Markt - Vertriebswege im Wandel
Von Versendern lernen heißt siegen lernen?
Wer in der aktuellen Corona-Krise die Berichterstattung der Wirtschaftspresse verfolgt hat, konnte im Zusammenhang die Kritik eines Analysten an Adidas lesen, dass ein Teil der Probleme des Sportartikelherstellers in der »antiquierten Vertriebsstruktur« liege. Gemeint ist damit vor allem der Verkauf über Großhandel, Verbände und freie Händler. Das Urteil müsste auch den Fahrradfachhandel, der ja relativ ähnliche Vertriebswege nutzt, ins Mark treffen – oder auch nicht. Denn das vermeintlich Antiquierte scheint immer noch seine Reize zu haben.
Es ist eine unübersehbare Entwicklung: Immer mehr der bisher reinen Online Pure Player, also Internethändler, die ausschließlich auf das Internet gesetzt haben, investieren in stationäre Konzepte, seien es klassische Ladengeschäfte, Showrooms oder Service-Kooperationen. Brillenhändler Mr. Spex, Möbelversender home24 oder der Snowboard-, Surf- und Skateboard-Spezialist Blue Tomato, sie alle haben in den letzten Jahren mitunter erheblich in stationäre Flächen investiert. Aus der Fahrradwelt sind die großen Onlinehändler Rose und Fahrrad.de zu nennen. Rose startet eine Kette an Radläden in der Schweiz, Fahrrad.de hat bereits in eigene Läden investiert. Dazu kommen für beide die Kooperationen mit Servicepartnern. Warum investieren all diese agilen Unternehmen in vermeintliche »Antiquitäten«? »Die Motivation dafür kann sehr, sehr unterschiedlich sein«, erklärt Kai Ehlers, Director Business Development von fahrrad.de.
Die Gründe für das Investment sind aus seiner Sicht den Stärken des klassischen Vertriebsweges Ladengeschäft geschuldet. »Für uns gab es drei ausschlaggebende Punkte: Wir haben sehr klar gesehen, dass wir natürlich online ein Servicedefizit haben, das sich vermutlich nie komplett auflösen wird. De facto gibt es nun mal Serviceleistungen, die am Fahrrad physisch gelöst werden müssen. Die ganze Servicethematik mit After-Sales-Service spielt eine große Rolle. Ein zweiter Punkt ist das Thema Inspiration und Beratung, insbesondere bei erklärungsbedürftigen Produkten. Wir haben uns entschieden, eigene Geschäfte zu eröffnen, um dort Fahrräder zu präsentieren. In unseren Läden findet der Kunde nahezu ausschließlich Kompletträder, nur ganz wenig Zubehör und Teile und fast keine Bekleidung. Der dritte Punkt ist, dass wir die Marke Fahrrad.de, die sich lange über den Preis positioniert hat, aufwerten und emotionalisieren wollen. Über Events, Schrauberabende, Markenpräsentationen und den persönlichen Kontakt.« Dabei ist bemerkenswert, dass man sich entschlossen hat, gerade nicht alle heute verfügbaren digitalen Tools in die Shops zu integrieren, sondern klassische Fachhandelsstärken zeigen will: »Wir wollen, dass die Kunden dorthin kommen und die Produkte ausprobieren können«, sagt Ehlers. Die Kunden können ihr Rad auch ganz normal im Laden kaufen und mitnehmen. »Es ist kein Showroom-Konzept.« Ehlers begründet dies mit dem größten Vorteil des stationären Handels. »Die Möglichkeit, direkt mit dem Kunden zu interagieren und sich auszutauschen und individuelle Bedürfnisse einzugehen – dieser direkte Kontakt ist definitiv eine Stärke, die stationäre Läden haben.«
»Der direkte Kontakt zum Kunden ist definitiv eine Stärke, die stationäreLäden haben.«Kai EhlersDirector Business Development bei fahrrad.de
Bedeutet das etwa, dass Onlinehändler die Fruchtlosigkeit ihrer Bemühungen einsehen? Sie lieber stationäre Händler wären? Natürlich nicht. Das Ziel lautet vielmehr, die bereits vorhandenen Stärken des Onlinevertriebs um die Stärken des Fachhandels zu ergänzen. Marcus Diekmann, Digitalexperte und Mitgesellschafter bei Rose, sieht in diesen Tendenzen die Entwicklung der Online-Akteure weg von reinen Abverkaufskanälen hin zu kundenzentrierten, vernetzten Lösungen, die sich zu Omnichannel-Anbietern fügen.
