Analyse - Mobilitätswandel
Kulturkampf Mobilitätswende
Dass im Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien Ende 2021 das Wort »Verkehrswende« kein einziges Mal vorkommt, hatte bereits hellhörig gemacht. Es hätte politisch ja gar nichts gekostet, den Begriff aufzunehmen, schließlich wäre er für alle Partner jederzeit interpretationsfähig geblieben. Von einer Antriebswende bis hin zu einer substanziellen Neuausrichtung deutscher Verkehrspolitik über die Elektrifizierung hinaus wäre hier alles drin gewesen. Stattdessen: Nicht mal das.
Mittlerweile ist die politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung um die Verkehrswende voll entbrannt. Jetzt rächt sich auch, dass nicht eindeutig diskutiert wurde, warum die Verkehrswende notwendig ist. Viele Menschen verbinden das Thema ausschließlich mit dem Klimaschutz. Andere denken dabei in größeren Kategorien, über das Klima hinaus: Schließlich ist auch der Wandel zu lebenswerten, inklusiven und menschengerechten Aufenthaltsräumen in unseren Städten und Dörfern erstrebenswert. Die Schaffung von Begegnungsräumen für Jung und Alt und auch der Lärmschutz durch weniger Autoverkehr sind ohne eine strukturelle Neugestaltung unseres Verkehrs kaum möglich. Fast überflüssig hier zu sagen, dass hierbei der Radverkehr eine tragende Rolle spielen kann und auch der Fußverkehr gestärkt werden muss.
»Verkehrswende« oder »Mobilitätswandel«?
Die Fahrradwirtschaft selbst ist in dieser Debatte wenig sichtbar. Das ist bedauerlich, denn die Rolle des Fahrrads als Wirtschaftsfaktor in Deutschland kann nur sie authentisch darstellen. Der Politikwissenschaftler und Soziologe Prof. Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) mahnt: »Die Branche insgesamt muss sich bewusst werden, dass Erfolge insgesamt nur durch politische Lobbyarbeit funktionieren.« Das Auto konnte nur deshalb so erfolgreich sein, weil die frühen Automobilisten viel dafür geworben hätten, dass die Regeln geändert werden, dass es mehr Platz und mehr Geld für Autos gibt. »Und die Fahrradindustrie glaubt immer, das fiele vom Himmel.«
Autofahrer als Opfer der aktuellen Verkehrspolitik? Wahlslogan einer rechts-populistischen Partei.
Das Thema Verkehrswende sollte auch nicht ausschließlich unter dem Aspekt der Klimakatastrophe diskutiert werden, das würde zu kurz greifen. Bereits der Begriff »Verkehrswende« ist unglücklich gewählt. »Mobilitätswandel« wäre treffender, weil der Mobilitätsbegriff umfassender ist. Jede Wende, jede Veränderung macht Menschen Angst, wie der Kommunikationsexperte Michael Adler feststellt, »weil die unter archaischen Gesichtspunkten immer mit Bedrohung verbunden war«. Daher ist es auch besser von »Wandel« zu sprechen, denn Wandel kommt von innen, er wird von vielen mitgestaltet, ist häufig ein gesellschaftlicher Prozess.
Solche Spitzfindigkeiten sind all denen egal, die heute für die Kontinuität der Dominanz des Automobils kämpfen. Dass die AfD das Auto in Deutschland als »bedrohte Art« sieht, überrascht nicht, »Rettet den Diesel« wurde zum Schlachtruf. Als dann die FDP den Verbrenner mit dem Argument klimaneutraler E-Fuels vor der Verbannung durch die EU schützen wollte, wurde deutlich, dass das Thema offensichtlich auch für den Wahlkampf taugt. Aus dieser Überzeugung schöpft auch der bayerische Ministerpräsident Markus Söder, der Anfang Mai vor großem Publikum erklärte »Bayern ist Autoland und die CSU bleibt auch Autopartei«. Er fügt noch an, dass der ländliche Raum das Auto eben braucht und deshalb auch die Autobahnen weiter ausgebaut werden müssen. Es scheint, als stünden wir wieder ganz am Anfang der Debatte über den Sinn oder Unsinn einer Verkehrswende in Deutschland. Weit her ist es dabei mit dem Niveau vieler Äußerungen zu dieser Auseinandersetzung nicht, besonders wenn man in die digitalen Medien schaut. Die Verkehrswende wird Teil eines Kulturkampfes.
Widerstände gegen Veränderungen gehören dazu, selbst wenn es um Dinge geht, die wir heute für selbstverständlich halten, wie etwa die Einführung der Gurtpflicht 1975.
