Portrait - Swapfiets
Das blaue Wunder
»Blau blau blau sind alle meine Kleider.« Daran erkannte man früher – dem Kinderlied nach – die Liebste des Matrosen. Heute erkennt man in manchen deutschen Städten bestimmte Fahrräder am blauen Vorderreifen: die Bikes von Swapfiets. Der farbige Pneu ist eine, aber nicht die einzige pfiffige Idee der Gründer des niederländischen Unternehmens. Der blaue Vorderreifen ist ein Markenzeichen. Er sagt aus: Das ist ein Fahrrad von Swapfiets. Aber die Optik und die damit verbundene Zuordnung des Rads ist nur eine Sache. Am blauen Vorderreifen hängt noch viel mehr, wie wir in der Ägidiistraße in Münster sehen.
Nein, das ist kein Fahrradladen. Auch keine Werkstatt, auch wenn da zwei Schnüre von den sechs Meter hohen Decken hängen; mit Haken bewehrt, um nach einem Fahrradlenker und einem Sattel zu angeln. Doch das wirkt fast ironisch, jedenfalls nicht wie eine professionelle Werkstatt. Irgendwo gibt es tatsächlich einige Schraubenschlüssel; aber recht viel mehr ist es dann auch nicht. Zwei sehr junge Frauen im blauen T-Shirt stehen hinter der riesigen Theke, auf der schlanke Notizbüchlein mit dem Unternehmenslogo wie Dominosteine versetzt hintereinander aufgebaut sind. Mit echter Begeisterung stürzen sich die beiden im blauen T-Shirt auf jeden, der durch die große Glastür tritt. Von außen wirkt das Geschäft eher wie ein Café – nicht nur, weil an einem der in den bodentiefen Fensternischen eingelassenen Tischen tatsächlich eine kleine, aber repräsentative Kaffeemaschine nebst vielen Tassen steht. Auch weil das riesige Swapfiets-Logo mit großem blauen Kreis und retro-modernem Schriftzug im Fenster etwas von einer Café-Kette hat. »Hier soll es ja auch nach Kaffee riechen, nicht nach Fahrradreifen«, sagt Alena Milte, die Regionalmanagerin von Swapfiets in Münster, lächelnd. »Wir bieten Rad-Mobilität.«
Mobilität kaufen. Jeden Monat.
»Das System funktioniert ganz einfach«, erklärt uns Lucas Vroemen, Business Development Manager für Deutschland: »Die Kunden kaufen bei Swapfiets kein Rad, sondern ein Fahrrad-Abo.« Bedeutet: Sie zahlen pro Monat 17,50 Euro beziehungsweise als Student 15 Euro und haben den Service inklusive. Platten? Der Service kommt so schnell es geht und repariert – oder er tauscht aus. Maximal darf das 24 Stunden dauern. »Das ist wie bei Netflix oder Spotify: Man kauft ein Abo, das man monatlich kündigen kann. Mehr braucht man nicht«, so Vroemen. »Dieser Vergleich macht das System auch schnell verständlich.« Dabei ist nicht nur die Reparatur inklusive, sondern auch die Termin-Auslieferung eines bestellten Rads oder die Zustellung nach der Reparatur. »So erklärt sich auch der Name – vom englischen swap – austauschen.«
Derzeit ist das niederländische Unternehmen dabei, Deutschland zu »verswappen«. Als erstes war die Fahrrad-Vorzeigestadt Münster dran: Erst im April 2018 stieg man ein, zum Jahreswechsel ‘19 waren dort schon gut 3.300 Blaureifen zu verzeichnen. Münster bietet sich für den Einstieg an: Der Radanteil an der Alltagsmobilität liegt in Münster bei etwa 35-40 Prozent – irgendwie fährt hier jeder Fahrrad, was auch an der Topografie liegt. Dazu kommt mit fast 20 Prozent ein enorm hoher Anteil von Studenten in der Bevölkerung. Eine tendenziell umweltbewusste und preiskritische Klientel.
Das Abo kann online oder im Shop gekauft werden. Dabei gibt es keine zusätzlichen Kosten: Man bucht ab sofort und bekommt sein Rad. Das ist nicht unbedingt ein Neurad: »In unserer Leistung ist ein fahrbereites, sicheres Fahrrad enthalten«, erklärt Vroemen, »das kann neu sein, aber es kann beispielsweise auch ein zurückgegebenes Rad sein.« Denn natürlich kann man sein Abo einfach kündigen und das Fahrrad zurückgeben.
Das Swapfiets-System – Fiets vom niederländischen Namen für Fahrrad – ist also dem Leasing ähnlich. Aber nur ähnlich: Das Unternehmen ist und bleibt immer Eigentümer des Fahrrads. Da drängt sich eine Rechnung auf: Eine Studentin kauft ein Abo – Perspektive: die Dauer ihres Studiums, also etwa vier Jahre. Innerhalb dieser Zeit zahlt sie 720 Euro. Wenn sie ein- bis zweimal im Jahr wegen Plattfuß oder anderer kleiner Mängel den Service in Anspruch nimmt, kommt sie, selbst wenn man den Wiederverkaufspreis eines einfachen eigenen Rads noch hinzurechnet, sicher nicht schlecht weg. Doch klar scheint: Je länger ein Swapfiets benutzt wird, desto weniger lohnt sich das Abo im Vergleich zu einem eigenen Rad. Der entscheidende Faktor dürfte aber sein: Die einzelnen monatlichen Zahlungen von 15 Euro schmerzen niemanden. Und: Im Gegensatz zum Leasing ist der Vertragsabschluss extrem niederschwellig und unkompliziert.
