Markt - Niederlande
Omafiets für immer?
Die Niederlande sind ein so starkes Fahrradland, dass sie mit dem Hollandrad einst ihre eigene Radgattung etabliert haben. Das traditionelle Fahrrad der niederländischen Alltagsradler und -radlerinnen hat eine gemütliche, aufrechte Fahrposition und ist mit geschlossenem Kettenkasten, Eingangantrieb oder Nabenschaltung und Rücktrittbremse darauf ausgelegt, wartungsarm zu sein. Gleichzeitig sind die Niederlande Standort bedeutender Konzerne und Unternehmen der Fahrradbranche und innovativer Player. Grund genug, einmal zu prüfen, wie viel an der klischeeartigen Zuschreibung der »Omafiets« genannten Fahrräder heute noch dran ist.
Schon ein erster Blick auf die Marktdaten rückt die Sicht auf den niederländischen Markt in die richtige Richtung. 2022 haben die Niederländer und Niederländerinnen 855.000 Räder gekauft. Davon gingen rund 486.000 der Verkäufe auf E-Bikes zurück. Der Anteil der Pedelecs liegt also bereits bei 57 Prozent und damit 9 Prozent über dem Vergleichswert für den deutschen Markt. »E-Bikes sind für immer mehr Pendler eine hervorragende Alternative zum Auto«, erklärt Huub Lamers, Vorsitzender des Fahrradbereichs des Industrieverbandes RAI. »Das erklärt zum Teil die steigende Beliebtheit von E-Bikes. Schließlich fährt man damit umweltverträglich, gesund und voller Freude am Stau vorbei. Aus unserer Sicht ist das eine sehr gute Entwicklung.« Ein Segment dominiert die niederländischen Absätze. Urbane Modelle machen rund die Hälfte der verkauften unmotorisierten Fahrradverkäufe aus. Bei den Pedelecs liegt der City-Anteil gar bei 85 Prozent. Zwei Prozent der E-Bikes sind Lastenräder. Die hierzulande populären E-Mountainbikes kommen mangels Mountains auf gerade einmal ein Prozent.
Laut der Gesellschaft für Konsumforschung GfK ist das physische Ladengeschäft der dominierende Verkaufskanal für E-Bikes in den Niederlanden. Rund 75 Prozent der offline abgesetzten Räder verkaufen Geschäfte, die mehrere Marken führen. In Deutschland liegt dieser Wert mit 70 Prozent etwas darunter. Bei den Händlern sind E-Bikes für 80 Prozent der Umsätze verantwortlich. Diese lagen 2022 bei insgesamt 1,5 Milliarden Euro. Pro Fahrrad geben die niederländischen Menschen etwas mehr aus als die Deutschen. Der Preis für ein Neurad lag im Schnitt bei 1772 Euro, in Deutschland waren es 2022 170 Euro weniger, was sich aber wieder durch den höheren E-Bike-Anteil erklärt.
Ein konservativer Markt
Das Grundprinzip der wartungsarmen Fahrräder spielt bei Neukäufen auch weiterhin eine Rolle, meint Hugo Velthuis. Er ist Leiter der Benelux-Abteilung der Zweirad-Einkaufs-Genossenschaft (ZEG). Dem Einkaufsverband gehören 170 Händler mit 225 Geschäften in den Niederlanden an, die oft zu den größten in ihrem Umfeld gehören.
Dieses Fahrradparkhaus wurde Anfang des Jahres in Amsterdam eröffnet. Es ist Symbol einer Nation, für die Radverkehr Alltag ist.
Das Geschäftsfeld der ZEG wurde bereits in den 1990er-Jahren auf die Niederlande ausgeweitet. »Das typische niederländische Fahrrad ist für täglichen Gebrauch und die Nutzung bei jedem Wetter gemacht«, so Velthuis. Hinzu kommt der Einfluss der flachen niederländischen Landschaft. »Wir brauchen keine besonders leichten Fahrräder, keine besonders hohe Brems-Performance und keine Fahrräder mit Kettenschaltungen.« Insgesamt hält Velthuis die Niederlande für den größten Fahrradmarkt der Welt, in Relation zur Bevölkerungszahl. Insbesondere Lastenräder, die in anderen Ländern gerade erst richtig durchzustarten scheinen, seien hier schon fest etabliert. In Amsterdam gibt es so viele von ihnen, dass ihr Platzverbrauch im öffentlichen Raum bereits als Problem wahrgenommen wird. Einige niederländische ZEG-Händler, erzählt Velthuis, erzielen mit Lastenrädern die Hälfte ihrer Umsätze. »Im Hinblick auf Cargobikes und E-Bikes im Allgemeinen ist der niederländische Markt der am besten erschlossene Markt der Welt.«
Der Markt habe aber auch konservative Aspekte. In Deutschland liege der Fokus im Vergleich viel mehr auf den technischen Details. Die Niederländer und Niederländerinnen interessieren sich dafür weniger, meint Velthuis. Das Fahrrad soll aussehen wie ein typisch holländisches Modell.
