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Porträt - Ortlieb

Wasserdicht in die Zukunft

Ortlieb produziert seit vier Jahrzehnten Taschen für anspruchsvolle Radfahrer. Das Unternehmen agiert und wächst nachhaltig. Über Sorgen am Standort Deutschland und Hoffnungen für den Handel.

Die Handgriffe sitzen, dürfen aber ebenso wenig im Detail beschrieben werden wie die Maschinen, die den Menschen bei ihrem Werk helfen. Alle paar Sekunden legt die Mitarbeiterin die Elemente einer neuen Tasche zusammen. Was erst aussieht wie ein paar dünne Streifen, ist nach einem kurzen Prozess mit maschineller Unterstützung plötzlich unverkennbar zu einer Tasche geworden, wie sie Radler schätzen. Ein Generator lärmt, allerlei Anzeigen blinken. Es gibt einen Hochfrequenz-Schweißautomaten, mit dem das Produkt seine Eigenschaften bekommt, bereit für heftige Regenfälle, für eine Wassersäule »bis 100.000 Millimeter«, bereit für den Kennspruch der Marke aus Süddeutschland: »Keep dry what you love« (Halte trocken, was du liebst).
Es sind vor allem weibliche Arbeiterinnen, die am modernsten Teil der Fertigungsanlagen beim Familienunternehmen Ortlieb im fränkischen Heilsbronn ihre hoch spezialisierten Handgriffe ansetzen. Sie nähen Abschlüsse in atemberaubendem Tempo fest, montieren Verschlüsse, schrauben und kontrollieren die gefertigten Taschen, bevor sie direkt an der Linie in die Verpackung kommen. »Wir haben keine klassische Endkontrolle«, sagt Peter Wöstmann, der für bei Ortlieb für die Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich zeichnet, »sondern wir verfolgen den Ansatz, dass alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in ihren Bereichen die Qualität der Produkte ganz persönlich überwachen.«

Der Gründer tüftelt immer noch

Ortlieb, man merkt das gleich beim Betreten des Fabrikgeländes in einem Gewerbe-Wohn-Mischgebiet im flachen Teil Frankens unweit der Kreisstadt Ansbach, ist zugleich eine international bekannte Marke mit hohem Anspruch an Form sowie Identität und doch ein sehr persönliches Unternehmen.


Die gesamte Produktion des Unternehmens geht durch dieses Lager in alle Welt.

Während des Besuchs findet sich vorn an der Anmeldung ein älteres Ehepaar ein, das eine Reparatur am Rucksack wünscht, die Wege sind kurz im Haus, der Ton familiär. Mehr als 1,1 Millionen Teile haben das Werk im vergangenen Jahr verlassen, allesamt in den Hallen von Heilsbronn gefertigt und dann ins hiesige Lager gegangen, von wo aus sie in fast 50 Länder gelangten, in denen Ortlieb Geschäfte macht.
Der Spezialist für Rad- und Outdoor-Taschen hält sich darüber hinaus mit Zahlen eher bedeckt. Dass er sein Innerstes so gut schützt, liegt wohl nicht zuletzt auch am Unternehmensgründer und Namensgeber der Firma. Bis heute ist der Erfinder Hartmut Ortlieb Chef des Unternehmens, Entwicklungsleiter, Inspirationsfigur. Doch mit ihm sprechen wird man als Medienvertreter nicht. Ortlieb gilt in den eigenen Reihen als Macher, als Arbeitstier, er sei eigentlich immer da – und doch überlässt er Interviews und Messeauftritte lieber den anderen Leuten in seinem Haus. Der Gründer, inzwischen einer von zwei Geschäftsführern, gilt im Haus als Tüftler, als detailversessen, auch als klarer Entscheider und als einer, der sich im Gespräch auch in technischen Details verlieren kann, weil sie ihn so sehr faszinieren.
Der Familienname steht überall, an den Hallen, an den Produkten. Doch herrscht in Heilsbronn zumindest kein erkennbarer Personenkult.
Allerdings ist die biografische Entstehungsgeschichte der Firma ein gefundenes Fressen für jeden Marketingmenschen. Als der junge Ortlieb Anfang der Achtziger mit dem Fahrrad durch Großbritannien fuhr, habe er sich über die mangelnde Wasserdichte seiner Taschen geärgert. Zudem kolportiert man im Unternehmen, dass Ortlieb in einer solchen Verkehrssituation beim Passieren eines Lastwagens der »Heureka«-Moment gekommen sei.