Dabei ist gar nicht so entscheidend, was da gesagt wird, sondern wie etwas vorgebracht wird. So sagte der im April noch designierte Regierende Bürgermeister von Berlin, Kai Wegner, man werde nicht »gegen den Willen vieler Anwohner 2,30 Meter breite Fahrradwege fertigstellen, die am Ende kaum einer nutzt«. Er sagte das in einem Ton, als wären 2,30 Meter breite Radwege nun wirklich eine absurde Idee. Dabei entspricht diese Breite dem seit 2018 geltenden Berliner Mobilitätsgesetz. Dieses soll jetzt auch vom neuen, CDU-geführten Senat »weiterentwickelt«, sprich: autofreundlicher verändert werden. Kai Wegner wollte aber auch auf den »Klassiker« politischer Polemik nicht verzichten: Es ginge den Anhängern von mehr Radverkehr wohl mehr um Ideologie als um Lösungen. Die anderen wollten mit dem »Kopf durch die Wand«.
Ideologen sind immer die anderen
Ja, der gute alte Ideologie-Vorwurf. Merke: Man selbst lässt sich grundsätzlich nur von sachlichen Fakten, von pragmatischer Vernunft und gesundem Menschenverstand leiten. »Alle anderen sind ja immer Ideologen«, sagt der Politikwissenschaftler und Soziologe Prof. Andreas Knie. Ideologie als abqualifizierendes Schimpfwort. Zwar stammt der Begriff aus dem Griechischen und bedeutet eigentlich etwas sehr Positives, nämlich die »Lehre von den Ideen«. Aber im gängigen politischen Sprachgebrauch steht die Ideologie heute meist für starre und totalitäre Weltanschauungen. Ein Totschlag-Vorwurf also.
Der Riss zum Thema Verkehrswende geht nicht nur durch die Parteilandschaft, sondern auch durch die Wählerschaft innerhalb ein und derselben Stadt. Das zeigt sich vielerorts an den Wahlergebnissen der Stadtteile und Bezirke. Meist befürworten die im Stadtkern lebenden Menschen tendenziell eher die Verkehrswende, während in den Außenbezirken eher konservativ und autofreundlich gewählt wird.
Die verkehrspolitische Auseinandersetzung ist in Deutschland heutzutage oft schon so vergiftet und emotional aufgeladen, dass ein vernünftiger gesellschaftlicher Diskurs über sinnvolle Ziele für die Verkehrsentwicklung fast unmöglich scheint. Dabei entzündet sich der häufigste Streit am Ausbau von Radverkehrsinfrastruktur. Meist geht es hier um die Konkurrenz beim begrenzten Verkehrsraum, insbesondere dann, wenn dem Automobil Platz weggenommen und die Dominanz des motorisierten Individualverkehrs (MIV) eingeschränkt werden soll. Dann wird auch nicht mehr von Kritikern gesprochen, sondern von »Auto-Hassern«. Neben der Pathologisierung einer anderen Meinung wird die Gegenseite auch gern bewusst missverstanden. Bei der Forderung nach »weniger Verkehrsbelastung« wird gleich unterstellt, das Auto solle komplett abgeschafft werden. Gegner und Gegnerinnen jeglicher Veränderungen entdecken dann auch gern ihr soziales Herz: Wo soll der Pflegedienst denn parken? Wie soll die Oma zum Arzt kommen? Und der kleine Handwerks-Familienbetrieb, wie soll der die Kundschaft erreichen? Und ja, natürlich: Ein Tempolimit bedroht grundsätzlich das hohe Gut der Freiheit.
Leider nicht flächendeckend: genügend Platz fürs Fahrrad.
Wir stecken also mitten in einer Auseinandersetzung, in der die wahren Motive der Handelnden meist geschönt sind. Auch handfeste wirtschaftliche Interessen werden verschleiert. Offensichtliche Lobbyisten sind klug genug, nicht offen aufzutreten und lieber Dritte »soziale« Argumente vorbringen zu lassen. Auch die interessierte Politik sorgt sich um den »gesellschaftlichen Zusammenhalt« und fordert deshalb, man müsse bei jeder Veränderung »die Menschen mitnehmen«. Das klingt nett und ist im Kern auch richtig, wird aber einseitig interpretiert. Denn die Politik muss sich natürlich fragen lassen, was sie dafür getan hat, »die Menschen« auf notwendige gesellschaftliche Veränderungen rechtzeitig offen und ehrlich vorzubereiten. Maßnahmen gegen die Klimakrise beispielsweise sind Handlungen zur gesellschaftlichen Gefahrenabwehr, um noch viel größere Schäden für die Spezies Mensch abzuwenden. Das ist nicht ideologisch, sondern schlicht eine Güterabwägung. Über die darf sicher gestritten werden, doch das geschieht bei uns nicht mit »offenem Visier«. Der Debatte fehlt es häufig an der Redlichkeit ihrer Akteure und Akteurinnen. So kann ein gesellschaftlicher Dialog nicht gelingen.
