Report - Crowdsourcing
Die virtuelle Messeergänzung
Wussten Sie, dass die blauen Gummibärchen von Haribo, die letztes Jahr in den Handel kamen, mit einer Alge gefärbt werden? Sie hätten es wissen können, wenn Sie letzten Frühsommer den ShootOut der Gummibärchen miterlebt hätten. Das Traditionsunternehmen aus Bonn ließ Kunden und Fans der Marke entscheiden, welche Bärchen in den Handel kommen sollten. Immer zwei Bärchen traten gegeneinander an. Die blaue Algen-Heidelbeer-Variante gehörte zu den Siegern.
Was hat das mit der Fahrradbranche zu tun? Eine ganze Menge. Crowdsourcing, also die Beteiligung einer großen Menge von Interessenten an Innovationsprozessen, ist die Königsdisziplin für Social Media und Online Marketing. Einerseits holt man sich wertvolle Kundeninformationen und erfährt mitunter auch, was Kunden an den eigenen Produkten nicht mögen. Andererseits kann man Ideen abschöpfen. Ideen von Querdenkern, die nicht seit Jahren im Saft der Radbranche schmoren und betriebsblind geworden sind. Und wenn es gelingt, mit einem solchen Projekt die Kunden zu begeistern, winkt mit hoher Wahrscheinlichkeit die so sehnlichst gewünschte, virale Reichweite. Kunden teilen ihre Erfahrungen an einem solchen Projekt und werden zu Markenbotschaftern.
Grundlage 1: Leistungsfähige Software
Das Beispiel Haribo ist eine Referenz des Münchner Software-Entwicklers Innosabi. In zahlreichen Innovationsprojekten sammelte das Start-up Erfahrungen, wie die Kommunikation mit den Nutzern funktioniert, welche Probleme entstehen können, wie man die Fans bei Laune hält und möglichst gute Ergebnisse erzielt.
»Zum Beispiel sollte man die Sortierung der Ideen variieren, die man den Nutzern anzeigt, sonst entstehen Verzerrungseffekte«, erklärt die Innosabi-Gründerin Catharina van Delden. Würde man die Reihenfolge der Anzeige immer nach der Menge der Bewertungen oder nach deren Durchschnitt definieren, dann hätten zum Beispiel früh eingereichte Beiträge einen signifikanten Vorteil gegenüber Newcomern. Die wären sehr weit hinten in der Liste und würden von vielen Nutzern gar nicht gesehen.
Auch die Belohnung von Interaktion auf einer solchen Plattform ist heikel. Belohnt man zu wenig, nehmen nicht genug Nutzer teil, belohnt man zu hoch, nehmen Nutzer teil, die sich nicht vom Thema, sondern von der Belohnung motivieren lassen. »Wir kommen meistens ohne Belohnung aus, weil es den Nutzern viel Spaß macht, teilzunehmen. Wenn belohnt wird, dann sollte auf jeden Fall die erste Interaktion höher belohnt werden, als die folgenden«, so die charismatische Münchnerin. Bei den bisherigen Projekten auf der ISPO-Plattform werden in der Regel Sachpreise als Belohnung für die aktivsten Teilnehmer vergeben. Unter Aktivität werde eben nicht nur das Einbringen neuer Ideen definiert, sondern auch das Kommentieren und Bewerten.