»Im Hinblick auf Cargobikes und E-Bikes ist der niederländische Markt der am besten erschlossene Markt der Welt.«
Hugo Velthuis, ZEG
Eine Modelllinie der ZEG-Marke Pegasus, die dieses Merkmal erfüllt, verkaufe sich sehr gut. Als konservativ ließe sich auch werten, dass der Markt sich nur langsam bewegt. Das E-Bike drängt die Trommelbremse langsam zurück, mehr als die Hälfte der Pedelecs kaufen die niederländischen Kundinnen und Kunden aber mit Gepäckträger-Batterie. Velthuis zieht einen Vergleich zum Autokauf, der den Pragmatismus deutlich macht: »Die Deutschen achten auf den Hubraum, die Niederländer auf den Kofferraum.«
Alte Größen und aufstrebende Marken
Neben der ZEG spielt auch die Dynamo Retail Group als Einkaufsverband eine große Rolle in den Niederlanden. Herstellerseitig wird die erste Geige von Konzernmarken wie Gazelle und Batavus, oder auch Cortina vom Großhändler Kruitbosch B.V. gespielt. Ähnlich sieht das Arnauld Hackmann, der den Markt als Journalist beim Fachmedium Nieuwsfiets.nu genau beobachtet: »Giant, Accell und Pon sind die größten Hersteller. Aber es gibt auch andere Marken, die sehr schnell aufstreben«, so Hackmann. Hackmann nennt neben erwartbaren Größen wie Cube auch kleinere Player, die den Markt mitprägen, aber in Deutschland weitgehend unbekannt sind. Huyser ist eine dieser Marken. Der Hersteller zeichnet sich durch einen besonders nahen Kontakt zu den Händlern aus. Gründer Peter Smit hat selbst eine Vergangenheit im Fachhandel.
Konkurrenz bekommen die Konzerne auch aus China. Der Hersteller Tenways hat im Februar letzten Jahres den Ableger Tenways Europe in Amsterdam gegründet und expandierte damit zunächst in die Niederlande und nach Deutschland, wenige Monate später auch nach Spanien und Italien. Die Topographie der Niederlande war ein Beweggrund, dort ins Europageschäft einzusteigen. Tenways bietet mehrere Singlespeed-E-Bikes an. Verkaufsschlager ist das Modell CGO 800S, ein einfacher Tiefeinsteiger mit Hinterrad-Nabenmotor und Riemenantrieb. „Das ist eigentlich unser Brot-und-Butter-Modell. 55 Prozent unseres Umsatzes kommen vom 800S“, erkärt Tony Vos, Area Sales Manager Europe bei Tenways. Der Erfolg hänge damit zusammen, dass das Modell bewusst schlicht ist. »Jeder kann mit diesem Fahrrad fahren«, so Vos. Hilfreich sei auch, dass die Fahrradkultur in den Niederlanden sehr ausgeprägt ist.
Dichtes Händlernetz
Tenways bietet zwar auch einen D2C-Channel an, macht das Gros des Umsatzes in den Niederlanden aber mit dem stationären Fachhandel. Dieser ist in den Niederlanden äußerst präsent. »Die Niederlande sind ein kleines Land. Aber wir haben ein großes und dichtes Netzwerk an Händlern. Es gibt überall, in jedem Viertel, einen Laden, wo man ein Fahrrad kaufen kann«, erklärt Arnauld Hackmann. Tenways hat den Anspruch, die Marke möglichst gleichmäßig im Händlernetzwerk abzubilden. So könne die Symbiose aus Online-Marketing des Herstellers und lokalen Kunden und Kundinnen gut funktionieren.