»Die Menschen mitnehmen« ist eine nette Floskel, besonders wenn der Ausspruch unterstellt, man müsse ALLE Menschen überzeugen können. Ein Blick zurück zeigt, dass es gegen gesellschaftliche Veränderungen immer lautstarke und emotional gezeigte Widerstände gab, auch gegen solche, die heute gewiss niemand wieder rückgängig machen will. Drei Beispiele genügen, um das zu belegen: Die Einführung von Fußgängerzonen in den 1950ern (Widerstand der ansässigen Kaufleute), die zwangsweise Einführung des Sicherheitsgurts beim Auto in den 1970er-Jahren und das Rauchverbot in Gaststätten 2008. Immer wurden die Debatten erbittert, und oft auch mit fadenscheinigen und vorgeschobenen Argumenten geführt. Doch am Ende war die Zustimmung überwältigend.
Redlichkeit in der Debatte ist ein wichtiges Stichwort. Wenn sie fehlt, ist einer fruchtbaren Diskussion die Grundlage entzogen. Beim Klimaschutzgesetz spielt aber auch die Bundesregierung selbst eine zwielichtige Rolle. Der Staat erwartet von seinen Bürgerinnen und Bürgern zu Recht Gesetzestreue, aber das muss auch umgekehrt gelten dürfen. Es war schon grenzwertig genug, dass erst das Bundesverfassungsgericht 2021 die Bundesregierung zwingen musste, ihr Klimaschutzgesetz wirkungsvoll nachzuschärfen. Aber gut. Dann stellt die Bundesregierung fest, dass der Verkehrsbereich die gesetzlichen Klimaziele deutlich verfehlt und bei unveränderter Verkehrspolitik auch weiter verfehlen wird. Doch anstatt nun entsprechende Maßnahmen aufzusetzen, beschließt die Regierung die künftige Aufweichung der Sektorenziele, um nicht weiter gegen das Gesetz zu verstoßen. Eine »Insolvenzanmeldung« nennt das Prof. Andreas Knie: Die Regierung sage damit, »Wir wollen uns nicht ändern, weil wir glauben, wir können uns nicht ändern«. Dieser Winkelzug der Bundesregierung, das Klimaschutzgesetz jetzt anzupassen, um sich aus der Schusslinie zu nehmen, hat in der Bevölkerung viel Vertrauen gekostet. Das führt zu einer weiteren Verhärtung.
Anders als bei der Corona-Pandemie, als sich die politischen Entscheider intensiv von der Wissenschaft beraten ließen, scheint die Bundesregierung und allen voran Bundesverkehrsminister Volker Wissing völlig taub gegen jede fachliche Kritik. Die kommt ja nicht nur von den »üblichen Verdächtigen«, sondern praktisch von allen Seiten, auch von Sachverständigen aus dem eigenen Haus. Die auf die Klimakrise bezogene Kritik an der Verkehrspolitik der Bundesregierung ist so eindeutig, dass diese Resistenz schon beispiellos ist. Zuletzt hat Anfang Mai die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in ihrem Wirtschaftsbericht für Deutschland eine Verdreifachung des Tempos bei den Klimaschutzmaßnahmen und mehr Entschlossenheit bei der Verkehrswende angemahnt: »Anstelle von Einzelmaßnahmen, die in erster Linie umweltfreundlichere Autos auf die Straße bringen sollen, braucht es eine ganzheitliche Strategie für nachhaltige Mobilität.« Die OECD gibt auch Hinweise, welche Instrumente Deutschland nutzen könnte: »Viele Chancen, wie zum Beispiel ein breiterer Einsatz von Tempolimits, Mautgebühren für Pkw und leichte Nutzfahrzeuge oder City-Mauten, wurden nicht genutzt; andere, beispielsweise die Anhebung der Parkgebühren, werden nur langsam realisiert«.
Mehr Schaden als Nutzen?
Vor diesem Hintergrund, wo Worte und die Demonstrationen der Fridays-for-Future-Bewegung offenbar wenig nützen, kann es nicht verwundern, dass sich radikalere Formen des Widerstands bilden. Alle wissen, dass die Zeit wirkungsvoller Maßnahmen gegen die Klimakrise extrem begrenzt ist. Besonders betroffen von dieser Situation sind jüngere Menschen, die sich zuletzt mit verschiedenen spektakulären Aktionen (in Museen) oder Verkehrsblockaden in die Schlagzeilen gebracht haben. Aktivisten der »Letzten Generation« erregen mit ihren Aktionsformen die Gemüter.
