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Wie geht Verkehrswende?
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Report - ADFC-Symposium

Wie geht Verkehrswende?

Die Verkehrswende ist weit mehr als eine Frage des Antriebes. Beim Symposium des ADFC skizzierten die Referenten einen gesamtgesellschaftlichen Prozess, ohne den ein Kulturwandel nicht stattfinden werde.

Die Verkehrswende ist in Politik und Gesellschaft ein häufig verwendeter Begriff. Doch wie der Verkehr in den Städten der Zukunft tatsächlich aussehen soll, dazu gibt es kaum konkrete Vorstellungen. Oder solche, die nur wenig zweckdienlich erscheinen: Mit autonomen Fahrzeugen könnte Deutschland in Ortschaften 40 Prozent mehr Verkehr auf die Straße bekommen. Das autonome Auto werde damit zu einem Lebensmittelpunkt neben dem Büro und Zuhause, orakelte einst zum Beispiel der ehemalige Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt.
Dobrindts Idee zeigt, dass die Verkehrswende weit mehr als eine Umverteilung des Stadtraums ist. Sie ist ein einschneidender kultureller Prozess. So zumindest lässt sich der Tenor des ADFC-Symposiums in Berlin im vergangenen November formulieren, das eine gute Annäherung an den aktuellen Stand der Diskussion lieferte. Dort diskutierten Wissenschaftler, Verkehrsplaner und Radaktivisten nicht nur mögliche Alternativen zum Privatauto, sondern skizzierten auch die notwendigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, um den Prozess voranzutreiben und nachhaltige Entscheidungen treffen zu können.
Die Geschichte zeigt, wie wichtig es für so einen Prozess ist, Ziele klar zu definieren. 1950 war das Dreigestirn aus Kühlschrank, Fernseher und Auto der Inbegriff für eine lebenswerte Zukunft in Deutschland. »Das war damals gesamtgesellschaftlicher Konsens«, erklärte Weert Canzler vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) beim ADFC-Symposium. Dieses Ziel verfolgten Politiker, Gewerkschaften und Unternehmen. Wo so viel Einigkeit herrscht, fließt auch ausreichend Geld und entsprechend zügig wurde die Vision umgesetzt.
Die Folgen prägen heute die Städte: Autos belegen viel Platz und sorgen für dicke Luft. »Der Pkw-Verkehr ist das Sorgenkind Nummer 1 in der Klima­politik«, sagt Canzler. Während die Landwirtschaft, die privaten Haushalte, Industrie, Gewerbe und Handel und die Energiewirtschaft ihre Treibhausemissionen seit 1990 um 20 bis 55 Prozent senken konnten, hat sich beim Verkehr nichts bewegt. Trotz technischer Verbesserung stieg hier der Ausstoß der Treibhausemissionen sogar noch um 1 Prozent an.

Ride-Sharing statt Privatwagen

»Die Zeit für die Verkehrswende drängt«, sagt Canzler. Der reine Tausch des Antriebs reiche dabei nicht aus. Der Verkehrsaufwand und die private Pkw-Nutzung müsse sinken. Eine Alternative seien Ridesharing-Angebote wie das Clever-Shuttle oder Allygator. Das sind Taxidienste über die verschiedene Fahrgäste in einer Tour zusammengefasst werden. Will ein Passagier von A nach B, kann der Fahrer zwischendrin noch einen Fahrgast von C nach D mitnehmen. Das reduziert die Wegstrecken und die Fahrt wird günstiger. Über eine App gibt der Kunde Start und Ziel ein; die Software berechnet die sinnvollste Route, auf der neue Kunden einge­sammelt werden.
Zukunftsforscher und Verkehrs­experten wie Canzler sind sich sicher: Ride-Sharing ist ein Teil der Mobilität von morgen. Stadtbewohnern sei der permanente Zugriff auf Mobilität weiterhin wichtig, der private Autobesitz verliere jedoch an Bedeutung. Diese Entwicklung wird erst durch die Digi­talisierung und die Smartphone-App möglich. Die Technologie verändert die Verkehrsmärkte immens. Erst sie macht es möglich, das individuelle Touren zunehmend kollektiviert werden.
Bei Clever-Shuttle müssen die ­Kunden maximal mit 25 Prozent mehr Fahrzeit rechnen. Eine Zehnminutenfahrt darf sich also um nur um wenige Minuten verlängern, sonst wird ein zweiter Wagen angefordert. Der längeren Fahrzeit steht ein nahezu halbierter Preis im Vergleich zu einem regu­lären Taxi gegenüber. Das finden viele Kunden attraktiv. Noch ist die Flotte aber nur mit etwa 90 E-Autos in vier Städten unterwegs.
Um diese und weitere neue Verkehrskonzepte auf ihre Alltagstauglichkeit zu prüfen, fordert Canzler von den Städten und Kommunen Experimentalräume. Neue Technologien sollten zeitlich begrenzt im Alltag getestet werden können. Nur so sei es möglich, Routinen im Mobilitätsverhalten zu brechen. Das gilt auch für das Testen neuer Infrastruktur für Radfahrer und Fußgänger.