Dem Omnichannel-Anspruch nähern sich stationäre Händler von der anderen Seite. Sie versuchen die Fähigkeiten der Onlinespezialisten für sich zu entdecken und nutzbar zu machen. Diese Fähigkeiten sind zahlreich und reizvoll: »Es sind ganz, ganz viele Vorzüge: Informationen, Preis, Geschwindigkeit, Vergleichbarkeit, Erreichbarkeit, Skalierbarkeit und Leistungsfähigkeit im Sinne von kurzfristiger Flexibilität, die einem kleineren Händler in der Regel fehlt«, zählt Fahrrad.de-Mann Ehlers auf. »Die Möglichkeit, sich sehr kompakt über eine riesige Auswahl zu informieren, bekommt man online viel besser hin als in einem Laden.« In der Aufzählung enthalten ist auch die heutige Customer Journey der Kunden. Über 80 % der Fahrradkäufer informieren sich heute zunächst im Internet. Dort gewinnen sie über die verschiedenen Kanäle einen Überblick über das Angebot und fassen eine Vorauswahl ins Auge. Wer online aktiv ist, holt seine Kunden früher ab, zumindest macht er beizeiten auf sich aufmerksam.
Größe hilft
Wenn Handelsunternehmen eine gewisses Umsatzvolumen erreichen, erhalten sie neue Möglichkeiten, die kleinere Betriebe so nicht haben. Die Größe der Händler ist eine Stärke an sich, wie das Beispiel Fahrrad.de zeigt. »Wir haben den Vorteil, dass wir über die Größe von Fahrrad.de so viele Verkaufsmomente haben, dass diese Zahlen besser und besser werden und wir sehr gute Ableitungen treffen können, was in der näheren Zukunft gekauft wird und welche Mengen gebraucht werden und wo Trends hingehen.« Diesen Blick in die Glaskugel gibt es erst mit einer ausreichenden Datenmenge und den dazugehörigen Analysen. Statt Vororder nach Bauchgefühl gibt es datengetriebene Entscheidungen, wobei die Intuition und Erfahrung des Einkäufers sicher nicht unterbewertet werden sollte.
Sollten sich beide Vertriebswege in der Mitte treffen, dann würden sie plötzlich das Gleiche tun. Bedeutet das, dass die Zukunft der Branche in einer kleinen Zahl an Omnichannel-Handelsunternehmen besteht, die den Markt dann mit ihrer Online- und Offline-Kompetenz dominiert? Die Antwort auf diese Frage gibt die Glaskugel schon nicht mehr her. Die ganzen Service-Dienste wollen trotzdem geleistet werden, aus Kundensicht möglichst von jemandem, der in der Nähe und zuverlässig erreichbar ist.
Omni-Channel als Zukunft?
Zudem muss man sich gelegentlich vor Augen halten, dass Versandhandel und stationärer Handel eben doch sehr verschieden sind. Es ist nicht einfach eine Nuance, die beide unterscheidet, trotz der gleichen Produkte. Nicht ohne Grund erklärt Fahrrad.de-Manager Ehlers, dass man durchaus mit Demut am stationären Ausbau arbeitet. »Wir arbeiten sehr, sehr stark daran, das stationäre Geschäft wirklich zu verstehen. Ja, wir sind einmal aus einem stationären Laden entstanden, aber über ein Jahrzehnt gab es Fahrrad.de nur online. Wir bauen stationäre Kompetenz gerade erst auf.« Personaleinsatzplanung auf der Fläche, gute Verkaufsgespräche und all diese Facetten des klassischen Handels sind anspruchsvoll. »Das machen wir auch nicht erst seit gestern und haben einige sehr starke Leute an Bord, aber da können wir nach wie vor noch viel lernen von Händlern, die das schon seit 30 Jahren machen.« Wer auf dem Feld des jeweils anderen glänzen will, muss sich auf einen neuen, einen langen Weg einlassen. Es ist ein komplexer und keineswegs zwingender Prozess.
Für den Handel aus diesen Entwicklungen Schlüsse zu ziehen, ist keine triviale Aufgabe. Aber einige Dinge liegen doch auf der Hand: Stationäre Händler sollten weiter ihre Stärken, die gerne mal kleingeredet oder ignoriert werden, weiter betonen und ausbauen. Die Beratungs- und Servicekompetenz im stationären Fachhandel wird so schnell kein noch so ausgefuchstes Künstliche-Intelligenz-Tool ersetzen können. Ein Fahrrad für ein Individuum auszuwählen und anzupassen, ist Kunst, Wissenschaft, Erfahrungssache und Psychologie.
Spannend bleibt daher weiter die Frage, wie sich die Marktanteile online und stationär verteilen. Die Corona-Krise mit geschlossenen Ladengeschäften hat eigentlich den Versendern in die Hände gespielt. Zumindest in dieser frühen Phase nach der Wiedereröffnung sind es aber die stationären Händler, die einen Ansturm erleben. Haben die Versender ihr erreichbares Potential bereits erreicht? Wahrscheinlich nicht, dafür haben die Anbieter noch zu viele gute Ideen in der Pipeline, die erst noch umgesetzt werden. Andererseits muss dem stationären Handel auf Sicht nicht bange werden. Seine Kompetenz, in Verbindung mit beratungsintensiven Produkten samt Servicebedarf wird noch lange unersetzlich bleiben.
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