Grundlage 2: Mitmach-Bereitschaft
Dieses und noch mehr Know-how hat Innosabi in eine Software gegossen und genau auf dieser Software setzt nun die Messe München auf. Zunächst steht »Open Innovation« als virtuelle Verlängerung der ISPO zur Verfügung. »Unser bisheriges Geschäftsmodell basiert auf den vier Tagen Messe pro Jahr. Das ergänzen wir nun um 365-Tage Onlinekontakt«, sagt Dr. Nina Schniering, Leiterin der Geschäftsentwicklung bei der Messe München. Über zwei Millionen Kundendaten hat die Messe, von denen Partner profitieren können. Die ISPO-Plattform ist der Pilot. Funktioniert der erfolgreich, soll das Konzept auch auf Technik- und Industriemessen ausgedehnt werden. Besonders spannend könnten vor diesem Hintergrund interdisziplinäre Projekte werden. »Angenommen ein Hersteller für Fahrradcomputer möchte ein Gerät produzieren, das nicht nur bei der Navigation helfen, sondern auch Trainingsdaten sammeln kann«, erläutert Tobias Gröber, Geschäftsbereichsleiter Konsumgüter bei der Messe München. »Hier könnte man über die ISPO-Community ein Projekt starten, welche Daten einen Radfahrer interessieren würden, und über die Community der electronica – unserer Weltleitmesse rund um das Thema Elektronik – abfragen, wie dieser Computer programmiert sein sollte, bzw. welche Komponenten zum Einsatz kommen sollten.«
Partner werden kann eigentlich jeder. In den ersten zehn Projekten sind Unternehmen dabei wie SportScheck (Handel), The North Face (Marke) oder auch der ZEG-Ableger Eurorad, der ein Firmenleasing für E-Bikes anbietet. Die Aufforderung, die Eurorad an die Community gerichtet hat, war nicht ganz selbstlos: »Bring E-Bike Leasing in Dein Unternehmen!«. Das Projekt verlief in drei Phasen. Zunächst sollten die Nutzer darstellen, was sie von einem Bikeleasing erwarten. Dann ging es darum, wie man den Chef davon überzeugt, einen entsprechenden Vertrag zu unterschreiben und in der dritten Phase fragte Eurorad, welche Vertriebsunterstützung das Unternehmen hierzu leisten kann. »Zum Abschluss des Projekts flossen die Ergebnisse direkt in die Vermarktungsstrategie von Eurorad ein«, sagt Tobias Gröber.
Andere Anbieter wählen eher klassische Ansätze: The North Face hat mit der Community eine Thermojacke entwickelt, die vermutlich Ende des Jahres in den Handel kommt. Die norwegische Marke KariTraa sucht nach Testern für die Unterbekleidung (Baselayer), fragt aber auch gleichzeitig, wie man den Menschen besser erklären kann, warum Baselayer wichtig und angenehm sind. Hier geht es also um das Marketingkonzept bei einer innovativen Produktgattung.
Besondere Voraussetzungen für das Starten eines Projekts bestehen nicht. Die Messe hat Pakete unterschiedlicher Größenordnungen definiert, je nachdem ob ein Unternehmen sich dazu in der Lage fühlt, das Community-Management selbst in die Hand zu nehmen, und ob man die Ergebnisse selbst auswertet, oder ob die Experten des ISPO-Teams oder von Innosabi das leisten sollen. Eine Koppelung an einen Messestand ist nicht grundsätzlich vorgesehen. »Allerdings bieten wir ISPO Austellern ein Paket in Zusammenhang mit der Buchung einer Standfläche an«, sagt Gröber. Im Schnitt liegen die Projektkosten zwischen 20 000 und 25 000 Euro.
Grundlage 3: Innovationsschutz
Eines der spannenden Themen im Umgang mit Open Innovation ist die Frage, was passiert, wenn innerhalb eines Ideen-Wettbewerbs tatsächlich Vorschläge für Innovationen auftauchen, die das Potential zum Bestseller haben. Werden diese Ideen auf der Plattform veröffentlicht, verlieren sie eventuell die Möglichkeit, als Patent geschützt zu werden. Und ist für eine solche Idee keine adäquate Vergütung vorgesehen, nehmen ideenreiche Erfinder an seinem Prozess vielleicht gar nicht teil.
