Portrait - Artefakt
Form fürs Fahrrad
Das kleine »Artefakt«-Schild an der Hofeinfahrt ist unauffällig. Der zurückgesetzte Klinkerbau in der Darmstädter Liebigstraße, mitten in einem Wohnviertel, wird leicht übersehen. Drinnen verlässt uns abrupt das fast schon Behelfsmäßige des Außenauftritts. Es empfängt uns helle, aufgeräumte Nüchternheit, wie Kreative sie gern pflegen. Neben den Designern um die Geschäftsführer Tomas Fiegl und Achim Pohl, die seit 18 Jahren eine Etage bevölkern, haben sich vor allem Architekten hier eingerichtet.
Reduziert wirkt auch das Büro, in das man direkt aus dem Treppenhaus gelangt. Den großen Raum teilen sich ein Empfangsbereich und der Arbeitsbereich der Designer: acht Arbeitsplätze, erweiterbar und teilweise durch Glasscheiben vom Eingangsbereich abgeschirmt. An der Wand Skizzen von Rädern – und Wasserhähnen.
»Design ist im Bad- und Sanitärbereich schon vor langer Zeit Thema geworden«, erklärt Tomas Fiegl später. »Beim Fahrrad gilt das erst seit einigen Jahren – aber wir kommen hier jetzt auch an einen Punkt, an dem es spannend wird!« Im Besprechungsraum sitzen gerade Gregor Dauth, Design Director bei Artefakt, und Wolfgang Kohl, Projektingenieur bei Canyon.
Der Koblenzer Versender ist in Sachen Fahrrad-Komplettdesign Exklusivkunde von Artefakt. In einer farblich abgesetzten Wand ist aufrecht eine Badewanne eingelassen. Das erste Produkt, das Fiegl und Pohl nach Abschluss des Industriedesign-Studiums entworfen haben. Direkt daneben, in einer Nische: der Rahmen des Speedmax CF – das erste Komplettbike, das Artefakt für Canyon entwarf.
»Angefangen hat es mit einem scheinbar so profanen Teil wie einer Sattelklemme für Müsing«, erinnert sich Fiegl. An einem Canyon-Rad entdeckte er kurze Zeit später seine Arbeit wieder. Er wandte sich an den Chef Roman Arnold – und so entstand ziemlich schnell eine konsequente Zusammenarbeit. Außerdem arbeitete Artefakt in letzter Zeit für Scott an einem urbanen E-Bike, entwarf Radschützer für SKS, half einem sehr großen deutschen Pedelec-Motorenhersteller weiter und beschäftigt sich gerade mit einem Produkt von Klever Mobility.
Die heutige Szenerie um den Besprechungstisch herum ist durchaus authentisch: Wenn Artefakt für einen Hersteller ein neues Rad entwirft, sitzen meist diese drei Gesprächspartner zusammen und reden über Design und Konstruktion – aber nie abstrakt, immer in Hinblick auf das Produkt.
Nicht messbar, aber erfahrbar
»Man kann nicht definieren, was gutes Design ist«, erklärt Fiegl. »Design selbst ist eine nichtmessbare Größe, sie spricht für sich; Zahlen und Daten helfen da nicht weiter.« Vor allem nicht, wenn es um ein emotionales Produkt wie ein Sportgerät geht. Design und Optik wird im Sportbereich für den Verbraucher immer wichtiger. »Dabei ist Design immer auch subjektiv. Das macht unseren Job aber auch so spannend«, so Fiegl. Trotzdem gibt es natürlich Unterschiede, wie Design-intensiv Produkte sind: Wer über eine Möbelmesse geht, sieht nur noch Produkte, bei denen das Design die größte Rolle spielt. »Dabei ist die Formgebung enorm stark an der Kaufentscheidung beteiligt«, so Fiegl. Was macht Design aus? Canyon-Entwickler Kohl wirft ein: »Ganz wichtig ist Klarheit! Die Form darf nicht zu komplex sein, sie muss eingängig sein, aber nicht banal.« Und Fiegl bestätigt: »Klar, alles, was gut ist, ist auch simpel.« Und wie zur Bestätigung zeigt er auf den Rahmen des neuen Speedmax CF SLX: Auf den ersten Blick schon zeichnet sich die Raute als die optisch tragende Form ab – eine Form, die schon durch zwei Horizontalen und spitze Winkel Dynamik ausdrückt. Grafisch hervorgehoben wird sie durch die weiße Farbe, die diese Raute formt. »Als wir die ersten Rahmen ohne die Aufkleber bekamen, waren wir zunächst enttäuscht«, erzählt Kohl lächelnd. »Bis die dann dran waren.« Deutlicher könnte man die Wirksamkeit von Farbe für Design auf Produkten mit naturgemäß kleinen Flächen wohl nicht beschreiben.