Dunkelziffer Beinah-Unfälle

Diese beiden Zielgruppen machen die aktive Mobilität aus und sind ein wichtiges Standbein für die Verkehrswende in der Stadt. Rachel Aldred von der University of Westminster in London hat in ihrer Studie »The culture behind the infrastructure – Understanding why people don’t cycle« erstmals untersucht, warum Menschen nicht Rad fahren. Dafür hat sie die ­Folgen von Beinah-Unfällen der Radfahrer in London untersucht.
Für die Studie haben 2.586 Radfahrer im Herbst 2014 und im Herbst 2015 jeweils an einem bestimmten Tag ihre unangenehmen Erlebnisse im Verkehr notiert. Die Studienteilnehmer waren zu 75 Prozent männliche Fahrradpendler im Alter zwischen 30 und 59 Jahren und haben rund 6.000 Ereignisse notiert. Die meisten von ihnen erlebten an ihrem Tagebuchtag mehrere Zwischenfälle. Etwa jeden siebten stuften sie als »sehr beängstigend« ein. Das waren vor allem Beinahe-Zusammenstöße mit Bussen oder LKWs.
Ansonsten reicht die Liste vom blockierten Radweg, dem sogenannten Dooring, also das plötzliche Öffnen einer Autotür, Überholen mit zu wenig Abstand bis hin zu gefährlichen Situationen beim Abbiegen. Die Radfahrer habe die hohe Zahl an Konflikten erstaunt, berichtet Rachel Aldred beim ADFC. Sie stellt fest: »Die Radfahrer nehmen die Konflikte nicht mehr als Bedrohung wahr.« Sie seien Teil ihres Alltags und die Männer reagierten spontan und routiniert auf die Vorfälle. Sie würden nicht weiter über
das Risiko nachdenken.

Alltagsradler brauchen in London hohe Risikobereitschaft

Das ist bei Einsteigern anders. Umsteiger, ungeübte und unsichere Radfahrer fanden die Verkehrssituation so erschreckend, dass sie das Radfahren schnell wieder aufgaben. Die Wissenschaftlerin findet das nachvollziehbar. Wer es in Kauf nehme, als Radfahrer einmal im Monat von anderen Verkehrsteil­nehmer belästigt zu werden und außerdem jede Woche in einen »sehr beängstigenden« Vorfall verwickelt zu werden, müsse hart gesotten sein oder extrem risikofreudig.
Das ist für sie jedoch keine Lösung. »Wer Radfahrer vor beängstigenden Situationen schützen will, muss die Wege trennen und die Straßenkultur ändern«, stellt Rachel Aldred fest. Gefährdete Verkehrsteilnehmer müssen Vorrang haben. Dafür sei jedoch ein umfassender Paradigmenwechsel nötig, sowie mutige strukturelle ­Veränderungen.
2013 sind in London die Radstreifen noch mit blauer Farbe auf die Straße gemalt worden. »Wir haben den Menschen gesagt, es ist sicher auf diesen Wegen zu fahren«, sagt Aldred, »aber auf der Infrastruktur sind Menschen gestorben.« Inzwischen sind die Radwege vom Autoverkehr klar getrennt. Zudem hat die Londoner Regierung das Budget für die Radinfrastruktur von einem auf zwölf Euro pro Ein­wohner pro Jahr erhöht.
Neben den höheren Investitionen sei aber auch der gesellschaftliche Wandel wichtig. Radfahrer werden heute anders wahrgenommen und bewertet als vor zehn Jahren. »Vor ein paar Jahren wurden bei Zusammenstößen zwischen Auto- und Radfahrern stets die Radfahrer zur Rechenschaft gezogen«, berichtet die Wissenschaftlerin. Stets fragten die Journalisten in ihren Beiträgen, ob die Toten beispielsweise Helme oder Warnwesten getragen hätten. Das habe inzwischen aufgehört. Allmählich wandele sich die Wahrnehmung.
Mittlerweile kontrollieren Polizeistreifen zu Fuß und per Auto, ob Pkw-Fahrer die Radler mit ausreichend Abstand überholen. Ist das nicht der Fall, werden sie beispielsweise an ­Baustellen auch mal von einer Streife angehalten. An manchen Baustellen werden extra Polizisten platziert, die darauf achten, dass Autofahrer den Radfahren so viel Platz einräumen wie einem Pkw.
Diese Maßnahmen klingen aus Radfahrersicht sehr fortschrittlich, aber sie sind erst ein Anfang und vor allem meist noch eine Ausnahme. »London ist alles andere als ein Fahrradmekka«, betont Rachel Aldred. »Wir haben es geschafft, Frauen vom Radfahren ­auszuschließen.«
Die Wissenschaftlerin plädiert für einen integrativen Ansatz. Das ist eine Radinfrastruktur, die selbst den Menschen sicher erscheint, die zurzeit nicht Radfahren. So entstehe ein Radwegenetz und ein Verkehrssystem, das für alle funktioniere.