»Das ist durch das sogenannte Bestsellerrecht abgedeckt«, erklärt Moritz Wurfbaum, der bei Innosabi das Projekt betreut. »Wir haben bewusst nichts in die Geschäftsbedingungen aufgenommen, was dagegen spricht«. Das Bestsellerrecht besagt, dass eine »angemessene« Vergütung des Urhebers erfolgen muss, wenn es ein deutliches Missverhältnis zwischen ursprünglich vereinbarter Vergütung und Produkterfolg gibt.
Auch das Thema Patentschutz hat Innosabi durch Erfahrungen in früheren Projekten berücksichtigt. »Sollte ein Projekt mit entsprechendem Potential gestartet werden, dann findet die Kommunikation frühzeitig nicht-öffentlich statt. Dann werden in der Community Probleme und Herausforderungen diskutiert, nicht aber die individuelle Lösung«, sagt Wurfbaum.
Aus unternehmerischer Sicht bergen Open Innovation Ansätze noch ein zweites Problem: Wie geht die Organisation, vor allem die interne Produktentwicklung damit um. Man spricht vom »Not-invented-here-Syndrom«. Das heißt, es kann zu einer grundlegenden Ablehnung von derartigen Fremdleistungen kommen, nicht zuletzt, weil Mitarbeiter um ihre Jobs fürchten könnten. Dem muss der Projekt-Initiator natürlich aktiv entgegenwirken.
Grundlage 4: Community-Management
Nicht zuletzt aus diesem Grund wird Crowdsourcing gerne mit billiger Beschaffung gleich gesetzt und mitunter auch von Betriebsräten kritisch beäugt. Billig ist Crowdsourcing allerdings in den seltensten Fällen. Zwar ist das Mediabudget eher überschaubar, was aber ins Geld geht sind die Handling-Kosten. Eine Community will andauernd betreut werden. Man erwartet, dass auf Fragen schnell reagiert und dass Missstände schnell behoben werden. Einer der größten Kritikpunkte zum Beispiel bei Crowdsourcing-Projekten ist immer wieder, dass es Unternehmen gibt, die sich nicht kümmern.
Sowohl die Mitarbeiter bei der Messe als auch bei Innosabi stellen sicher, dass die Community lebt. Wird die Stimmung schlecht oder reagiert ein Unternehmen nicht auf Fragen der Teilnehmer, greifen die Experten ein. »Die steigende Social-Media-Kompetenz in den Unternehmen macht das aber immer seltener nötig«, erklärt Moritz Wurfbaum.
Auch die Nachbereitung eines Wettbewerbs braucht Zeit und bindet Ressourcen. Die Beiträge müssen kategorisiert und priorisiert werden und dann gilt es, die wirklich wichtigen Informationen auch an die richtigen Stellen zu verteilen, etwa, wenn User an einem Testprodukt Mängel erkennen. Im XXL-Paket sind Abschlussbericht und Handlungsempfehlung durch Innosabi enthalten.
Fazit
Crowdsourcing und Open Innovation sind die Königsdisziplinen in Social Media und nicht leicht zu bearbeiten. Daher ergibt es Sinn, sich mit professionellen Partnern einzulassen. Besonders spannend könnte sein, dass die Nutzer über eine Plattform Kontakt zu mehreren Anbietern halten können. Jeder profitiert also ein Stückweit von der Strahlkraft des anderen. Umgekehrt könnte diese Nähe auch lähmend wirken, was die Offenheit der Kommunikation angeht, denn natürlich liegt es nahe, dass Wettbewerber sich jeweils beim anderen für derartige Projekte anmelden.
Die Kunst wird darin liegen, die Kommunikation möglichst offen aufzubauen, um viele Ideen und Anregungen zu finden und dann rechtzeitig durch sorgfältiges Monitoring auf die »Perlen« aufmerksam zu werden und die Kommunikation auf privateren Wegen weiterzuführen. Für Händler und Hersteller ist das sicher ein Versuch wert. Aus Sicht der Messe wird sich zeigen, ob die Plattform der Kundenbindung dient und Messebesucher generieren kann, oder ob sie als eigenes Geschäftsmodell unabhängig davon funktionieren muss.
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