Dreidimensional denken
Schlicht »Artefakt Werkstatt« steht auf dem Schild neben der Tür im Flur gegenüber. Dahinter stehen zwei kleine 3D-Drucker, die Modelle kreieren. Vor allem aber wird in diesem großen Raum Handarbeit betrieben: »Einen so ausgiebigen Modellbau leisten sich heute in Zeiten von CAD und Drucker nicht viele«, sagt Fiegl ein bisschen stolz. Bei den aus einem speziellen Schaummaterial gefertigten Modellen geht es vor allem um die reine Form – je nach Art des Teils damit auch um die Ergonomie.
Eine solches Modell kann dank des Materials und guter Modellbauer in wenigen Stunden gefertigt werden. Was dazu nötig ist – und noch viel mehr – findet sich in der Werkstatt, in der auf den ersten Blick so etwas wie das kreative Chaos herrscht. Ein bisschen so, wie man es sich vorstellt, wenn kreative Ideen umgesetzt werden. Der Raum macht Lust, sich sofort auch hinzusetzen und mit dem Entwerfen anzufangen. Natürlich durfte velobiz.de erst hinein, nachdem die neuesten, noch geheimen Entwicklungen, versteckt waren.
Der kreative Workflow
Wie funktioniert der Workflow, wenn ein Design-Auftrag angenommen wird? Zunächst ist da die schon beschriebene Runde: Tomas Fiegl sitzt mit seinem Design Director Gregor Dauth und, im Falle des Kunden Canyon, dem Ingenieur Wolfgang Kohl um den Tisch. »Es dauert meist einen Nachmittag, bis wir das Lastenheft besprochen haben, das Canyon für das neue Modell ausgegeben hat. Dabei geht es darum, auszutauschen, was der Auftraggeber von seinen Designern will, was das Rad in seinem Einsatzgebiet leisten muss etc.. Wie weit sollte die Integration von Komponenten dabei vorangetrieben werden? Wie steht es etwa beim Rennrad um die Aerodynamik?
In den folgenden Tagen machen sich Fiegl und Dauth an die ersten Skizzen. Etwa 20 bis 30 werden es im Schnitt in den ersten Monaten. Einmal die Woche etwa trifft man sich während der ganzen Projektzeit mit dem Projektingenieur, um die eingeschlagene Richtung feinzutunen und mit den Erwartungen des Kunden abzugleichen. Dazu kommt gelegentliches Skypen, um Detailfragen auf dem kurzen Weg zu klären.
Nach wenigen Wochen werden parallel in das CAD-Programm die vorhandenen Daten eingegeben, und eine genaue 1:1-Skizze angefertigt. Die Seitenansicht ist verständlicherweise im Fahrradbereich zunächst das Wesentliche. Damit sind die komplette Geometrie und alle funktionalen Maße des Rads definiert. Die ersten Modelle entstehen. Dabei geht es zunächst um die Handhabung von Komponenten und Einzelteilen. »Wir haben den Vorteil, dass wir all das direkt bei uns inhouse machen können«, freut sich Fiegl. Zum Beispiel, wenn es darum geht, wie eine Bremse aus aerodynamischen Gründen integriert werden soll. Für das Speedmax wurde die vordere Felgenbremse in die aerodynamischen Gabelholme integriert, für den mittig laufenden Bremszug musste eine hohle Schraube entwickelt werden.