Großprojekte sind gut für den Radverkehr

Sobald eine solche Infrastruktur existiert, muss man Menschen nicht erst dazu überreden, ihr Auto gegen den Fahrradsattel zu tauschen. Im Gegenteil: Die Menschen wollen dann Rad fahren. Das bestätigt Martin Tönnes, Bereichsleiter Planung für den RS1 im Regionalverband Ruhr. »Die Menschen haben uns die Bauzäune am RS1 eingedrückt«, berichtet er. Das war kurz vor der offiziellen Eröffnung des ersten Teilstücks von Essen nach Mühlheim. Die Menschen wollten endlich auf guten Wegen die Strecke zurücklegen.
Tönnes wird gerne als Vater des Radweges RS1 bezeichnet. Er hat sämtliche Bürgermeister zwischen Duisburg und Hamm für das Projekt begeistert. Sein Fazit: »Die große Vision war entscheidend.« Die Idee eines 100 Kilometer langen Radwegs quer durchs Ruhrgebiet, habe alle ­fasziniert. »Think big ist wichtig«, sagt er. Auch für den Radverkehr.
Think big gilt hierzulande aber immer noch eher für das Auto als fürs Fahrrad. Deshalb sorgen sich viele Radfahrer, wenn über autonome Autos diskutiert wird. Ihre zentrale Frage ist dabei stets: Müssen sich Radfahrer demnächst ihre Spur mit autonomen Autos teilen und was ist dann mit der Sicherheit der Radfahrer?
In Kalifornien sind Autos ohne Lenkrad vom Internet-Konzern Google bereits regelmäßig unterwegs. Laut Google sind die autonomen Fahrzeuge darauf ­trainiert, Radfahrern die ganze Fahrbahn zu über­lassen, sobald diese ihnen zu nahe kommen. Öffnet sich bei einem am Straßenrad geparkten Auto die Fahrertür, erkennt das Google-Auto den Vorgang und gewährt dem Radfahrer ausreichend Platz. Das gelte auch, wenn die Straße zu schmal ist oder der Rad­fahrer abbiegen möchte.
Doch selbst wenn sie mit zahlreichen Sensoren ausgestattet sind: Die Autos sind eben nur Computer und immer wieder von der Realität überfordert. Das spiegelt ihre hohe Fehlerquote wider. Momentan übersehen sie laut Martin Randeloff, Verkehrsexperte und Blogger von Zukunft Mobilität, noch einen von vier Radfahrern und erkennen auch nur in 60 Prozent der Fälle, in ­welche Richtung sich der Radler bewegt. Beim Auto ist die Quote etwas besser, hier erkennt das Google-Fahrzeug 88 Prozent der anderen Autos.
Allerdings haben die autonomen Autos einen ­großen Vorteil: Sie stoppen sofort, wenn irgendetwas ihren Weg kreuzt. Dazu zeigt Randeloff eine Nachtfahrt. Während das Google-Auto geradeaus fährt wird es zunächst links von einem Radfahrer überholt, der abbiegt. Kurz darauf quert von rechts regelwidrig ein weiterer Radfahrer. Den Zuschauern stockt für einen Moment der Atem. Denn der Zusammenstoß scheint unausweichlich. Die Sorge ist aber überflüssig. Das Auto stoppt. Wie immer, wenn etwas seine Sensoren kreuzt.
Das automatische Abbremsen funktioniert, ebenso das Überholen mit ausreichend Platz oder das Warten bei zu wenig Platz. Randeloff sagt: »Das wäre immerhin ein Quantensprung in Bezug auf Verkehrssicherheit.«

Auto an Fahrer: Du spinnst, raus!

Für Burkhard Stork, Geschäftsführer des ADFC, geht die Idealvorstellung des autonomen Autos einen Schritt weiter. Es müsste seinen Fahrer auch zu nachhaltiger Mobilität erziehen. Gibt der Fahrer beispielsweise ein Ziel ein, dass das Auto als Kurzstrecke erkennt, die der Fahrer auch zu Fuß oder per Rad bequem schaffen kann, gibt es für Stork nur eine logische Antwort des Autos an den Fahrer: »Du spinnst, raus!«

19. Februar 2018 von Andrea Reidl

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