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Schraub-­Genuss
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Portrait - Look Mum No Hands

Schraub-­Genuss

Das Londoner Geschäft Look Mum No Hands! hat mit seiner Kombination aus Werkstatt und Szenecafé den Nerv der Zeit getroffen. Besuch bei einem pendlerfreundlichen Betrieb mit Kultstatus.

Es gibt wahrscheinlich nicht viele Fahrradwerkstätten, die internationale Berühmtheit erlangt haben. Dem Londoner Betrieb Look Mum No Hands! ist das gelungen. In ganz Europa und auch in Nordamerika trifft man heute auf Radfahrer mit Trinkflaschen, Trikots oder Mützen, auf denen die Text-Marke des Kultladens in Großbritanniens Hauptstadt prangt. Es ist eine Geschichte, die zeigt, dass man mit Mut und Kreativität weit kommen kann.
London ist eine hektische Stadt, die Menschen hetzen von Termin zu Termin, das Geld macht Druck. Pendeln gehört zum Leben der Millionen, die hier über die Runden kommen, und immer mehr von ihnen nutzen das Fahrrad für ihren täglichen Weg ins Büro. An einer der meistbefahrenen Pendlerstraßen der Stadt, der Old Street in Shoreditch, einem Stadtteil in Zentral-London, haben drei Gründer im Jahr 2010 ihr Geschäft eröffnet. Ihr Ansatz: Eine Fahrradwerkstatt kombiniert mit einem attraktiven Café – und dazu ein Ort für Menschen, die für Fahrräder schwärmen und selbst gern Rad fahren.
Look Mum No Hands! kombiniert verschiedene Geschäftsmodelle – was daran liegt, dass die Gründer ebenfalls vielseitige berufliche Hintergründe zusammenbringen. In ihrem Fall dürfte das dem Erfolg zuträglich gewesen sein. Zwei der drei Gründer, Matt Harper und Lewyn Chalkley, kennen einander seit Grundschulzeiten. Sie fuhren immer gern Fahrrad, machen auch seit vielen Jahren gemeinsame Rennradtouren durch die Hügel südlich der Metropole – aber einen Business-Bezug zum Velo hatten sie nicht. Harper ist Jurist und arbeitete bis zur großen Finanzkrise Ende der Nullerjahre in der Compliance und Überwachung bei Großbanken. Chalkley hat für eine große Café-Kette in London Standorte gemanagt und neu aufgebaut.
Der Dritte im Bunde, Sam Humpheson, ist Fahrradmechaniker und hatte viele Jahre in kleinen Betrieben in London gearbeitet. »Es hat mich irgendwann gelangweilt, der Schrauber in einem Geschäft zu sein, das irgendjemand anders gehört. Ich wollte etwas Neues machen, das den Kunden mehr gibt«, erinnert sich Humpheson. Also stieg er mit ein ins Team von Harper und Chalkley, als diese im April 2010 die Immobilie für ein »Werkstattcafé« gefunden hatten.