Dann werden am Rechner die ersten Renderings gemacht – fotorealistische Zeichnungen, die das Fahrrad genau so abbilden, wie es später produziert werden könnte – das erste richtige »Bild« vom Rad – »damit greifen wir quasi dem Endprodukt vor und machen es visuell erlebbar«, so Fiegl. »Wir arbeiten bei all dem sehr intensiv mit dem Auftraggeber zusammen. Viele machen das nicht. Bei anderen Firmen ist die Entwicklung ohnehin viel Engineering-affiner. Dort machen die Konstrukteure die Hauptarbeit, das Design ist vor allem Deko. Bei uns ist das ein ständiges Hin-und-her. Immer wieder sagen die Konstrukteure: So kriegen wir die Funktion an diesem Detail nicht hin – und dann setzen wir nochmals an.« Immer wieder wird nachgeschliffen, es gibt Iterationen und Loops; so lange, bis es passt.
Eine Entwicklung eines neuen Modells kann, zusammen mit dem Engineering beim Hersteller, insgesamt ein Jahr dauern. Und die Phase von den ersten Produktionsdaten bis hin zum Start der Produktion in Asien, kann nochmals ein Jahr dauern.
»Übrigens wachsen wir bei dieser Kooperation immer weiter zusammen«, meint Kohl lachend: »Die Ingenieure werden Form-Affiner, und die Designer werden Konstruktions-affiner. Das Ganze ist ein kreativer Prozess – Design und Konstruktion fließen ineinander über.«
Die UCI entwirft mit
Natürlich gibt es für die Designer nicht nur die funktionellen Rahmenbedingungen. Im Rennrad-Bereich müssen beispielsweise auch die UCI-Vorgaben eingehalten werden. So muss etwa die Seitenansicht der Gabel in ein gedachtes Rechteck von nur 80 Millimeter Breite passen. Schon im Vorhinein muss geklärt werden, ob es mit den Design-Maßen möglich ist, Rahmen und Komponenten so zu bauen, dass sie bestimmten ISO-Normen gerecht werden. »Und bei alledem muss es natürlich richtig gut ausschau’n«, lacht Fiegl. »Das Design macht etwa 35 Prozent am fertigen Fahrrad aus – von der Arbeitszeit her gerechnet.«
Ein ganz wichtiger Begriff bei der Fahrrad-Formgebung ist Dynamik. Wie schaffe ich es, Dynamik in die Form zu bringen? »Gerade, vor allem horizontale Linien sind dafür sinnvoll«, so Fiegl. »Obwohl das natürlich auch eine individuelle Aussage ist: Bei Specialized etwa versucht man das mit dem leichten Bogen im Oberrohr. Auch eine möglichst aufrechtstehende Gabel bewirkt Dynamik in der Wahrnehmung – Gegenbeispiel: der Chopper mit seiner sehr flachen Gabel kann diese dynamische Wirkung nicht erzielen.«
Natürlich braucht man für den Job eine gehörige Portion Leidenschaft. »Denn schließlich ist es auch ausschlaggebend, dass man weiß, wie die Sportwelt tickt«, meint Fiegl. »Man muss schon ein Nerd sein, man muss Stallgeruch haben.« Den hat der Designer, der neben dem Job begeisterter Rennradler ist. Wenn man sich viel in der Community aufhält, bekommt man viel von den Produkten mit. Und Kohl ergänzt: »Klar kann auch ein Ingenieur ein Fahrrad entwerfen; aber um das richtig gut zu machen, braucht es Emotionen, eine persönliche Verbindung zum Produkt.«
Den Erfolg des Designs misst man natürlich nicht nur in Verkaufszahlen, sondern auch in der Zahl der eingeheimsten Preise. Gerade wurde der »Red Dot Best of the Best« für das letzte Speedmax-Modell vergeben – der vierte Award, den Canyon und Artefakt in Folge bekamen. Aber auch andere hoch respektierte Preise finden sich in der Urkundensammlung. Etwa der »German Design Award« vom Rat für Formgebung oder der »Designpreis der Bundesrepublik Deutschland« in Gold.
Vielleicht keine goldenen, aber doch gute Zeiten für das Fahrraddesign sieht man bei Artefakt aufziehen: Unter anderem mit dem E-Bikeboom, aber auch im Sportbereich wird das Auftreten der Räder immer wichtiger. Integration ist ein großes Thema, aber auch die Harmonie des Designs im Ganzen ist immer stärker gefordert. Es gibt viel zu tun.
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