Martin Esslinger ist das Gesicht der Firma und einer von zwei Geschäftsführern bei Ortlieb.

Wieso nicht bei Radtaschen auf Plane setzen? Danach nähte Ortlieb an der Bernina-Maschine seiner Mutter Planen zusammen, schloss die Naht mit Tape ab. Der Abiturient erkannte das Potenzial seiner Lösung. Statt aufs Studium setzte er aufs Unternehmertum. Er beschaffte sich eine Hochfrequenz-Schweißmaschine für 1000 Deutsche Mark, um die Wasserdichte der Taschen zu gewährleisten. Am 1. April 1982 gründete er das Unternehmen, damals noch in Nürnberg. Ein paarmal zog Ortlieb in der fränkischen Hauptstadt um, seit 1997 siedelt man nun in Heilsbronn, weil es dort Raum für eine Expansion gab. Anfangs nutzte das Unternehmen hier 4000 Quadratmeter, inzwischen sind es 12.000 Quadratmeter, wo die knapp 300 Mitarbeiter ihren Arbeitsraum finden. Gleich nebenan betreibt Hartmut Ortlieb eine Schwesterfirma, die GDS, mit einer Bilanzsumme von knapp 4,8 Mio. Euro im Jahr 2022. Sie spezialisiert sich auf wasserdichte Reißverschlüsse, die bei Ortlieb genutzt werden – die aber auch an andere Kunden gehen.
Martin Esslinger sitzt an einem Konferenztisch, hinter sich und in seinem Blickfeld hängen die Produkte seines Unternehmens: der Klassiker Back-Roller, Lenkertaschen, Satteltaschen, das überraschend erfolgreiche Quick-Rack-Gepäckträgersystem. Sogar in der Firma selbst waren sie überrascht davon, wie gut sie den Markt mit diesem schnell montierbaren Träger getroffen haben. »Wir müssen zwar nicht jedes Jahr zig neue Produkte und Farben auf den Markt bringen«, sagt Esslinger, »aber wir arbeiten immer wieder an neuen Lösungen und Patenten, mit denen wir den Markt links und rechts zumachen.« Zwar ist der Back-Roller bis heute das meistverkaufte Produkt der Franken, doch arbeitet das Team zugleich an immer neuen, wertigen Artikeln. »Das ist für uns wichtig, denn wenn wir die Produktion in Deutschland langfristig aufstellen wollen, müssen wir auch Premiumpreise durchsetzen können. Nur mit Innovation können wir diesen Kern auch bewahren.« Esslinger ist Schwabe, Marketing- und Vertriebsmann, kam 2016 in die Firma und ist inzwischen der zweite, kaufmännische Geschäftsführer bei Ortlieb. Er ist das Gesicht, die Stimme nach außen. Doch man hört man hier allenthalben, Hartmut Ortlieb sei immer noch Treiber des Unternehmens.
Ein wichtiger Aspekt, um die Führerschaft im Segment aufrechtzuerhalten: die Kompetenz im Handwerk und im Bau von Maschinen. Beim Rundgang durch die Fabrikhallen weist Pressechef Wöstmann immer wieder auf die Abteilungen im Unternehmen hin, die neue Ideen schnell in reale Muster verwandeln. Es gibt eine eigene Werkstatt, in der das Unternehmen die meisten seiner Spezialmaschinen anfertigt – und dort wie an vielen anderen Stellen herrscht Fotografierverbot. Es gibt zudem einen Musterbau, in dem zwei Kollegen dafür abgestellt sind, die Entwürfe der Produktentwickler eilig umzusetzen.

»Nachhaltiges Wachstum« als Parole

Die Corona-Jahre waren gut für Ortlieb. Das Unternehmen blieb deutlich besser als viele andere Akteure im Radmarkt lieferfähig. Das wiederum hat mit einem Ansatz zu tun, der inzwischen wieder en vogue ist. »Made in Germany«, so betonen sie es hier, gelte auch stark für die Lieferkette. Fast 70 Prozent der eingesetzten Materialien kämen aus Deutschland, oftmals direkt aus der Region, sagt Peter Wöstmann, weitere 6 Prozent aus Europa, vor allem Kleinteile würden aus Asien zugekauft.