Deutschland-Manager Vroemen jedenfalls denkt, dass der Service die wichtigste Basis für das Image von Swapfiets ist. »73 Prozent der Neukunden kommen auf Empfehlung von Freunden«, erklärt er. Die Werbung, die das Unternehmen in der Stadt macht, läuft quasi von selbst: Die blauen Reifen sind wie eine automatische Werbe-Kampagne, das weiße Service-Auto mit Swapfiets-Aufdruck und Rädern auf dem Dach eine zweite. Letzteres soll bald durch ein Rad mit großem Fahrradanhänger ersetzt werden – das ist in so einer Stadt sicher viel praktischer, und gut fürs Image ist es auch.
Die Basis: 40 gebrauchte Räder
Angefangen hat es 2014/15 in Delft. Steven Uitentuis, der CEO, ist einer von vier damals studentischen Gründern. Das ging ganz klassisch vor sich: Sie saßen zusammen in der Kneipe und unterhielten sich darüber, wie teuer doch Fahrräder seien: 500 Euro für ein Rad, das nichts aushält! Und geklaut würden auch viel zu viele. Mit Leihe oder Leasing müsste das doch viel besser zu machen sein. Nach einem grüblerischen Abend kauften die vier 40 gebrauchte Räder auf, brachten sie technisch auf ein vernünftiges Niveau und gewannen in zwei Wochen 40 Freunde und Bekannte als erste Kunden, wobei Facebook ein wertvoller Multiplikator war. Noch 2016 wurden in Delft 1.100 Räder daraus. »Aber wir erkannten auch: Wir brauchen größere Zahlen, damit es sich rechnet.« Also wurde expandiert. In Amsterdam hat man mittlerweile 15.000 Räder an den Kunden gebracht, insgesamt gibt es die blauen Vorderräder in den Niederlanden in 19 Städten. Auch Belgien wurde im Swapfiets-Sturm genommen, jetzt also Deutschland?
Von Delft in die Welt
Bei unserem Besuch im Shop in Münster Ende November gab es bereits 7.000 deutsche Swapfiets, so Alena Milte. Shops gibt es auch schon in Bremen (800 Räder), Oldenburg (1.100) und Göttingen (600). Hannover, Braunschweig und Heidelberg werden gerade aufgebaut. 2019 sind Köln und der Osten Deutschlands dran: Berlin – da ist man schon im Aufbau, Leipzig, Dresden. Schon zum Jahreswechsel hatte Swapfiets 100 Mitarbeiter in Deutschland. Allerdings arbeitet man typischerweise viel mit Studenten in Teilzeit. So sind es in Münster nur drei Festangestellte. Auch ein Zweiradmechaniker arbeitet dort für Swapfiets. Im hinteren Teil des Shops sind neben zwei Arbeitsplätzen auch etwa 20 Räder, die für den sofortigen Einsatz bestimmt sind. Das Lager des Unternehmens ist im Münsteraner Hafen. »Dorthin kommen auch die Neuräder«, so Milte. Wo genau sie hergestellt werden, wird nicht kommuniziert. Als Hersteller nennt man die Pon-Bike-Gruppe. »Das Swapfiets-Rad wird anhand der Erfahrungen, die wir machen, ständig weiterentwickelt«, so Milte. Die Entwickler dazu sitzen in Amsterdam. Wer im Internet die Räder für die einzelnen Länder vergleicht, stellt deutliche Unterschiede fest. Unter anderem hat das neue Deutschland-Modell »Deluxe 7« eine Rücktrittbremse und eine Felgenbremse (in Holland reicht auch eine Bremse), Nabendynamo, fest montiertes Licht und eine Siebenfach-Schaltung. Wichtig: der Träger über dem blauen Vorderrad.