Idee trifft Bike-Boom

Es war Glück und sicher auch Gespür, dass die drei Gründer ihr Unternehmen zu einem Zeitpunkt starteten, als in Großbritannien ein Boom losbrach, der sich in den vergangenen fünf Jahren immer mehr verstärkt hat. Befeuert durch die sportlichen Erfolge britischer Radfahrer wie Bradley Wiggins und Chris Froome bei der Tour de France sowie die alles überragenden Olympischen Sommerspiele von London im Sommer 2012 wurde der Zweiradsport zum Massenphänomen – und auch die allgemeine Begeisterung für das Thema Fahrrad wächst ohne Unterbrechungen. Londons Bürgermeister Boris Johnson hat seit Jahren den Radverkehr in der Metropole gefördert. Fahrradfahren und Fahrradkleidung tragen ist in Englands Hauptstadt hip. Gute Rahmenbedingungen sind also gegeben für LMNH, wie Look Mum No Hands! abgekürzt wird.
Vielen Menschen ist LMNH vor allem als Café bekannt, das über eine atemberaubende Sammlung an Radsportdevotionalien im Wand- und Fensterdekor verfügt: Vom Fahrradlenker, der als Geweihersatz neben der Eingangstür hängt, über Laufräder, die an der Decke baumeln, bis zu künstlerisch anspruchsvollen Plakaten an der Wand – Fahrrad ist das klare Thema im rustikal eingerichteten Gastraum. »Der Designaspekt, die Mode der Fahrrad- und Fixie-Szene spricht das Publikum an«, sagt Matt Harper. Bei weitem nicht alle Gäste sind Rennradenthusiasten, aber der Sport und seine Ästhetik bieten eine gelungene Folie für jene, die sich ein belgisches Liebhaber-Bier oder einen Cappuccino gönnen. Für dieses Café-Konzept wurde LMNH im Herbst bei den britischen BikeBiz-Awards ausgezeichnet.
Doch LMNH ist eben nicht nur Gastronomie, sondern auch eine Werkstatt, die auf die besonderen Bedürfnisse der Londoner Fahrradfahrer antwortet. »Wir bieten Pendlern die Möglichkeit, Probleme an ihren Fahrrädern kurzfristig beseitigen zu lassen«, sagt Sam Humpheson. Anders als die meisten klassischen Radläden der Umgebung öffnet das Werkstattcafé morgens schon um 7:30 Uhr die Türen. Abends ist die Werkstatt bis 19:30 Uhr geöffnet. So können die Kunden ihre reparaturbedürftigen Räder vor der Arbeit abliefern und nach der Arbeit holen – bei klassischen Öffnungszeiten hingegen ist für Pendler sonst die Fahrradreparatur an Wochentagen oft eine logistische Herausforderung. »Wir versuchen, den überwiegenden Anteil der Reparaturen am selben Tag zu schaffen«, sagt Humpheson. Die Räder der Kundschaft sind vielfältig: Es gibt Brompton-Falträder, es gibt klassische Trekkingräder für die Stadt, ansprechende Fixies und auch High-End-Rennmaschinen von Besitzern, die einen besonderen Bezug zu diesem Laden haben. »Natürlich haben wir viele Wartungstermine langfristig im Voraus im Kalender, aber der Großteil unserer Arbeit ist reaktiv, wenn Probleme auftreten«, berichtet Humpheson. »Der Idealfall ist dann, dass wir schnell den Defekt beheben und der Kunde sich mit einem Kaffee und einem Sandwich ins Café setzt.« Zehn bis zwanzig Fahrräder bearbeitet das Team an einem normalen Tag.
Die Mechaniker im LMNH wollen keine Oberlehrer sein, wollen ihren Kunden keine Vorträge halten, wenn sie vielleicht etwas falsch gemacht haben an den Rädern: »Unser Ansatz war es, dass Leute sich wohlfühlen, wenn sie an ihren Rädern etwas reparieren lassen müssen. In klassischen Radgeschäften geht es oft viel zu unfreundlich zu, vor allem, wenn man keine Ahnung von Technik hat«, sagt Humpheson, der in seiner Werkstatt auch Vorgesetzter für drei feste Vollzeit-Mitarbeiter ist. Der Chef gibt das Motto vor: Der Kleinkram, über den sich in manch anderen Geschäften die Unternehmer vielleicht ärgern, wird als wichtige Aufgabe angesehen. Denn man will eben den Menschen, die ein Problem haben, dabei helfen, es zu lösen. Den Servicecharakter untermalt auch die Tatsache, dass Look Mum No Hands! immer mal wieder Mechanik-Kurse für Radfahrer anbietet. Es gibt im Erdgeschoss, gleich neben dem Eingang, eine kleine Werkstatt – die Hauptarbeit wird aber im Keller geleistet, einer ausgebauten Etage für die Reparaturen mit Lager für die Ersatzteile. Obwohl der Laden klein ist und die Vielfalt der bearbeiteten Räder groß, sagt Humpheson, dass er selten lange auf Ersatzteile warten müsse. Das meiste habe er im Haus, wenn etwas bestellt werden muss, sei es meist noch am selben Tag da.