Das Singlespeed-E-Bike CGO800S ist der Verkaufsschlager der Marke Tenways. Den größten Teil des Umsatzes generiert der chinesische Hersteller in den Niederlanden über den stationären Fachhandel.
Viele Menschen kämen nur noch für Probefahrt und Kauf und gezielt für die Marke in den Laden, so Vos. »Wenn man in Spanien 150 Kilometer fahren muss, um eine Probefahrt zu machen, dann bestellen die Leute online. In den Niederlanden ist der Online-Anteil sehr gering, weil das Händlernetzwerk so dicht ist.«
Stijn Oosterhoff, Pressesprecher des Händlerverbandes Bovag erklärt die Ursache für diese Händlerstruktur. »Der Grund dafür ist der hohe Gebrauch und Besitz von Fahrrädern. Die Verbraucher wollen ihr Fahrrad in der Nähe ihres Wohnorts kaufen, aber was noch wichtiger ist: Sie wollen, dass Wartung und Service in ihrer Nähe verfügbar sind. Man könnte sagen, dass Bequemlichkeit und ein extremes Qualitätsniveau die Nebenprodukte unserer Fahrrad-DNA sind.« Der Status quo in den Niederlanden ist also besonders. Zu der Frage, wie die Fahrradbranche sich in den Niederlanden in den kommenden Jahren entwickeln wird, hat Bovag im Mai eine Studie veröffentlicht. Der Verband rechnet mit einigen positiven Entwicklungen. E-Bikes dürften sich weiter hoher Beliebtheit erfreuen, insbesondere unter jüngeren und älteren Menschen, genauso wie in der Gruppe der Pendler und Pendlerinnen. Dass die Popularität so stark wächst wie in den vergangenen zehn Jahren, ist aber unwahrscheinlich. Vielmehr dürfte sich der E-Bike-Markt zahlenmäßig langsam konsolidieren.
Mittelfristig rechnet Bovag mit weiter steigenden Durchschnittspreisen, angetrieben vor allem durch Freizeiträder wie Mountainbikes und Rennräder. Dadurch soll auch die Nachfrage auf dem Zubehörmarkt spürbar anziehen. Der Markt für Reparatur- und Wartungsleistungen soll ebenfalls größer werden, was der Verband auf die größeren technischen Ansprüche von E-Bikes und den gestiegenen Verkaufswert zurückführt. Die höheren Anschaffungspreise, Umsätze und Gewinne der Branche haben branchenfremde Akteure, etwa aus dem Automotive-Sektor, und Online-Anbieter in den Markt gelockt, die diesen in Zukunft mitprägen dürften. Entwicklungen wie diese bergen auch Risiken für die kommenden Jahre. Zunächst dürften die Pandemie-Effekte von explosiver Nachfrage und Verzögerungen in den Lieferketten abflachen. Die Lieferanten von Fahrrädern und E-Bikes haben ihre Lieferrückstände aufgeholt, was derzeit auch in den Niederlanden zu einem hohen Angebot und entsprechendem Preisdruck führt. Weiteren Druck, befürchtet Bovag, dürfte die aufstrebende Konkurrenz aus Online-Händlern und branchenfremden Akteuren erzeugen. Der stationäre Handel steht damit unter Druck, was durch die Vormachtstellung der großen Hersteller noch verstärkt wird. Pon und Accell weiten ihre Marktposition und Geschäftsfelder weiter aus, andere Hersteller umgehen den Fachhandel mit Direktvertriebsmodellen, kritisiert der Verband.
Auch wenn das Händlernetz in den Niederlanden zu den dichtesten und am weitesten entwickelten der Welt gehört, ist das Geschäft also kein Selbstläufer. Es bleibt abzuwarten, wie sich diese Struktur und die Nachfrage der Verbraucher entwickeln. Oosterhoff ist sich aber sicher, dass die Niederländer weiterhin Fahrräder besitzen wollen. Abo-Modelle seien zwar bei einem Teil der jungen Zielgruppe beliebt, sagt er. »Die Eigentumsquote ist jedoch nach wie vor unvermindert hoch.« Auch wenn die Kundenwünsche sich langsam verändern, bleiben die pragmatischen Stärken des Omafiets und das Verkehrsmittel Fahrrad im Alltag bedeutsam. //
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