Am fränkischen Standort müssen menschliche und maschinelle Präzisionsarbeit zusammenpassen, damit die Marke profitabel bleibt. 2022 betrug der Überschuss 5,663 Mio. Euro, ein Jahr zuvor waren es 6,045 Mio. gewesen.

Das bedeutet allerdings ganz eigene Herausforderungen. Sourcing in Deutschland ist kein triviales Aufrechterhalten vorhandener Beziehungen. Esslinger und seine Leute müssen sich dauerhaft umschauen, denn hierzulande gehen Partner verloren, weil der Generationenwechsel nicht gelingt oder sich das Geschäft doch nicht mehr als wirtschaftlich herausstellt. Die Zukunft des »Made in Germany« zu sichern ist also eine gewaltige Aufgabe, aber »das ist Teil unserer DNA«, wiederholt Esslinger mehrmals. Das Unternehmen sei kräftig mit dem Radmarkt gewachsen, sagt er, inzwischen ist die Lage aber – wie allenthalben in der Branche – mit mehr Vorsicht zu betrachten. Esslinger spricht einerseits von der Notwendigkeit zum Wachstum, aber er stellt keine hohen Forderungen auf, nennt keine Zielwerte außer »nachhaltigem Wachstum«. Man hat erkannt, dass man in Kernzielgruppen auf die Zahlungskraft überzeugter Kunden zählen kann. Doch man weiß auch, dass diese Klientel begrenzt ist. »Wir müssen also neue Zielgruppen erreichen, das wird immer wichtiger, aber in der aktuellen Situation haben die meisten privat stark begrenzte Budgets«, beobachtet der Schwabe das Konsumgeschehen, »da können wir nicht immer im ersten Schritt überzeugen, da müssen wir erklären, warum wir besser sind als Billigtaschen aus Asien.«
Ortliebs Geschichte ist auch eine Geschichte des Mittelstands, der sich hierzulande halten möchte, der hierzulande groß geworden ist und der doch unter einem enormen Druck steht, wenn er bei seinen Wurzeln bleiben möchte. Die Firma, bei ökologisch aufgeklärten Radpendlern und damit im urban-weltoffenen Milieu tief verankert, sieht sich mit den Ergebnissen europäischer und deutscher Regulierungspolitik konfrontiert, die gut gemeint, aber vielleicht nicht gut gemacht ist. »Die Intention ist super, die Umsetzung ist ungenügend«, sagt auch Martin Esslinger über das Gesamtwerk an Vorschriften, die mittels Bürokratie und immer neuen Anforderungen an das Unternehmen herangetragen werden. Hier spricht kein Vertreter des Bundesverbands der Deutschen Industrie, sondern ein Familienunternehmen, das sich für die nachhaltige Verkehrswende einsetzt. »Große Konzerne haben riesige Abteilungen, die können sich mit all den Auflagen auseinandersetzen, wir aber müssen versuchen, den Anteil nicht produktiver Arbeit so gering wie möglich zu halten«, erklärt Esslinger. Es ist eine Crux: Man möchte bei den Wurzeln bleiben, den Standort fördern, Fertigung in Deutschland mit Blick für die Zukunft machen. Man hat längst Solarzellen auf dem Dach, erzeugt bilanziell etwa zwei Drittel des eigenen Strombedarfs selbst. Der Ausbau auf dem Parkplatz ist längst geplant. Ortlieb ist also ein ökologisch agierendes Unternehmen, das sich auch gegen den Fachkräftemangel einsetzt und für Vielfalt wirbt. Doch ist die Sorge groß, dass diese Werte hierzulande zu wenig zählen im Verhältnis zu immer neuen Vorgaben durch die Bürokratie.

