen Arbeitsplätzen und nicht zuletzt: eine grandiose Kaffeemaschine nebst Bar.
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