Keine Diskussionen

Der Service-Ansatz der LMNH-Werkstatt bietet den Vorteil, dass die Kunden bei den Preisen für die eingesetzten Teile nicht in den Preiskampf einsteigen. Humphesons Team kann die verbauten Teile mit der vollen Händlermarge auf die Rechnung schreiben. »Wir müssen keine Discounts anbieten, weil unsere Kunden hier keinen Vergleich anstellen wollen«, erklärt Humpheson. Die unmittelbare Lösung der Probleme gepaart mit dem Vertrauen in die Werkstatt bietet also eine Alternative zu Preiswettbewerben, die den vom Internet bedrängten stationären Handel sonst auszeichnen. Auch die Artikel, die LMNH sonst verkauft, sind selten rabattiert: Wer Licht braucht oder ein neues Schloss für die Stadt, der braucht es in aller Regel sofort – insofern geht die Ware zum empfohlenen Preis über die Ladentheke.
Neben seinen schnell erledigten Allerweltsarbeiten in der Werkstatt hat Sam Humpheson noch einen guten Ruf als Hersteller handgefertigter Laufradsätze. »Die Kunst des Laufradbaus verschwindet, aber es gibt immer wieder Leute, die gezielt auf mich zukommen und mich um den Bau eines Paars für ihr individuelles Fahrrad bitten.« Auch hier gibt es kein typisches Set. Humpheson orientiert sich an den persönlichen Bedürfnissen und Budgetvorgaben der Kunden. Ab etwa 400 Pfund kann man bei ihm einen Laufradsatz bauen lassen, das durchschnittliche Paar kostet eher 600 Pfund.

Konzept ohne Konkurrenz

Mit seinem Gesamtkonzept bietet Look Mum No Hands! also ganz bewusst einen Kontrast zu Internethändlern, aber auch großen Ladenketten, die Kunden mit anderen Bedürfnissen ansprechen. Look Mum No Hands!, allein der Name mit der Bedeutung »Schau mal, Mama, ich kann freihändig fahren« macht ja klar, dass man hier eine Community pflegen und persönlich für Kunden da sein möchte – ohne ihnen etwa einen Haufen Ware zu Sonderpreisen anzubieten. Humpheson glaubt denn auch nicht, dass andere Handelskonzepte für sein Geschäft eine Bedrohung bedeuten könnten – ebenso wenig, sagt er, wie die vielen traditionsreichen Radwerkstätten in der Stadt, die aber nicht die spezielle Kombination aus Öffnungszeiten, Werkstatt und Gastro bieten. Am ehesten noch beschäftigt sich das Team mit dem Emporkommen anderer Cafés, die auf das Fahrradmotto aufsetzen. »In London gibt es gerade eine Explosion von Läden, die ein Gastronomiekonzept mit Handel und Werkstatt verbinden«, beobachtet Humpheson. Bislang ist LMNH aber die klare Nummer eins in der öffentlichen Wahrnehmung.
Dazu beigetragen haben nicht nur die vielen Veranstaltungen wie etwa Dating-Abende für Fahrradliebhaber, Filmabende, Bilderausstellungen und Live-Übertragungen von Rennradveranstaltungen. Vielmehr wurde auch das hauseigene Programm an Bekleidungsartikeln und Radsport-Zubehör zu einem attraktiven Zusatzgeschäft, das die Bekanntheit der Marke international untermalt. »Anfangs hatten wir gar keinen Businessplan für das Merchandise, sondern haben das nur ausprobiert – doch es hat sich als sehr lukrativ herausgestellt.« Look Mum No Hands! vertreibt heute nicht nur Trikots, Mützen und Kaffeebecher, sondern auch Unterhosen in den Trikotfarben der Tour de France. »Das Schöne daran ist, dass wir hier unser ganz eigenes Geschäft machen und unter keinerlei Preisdruck stehen«, sagt Humpheson. Die Artikel kaufen Besucher seiner Werkstatt spontan mit, wenn sie die Rechnung für ihren Reifenwechsel bezahlen – aber es gibt auch einen Online-Shop, über den bereits, so sagen es die Betreiber, Artikel nach ganz Europa verschickt wurden.
Look Mum No Hands! ist Kult, es ist ein attraktiver Ort – da verweilt man gern auch ohne mechanische Probleme. Und das ist durchaus ein Problem für das Geschäft. Der überwiegende Anteil der Einnahmen kommt aus der Gastronomie. Besonders um die Mittagszeit musste man deswegen auch zu erzieherischen Maßnahmen greifen: Zwischen 12 und 14 Uhr ist das Gratis-WLAN abgeschaltet. Denn sonst wäre der Laden zu voll mit Leuten, die einfach nur umsonst surfen wollen.

20. Dezember 2015 von Tim Farin
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