Reparatur-Service als Versprechen

Ein Beispiel, auf das Esslinger gern zu sprechen kommt, ist das Schlagwort Recycling, wo auch zunehmend Druck auf europäische Unternehmen aufkommt. Man kann Ortlieb nämlich relativ leicht kritisieren. Viele Taschen bestehen aus beschichtetem PVC. Man weist darauf hin, dass das weniger als 30 Prozent der Kollektion betreffe. »Viele fragen: Warum macht ihr keine Recycling-Taschen? Ich sage dann: weil die dann nicht mehr so langlebig wären, damit sinkt auch die Nachhaltigkeit.« Das bei Ortlieb eingesetzte Material ist zwar im Nachgang nicht mehr weiter nutzbar, der Energieeinsatz fürs Auseinanderdividieren der Schichten wäre irrational groß. »Durch die Langlebigkeit unserer Produkte sind diese aber sicher positiver zu betrachten als Produkte aus Recy­clingmaterialien, wo das Rohmaterial zudem aus geschlossenen Kreisläufen entnommen wird, aber das müssen wir immer wieder vermitteln«, sagt Esslinger. Der Ansatz bei Ortlieb: Die Produkte halten länger als alle Konkurrenzprodukte, seien damit für Kunden günstiger. Hinzu kommt die Reparaturfähigkeit. Außerdem gibt es eine Kooperation mit Fahrer Berlin, wo beispielsweise der Verschnitt der PVC-Lagen teilweise mündet.
Es ist eindrucksvoll, wenn man neben der Produktionslinie die Arbeitsplätze der Reparaturwerkstatt sieht. 18.000 Taschen repariert Ortlieb im Jahr, sieben Mitarbeiter sind allein am Standort Heilsbronn mit dem Ausbessern von Griffen, Nähten, Löchern und Reißverschlüssen beschäftigt. Auch zehn Jahre nach dem Ausmustern von Modellen garantiert Ortlieb noch, dass die passenden Austauschteile vorhanden sind. Dieser Aspekt der Reparierfähigkeit macht für das Unternehmen den eigenen Anspruch aus. Das transportiert man auch über den Handel. Mittlerweile hat Ortlieb mehr als 60 Service-Händler in Deutschland ausgebildet, die die defekten Waren nicht nur annehmen, sondern auch reparieren.
Esslinger sieht sein Unternehmen weiter als klaren Partner des Fachhandels. Doch ist diese Beziehung in der dauerhaften Entwicklung. Vor ein paar Jahren sorgte er für Schlagzeilen, weil er sich großteils erfolgreich dagegen wehrte, dass Amazon den Markennamen des fränkischen Unternehmens nutzte, um Kunden auf die Plattform zu locken. Bis heute setzt Ortlieb nicht auf allgemeine Plattformen, sondern auf die Kooperation mit Händlern. Esslinger sieht die Aufgabe, gerade junge Zielgruppen anders und digital zu erreichen, und hier müsse man mit dem Handel zusammenarbeiten. »Wir müssen aber auch die Händler dafür sensibilisieren, dass wir nicht in Schönheit sterben wollen«, sagt Esslinger. »Das Produkt muss im Fokus stehen, die Händler müssen sich auf die Beratung und bestimmte Zielgruppen fokussieren und nicht nur alle unsere Produkte im Laden haben.« Anfang des Jahres hat Ortlieb seine Vertriebsstruktur angepasst, dank neuer europäischer Rechtsprechung ist es möglich, die Regeln für die Zusammenarbeit mit dem Handel deutlich selektiver zu gestalten. Es geht Ortlieb also darum, den Handel selektiv zu gestalten, ein »exklusives Umfeld« zu sichern, wie es Esslinger sagt. Man schützt also Händler, mit denen es gut läuft, aber es gibt eben auch Druck. »Man muss auch ehrlich sprechen, wenn Händler in Regionen mit viel Potenzial nicht so richtig auf unsere Marke setzen«, erklärt Esslinger. Über die genauen Konditionen verliert er lieber kein Wort, einheitliche Staffeln gibt es eh nicht mehr. Für ihn geht es um Commitment zu einer Marke, die erklärungsbedürftig ist. Die aber, man kann das im Gespräch mit zufällig ausgewählten Bekannten und sogar den Kindern eines Großstadt-Gymnasiums recht gut erkennen, in Sachen Form und Farbe weithin bekannt ist. Ortlieb will an diesem Modell festhalten: Made in Germany und mit dem Fachhandel als Partner. Wer so etwas durchzieht, kann sich heute nicht mehr ausruhen. »Wir fragen: Welchen Mehrwert bietet ihr?«, sagt Esslinger – und ist sich ziemlich sicher, die Frage andersrum beantworten zu können. //

4. November 2024 von Tim Farin

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