Räder versichert – Kunde zahlt
Das Rahmenschloss mit zusätzlichem Kabel zum Anschließen ist bedeutungsschwanger: »Der Schlüssel kann nur heraus gezogen werden, wenn das Schloss abgesperrt ist. Der Kunde verpflichtet sich, sein Rad immer ab- und, dort wo möglich, anzuschließen. Kommt er dann in den Laden und zeigt einen Diebstahl seines Rads an, muss er den Schlüssel vorweisen können.« Kann er das nicht, muss er 450 Euro für das Fahrrad zahlen. Hat er abgeschlossen, sind »nur« 60 Euro fällig, um ein neues Rad zu bekommen. Eine nicht wirklich kundenfreundliche Lösung, denn was kann der Abonnent mehr machen als sein Rad ab- und anschließen? So muss man die 60 Euro wohl als Selbstbeteiligung der Versicherung sehen. »Aber unsere Räder werden relativ selten gestohlen. Wir arbeiten eng mit der Polizei zusammen«, sagt die Leiterin. »Die freut sich, dass wir alle unsere Fahrradbesitzer über die Daten ermitteln können – schließlich werden Rahmennummer, Schlossnummer und Name des Kunden registriert. Datenschutzrechtlich sicher ein Akt, aber nötig. Und zum Verkauf angebotene Räder mit blauem Vorderreifen werden ohnehin kontrolliert. »Außerdem freut sich die Polizei, dass wir den Verkehr hier sicherer machen: Kaum ein Swapfiets fährt ohne Licht durch Münster. Geht die Beleuchtung nicht, wird sie von uns ja kostenlos repariert.« Aber auch die Stadt sieht laut Milte ihr Unternehmen sehr positiv: »Wir sorgen dafür, dass es weniger Fahrradleichen in der Stadt gibt!« Wer sich kurz in Münster umsieht, erkennt das Problem sofort: Hier gibt’s viele Fahrradparkplätze, aber bis zu einem Fünftel davon ist mit kaputten Rädern blockiert.
Also alle glücklich? Nicht ganz: Die Gebrauchtradpreise, noch vor zwei Jahren höher als anderswo, sind in Münster in den Keller gegangen. Und von Fahrradhändlern ist zu hören, dass der Verkauf der für Münsteraner Studenten typischen 399-Euro-Hollandräder seit dem Start von Swapfiets spürbar rückläufig ist.
Registrierung und Abholung in zehn Minuten
»Ich bin hier, weil heute mein eigenes Rad schon wieder kaputt gegangen ist, und es mir jetzt reicht«, begründet ein genervter 40-Jähriger Münsteraner im Shop seine Abo-Bestellung. Und ein zwanzigjähriger spanischer Student sitzt an einem der Tablets im Shop um sich für ein Abo zu registrieren, weil er »eine Woche zu Besuch in Münster ist und mobil sein will. Und ein Leihrad für fünf Tage würde viel mehr kosten als 15 Euro«, erklärt er lächelnd. Sicher nicht der Kunde, auf den Swapfiets sich fokussiert, aber möglich ist dieser Deal auch. Während der gut drei Stunden vor Ort haben etwa fünf Münsteraner – meist wohl Studenten – im Shop ein Abo abgeschlossen. Sie bekommen dann die Sattelhöhe noch eingestellt und können nach einer kurzen Testrunde Ihr Swapfiets direkt mitnehmen. Mehr Kunden dürften es aber zuhause online machen. Schon, weil es so praktisch ist, sich das Rad einfach vorbei bringen zu lassen. Das »Deluxe 7« gibt es in drei unterschiedlichen Größen – »von 150 bis 200 Zentimeter Größe können wir alle abdecken«, verspricht Milte. Sie war die erste Angestellte von Swapfiets in Deutschland und geht offensichtlich in ihrem Job auf. Die 33-Jährige hat BWL studiert, den Master in Strategischem Marketing gemacht und zuletzt in der Leasing-Abteilung bei BMW gearbeitet. »Ich wollte etwas Neues mit aufbauen«, meint sie, »ich habe sofort an das Konzept geglaubt und konnte hier sehr viel eigenverantwortlich entwickeln. Aber dass es hier so gut läuft, ist vor allem auch dem Team geschuldet – und der Lage unseres Shops.« Der Laden liegt in der von Studenten sehr stark frequentierten Ägidiistraße – sie führt von der Altstadt, wo auch viele Uni-Gebäude sind, in Richtung Aasee – dort ist auch die große Uni-Mensa. Gerade mal vorbeigehen und sich an der Theke informieren – oder gleich ein Abo abschließen?
E-Unterstützung steht bereit
Strukturell folgt nun der Ausbau in weiteren deutschen Städten, aber technisch? Schon in naher Zukunft soll es auch E-Bikes von Swapfiets geben – zu einer höherem Monatsgebühr, versteht sich. Hier will man auf höhere Standards setzen und hat sich den Partner Kalkhoff gesichert. Der wird für Deutschland ein E-Swapfiets mit Brose-Antrieb liefern.
Fragen, die momentan noch ungeklärt erscheinen: Derzeit gibt es keine festgelegten Service-Intervalle für die Räder. Reparaturen und Wartung gibt es nur, wenn man Kontakt mit Swapfiets aufnimmt, nicht nach einer bestimmten Abo-Dauer. »Aber eines unserer Service-Teams klappert die hochfrequentierten Stellen wie Uni-Mensa und ähnliches ab und besieht sich die Swapfiets-Räder. Stellt zum Beispiel Bremsen nach und hinterlässt danach eine Nachricht an den Besitzer am Rad«, erklärt die Regionalmanagerin. Da die Räder aber nicht einmal aufgeschlossen werden, dürfte es sich hierbei aber um sehr eingeschränkte Wartungsarbeiten handeln.
Ungeklärt bleibt auch – gerade heute, wo Individualisierung ein Trend in allen Bereichen ist: Wie erkenne ich mein Swapfiets unter den Tausenden anderen mit blauem Reifen vor der Uni?
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