Verkehrsblockaden sind kein neues Phänomen, aber selten war die politische Bewertung so kritisch wie gegenwärtig gegen die Klimaproteste.
Besonders die Verkehrsblockaden sorgen für Aufregung. Hier scheint ein Nerv getroffen zu sein, der Bürger wie Politik maximal emotionalisiert. Von »Klimaterroristen« ist die Rede und die »Bild«-Zeitung heizt die Stimmung weiter an. Die politische Debatte verlagert sich in dieser Phase weg von den Defiziten der Klimapolitik der Regierung hin zu einem Streit über die Aktionsformen. Einigen dürfte das durchaus entgegenkommen. Es wird der Vorwurf formuliert, die »Klimakleber« schadeten dem Klimaschutz mehr, als dass sie nutzten. Prof. Andreas Knie hält dagegen: »Nur durch die Regelübertretung passiert etwas. ›Ende Gelände‹, ›Extinction Rebellion‹ und die ›Letzte Generation‹ sind solche Regelbrecher und nur durch Regelbrecher wird ein gesellschaftliches Bewusstsein wach.«
Verkehrsblockaden sind übrigens gar keine Erfindung der »Klimakleber«. Es gab auch zuvor schon massive Blockaden in Deutschland und auch anderswo durch protestierende Landwirte. Und letztlich ist jeder Bahnstreik eine Einschränkung der persönlichen Freiheit all derer, die mit der Bahn mobil sein wollen. Doch das scheint im kollektiven Bewusstsein irgendwie anders abgespeichert zu sein. Es scheint im Rechtsverständnis für viele akzeptabler zu sein, wenn Straßenblockaden wegen materieller Forderungen einzelner Gruppen durchgeführt werden, als wenn es um das Gemeininteresse Klimaschutz geht.
Die Verkehrsblockaden der »Letzten Generation« besitzen eine solche emotionale Sprengkraft, dass sie sogar die Grundfeste unserer Demokratie erschüttern. Bundesfinanzminister Christian Lindner erklärte beim FDP-Bundesparteitag im April, Straßenblockaden seien »nichts anderes als physische Gewalt«. Und Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD) sagte angesichts der immer häufigeren Gewaltaktionen durch blockierte Autofahrende, Gewalttaten und Selbstjustiz gegen Klimaaktivisten müssten »leider dann eben auch zur Rechenschaft gezogen werden«. Leider. Aha. Rechtsstaat sieht anders aus. In diesem Klima langte zuletzt auch die Polizei ordentlich hin. Videos von unverhältnismäßiger Polizeigewalt mit sogenannten Schmerzgriffen lösten bei vielen Empörung aus. Hier läuft offenkundig etwas aus dem Ruder. Alles deutet auf eine weitere Eskalation des Protests hin, was für unser Gemeinwesen nicht ungefährlich ist.
Worte prägen Gefühle
Angesichts der verfahrenen Situation stellt sich die Frage, wie es mit der Entwicklung hin zu einer gesellschaftlich breit getragenen Mobilitätswende vorangehen kann. »Wir müssen positiv über eine veränderte Zukunft reden«, sagt Kommunikationsexperte Adler. »Der sprachliche und visuelle Rahmen, der um ein Thema gesetzt wird, bestimmt auch die Gefühle, die mit dem Thema verbunden werden.« So etwas braucht natürlich Zeit, bevor es seine Wirkung entfalten kann. Anders gesagt: Es wäre gut gewesen, wenn wir mit der »neuen Sprache« und den »neuen Geschichten« schon vor vielen Jahren begonnen hätten. Michael Adler: »Wir müssen viel mehr sagen, wo die Reise hingeht, in fünf oder zehn Jahren, auf welche Vorteile wir zusteuern.«
Zum Bild einer positiven Fahrradkultur kann auch die Fahrradwirtschaft einiges beitragen. Dazu muss sie sich allerdings stärker in den gesellschaftlichen Exkurs einbringen. Das ist nicht nur eine Aufgabe der Branchenverbände, deren Schwerpunkt naturgemäß die politische Lobbyarbeit sein wird. Eine Fahrradkultur setzt sich aus unzähligen kleinen Bausteinen zusammen, die in der Summe dann das Mindset der Menschen prägen. Wenn sich die Unternehmen der Fahrradwirtschaft, Hersteller wie Fachhändler vor Ort, überall auf der lokalen Ebene für eine stärkere Fahrradkultur engagieren, dann leisten sie einen wichtigen Beitrag zum Mobilitätswandel mit all seinen positiven Auswirkungen. //
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