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Technik - Sram-Innovationen

Systematisch automatisch

Der Bereich der Kettenschaltungen hat in jüngster Zeit viele Innovationen erlebt. Wer glaubte, dass es damit erst einmal genug der Neuheiten sind, sieht sich getäuscht. Sram stellte in den vergangenen Tagen seine Vorstellungen zur MTB-Zukunft vor und hat dabei einige bemerkenswerte Ideen umgesetzt.

Mit der kabellosen AXS-Schaltung hat Sram die sportliche Kettenschaltung elektrifiziert. Die Eagle-Transmission-Serie eliminiert weitere, bisherige Schwachstellen der Kettenschaltung. Im »Sram Eagle Powertrain« fließt nun beides konsequent zusammen: Ein neues, integriertes Antriebssystem mit Schaltautomatik für sportliche E-MTB-Rider skizziert, wie man sich in Chicago und Schweinfurt die Zukunft des E-Bikes vorstellt.
Der Lenker des brandneuen, ferrariroten Enduro-Prototypen ECC6 des spanischen Trial-Motorrad- und E-Bike-Herstellers Gasgas wirkt ungewöhnlich aufgeräumt, fast zu leer: Man sieht nur zwei Bremshebel, natürlich die Lenkergriffe und, links und rechts, je ein Pod-Bedienterminal mit zwei Tasten. Die Bremsleitungen sind eng und fast unsichtbar am Lenker entlanggeführt. Ansonsten sind weder Zughüllen noch Kabel zu sehen. Und doch ist dies die komplette Lenkzentrale eines E-MTB mit 1x12-Kettenschaltung, Variostütze und Mittelmotor.
Drückt man die Starttaste des ins Oberrohr eingelassenen, kompakten LED-Screens mit Gorillaglas und Farbdisplay, erscheint unter einem Sram-Schriftzug in bekannt-markanter Typographie neben der gewählten Fahrstufe, dem Akku-Ladezustand auch die Meldung »Auto Shift ON« oder »OFF«. Die beiden Minisender steuern vom Lenker aus ein komplett neues Antriebssystem aus Mittelmotor, 630-Wh-Akku und integrierter Schaltautomatik mit der Bezeichnung »Sram Eagle Powertrain«. Zu dieser Technik gibt es einiges zu berichten.
Die autonom von Knopfbatterien gespeisten Pods arbeiten mit ANT+-Funkprotokoll und sind an neu gestalteten Schellen einstellbar. Einmal per Tastendruck aktiviert, wechselt die Automatik entweder völlig selbstständig die Gänge der Eagle-Transmission-AXS-Kettenschaltung, passend zur aktuellen Fahrsituation und den individuellen Voreinstellungen. Oder sie lässt sich vom Fahrer oder von der Fahrerin per Hand dazu bringen.

Die Starttaste im Oberrohr setzt den neuen »Eagle Powertrain« in Gang. Danach laufen viele Schaltvorgänge automatisch ab.

Insgesamt steuert und regelt Sram Eagle Powertrain am Gasgas-Testbike den Motor mit zwei Fahrstufen, die kabellose Dropper-Post-Sattelstütze und die GX-Eagle-Transmission-AXS-Schaltung.
Der Mittelmotor am Testrad ist nicht gelabelt, wird durch seine äußere Form, aber auch von Sram selbst freimütig als Brose Drive S Mag identifiziert. Dieses Modell setzen auch andere Bike-Hersteller als Antriebseinheit in ihren eigenen Systemen ein. Ob da in Zukunft mal ein Sram-eigener Motor arbeiten wird, bleibt offen und Zukunftsmusik. Das Herzstück des Sram Eagle Powertrain ist ohnehin die elektronische Systemsteuerung, die zudem sämtliche bekannten, kabellosen Systemfunktionen, die Sram derzeit bietet, einbinden kann: Neben der Bedienung der Reverb-Variostütze und der Flight-Attendant-Fahrwerkssteuerung ist das vor allem die derzeit aktuellste Variante der kabellosen, elektrischen Kettenschaltunglinie Eagle Transmission AXS, deren sämtliche Komponenten neu konstruiert wurden und damit ein geschlossenes, eng aufeinander abgestimmtes System bilden. »Die neue Transmission-Line hat optimierte Kassetten-Schaltgassen und Zahnprofile am Kettenblatt bekommen. Die speziell konturierte, seitlich deutlich flexiblere Flattop-Kette, ein angeschrägter Schaltwerkskäfig, der die Kettenlinie unterstützt, eine exakt auf die jeweilige Übersetzung angepasste Kettenlänge und natürlich die verwindungsfreie Direktmontage des Schaltwerks am UDH-Ausfallende erlauben bisher nicht realisierbare, präzise Schaltschritte und extrem kurze Kettenstrecken beim Wechsel der Ritzel. Erst diese gründliche Optimierung sämtlicher Komponenten des Antriebsstrangs erlaubte es uns, in der Folge eine Automatisierung der Kettenschaltung zu entwickeln«, betont Srams Pressesprecher MTB Moritz Dittmar bei der Übergabe des Gasgas-Testbikes Mitte September.

Schaltautomatik setzt auf smarten Algorithmus

Die Elektronik der Schaltautomatik arbeitet mit einem Algorithmus, der eine Vielzahl unterschiedlicher Kriterien berücksichtigt. Wie das genau vor sich geht, da hält sich Dittmar bedeckt. Die Pedalkraft, die der Motor ja ohnehin misst, ist jedenfalls sicher eines davon. Die aktuelle Fahrgeschwindigkeit und die Neigungswinkel des Bikes sind wohl weitere. Auch Kadenz und momentane Beschleunigung spielen eine Rolle. In sieben Stufen lässt sich die Charakteristik der Schaltautomatik fein abstimmen. Minus drei steht für langsame Kurbel-Drehzahl und schaltfaules Gleiten in ebener Umgebung. Bei plus drei herrscht ein hochsensibles, aggressiveres Schaltverhalten bei hoher Kadenz und intensivem Pedaldruck. Jederzeit jedoch haben Fahrer oder Fahrerin die Möglichkeit, durch Drücken einer Schalttaste am Pod für etwa 10 Sekunden die Automatik zu überstimmen und den oder die erforderlichen Schaltschritte selbst durchzuführen. Über die zugehörige AXS-App kann man Firm- und Software updaten, die Tastenbelegung der Pods verändern, die Gangauswahl und den Ladezustand der AXS-Akkus und der Pod-Batterien ablesen. Auch beim Feintrimmen des Schaltwerks zur Kompensation von Setzbewegungen oder einer Berechnung der Kettenlänge für andere Übersetzungen hilft die App. Die Powertrain-Automatik lässt sich per App an- oder ausschalten, die Schaltcharakteristik stufenweise verändern oder ein Startgang festlegen. Da der Motor nur die beiden Modi Range (für sparsamen Langstrecken-Betrieb) und Rally (für volle Kraft und Dynamik im Gelände) bietet, lassen sich deren Charakteristiken ebenfalls in der App modifizieren.
Das Powertrain-System speist ein kompakter 630-Wattstunden-Akku mit Zellen höherer Leistungsdichte. Der wird mit tieferem Schwerpunkt und herausnehmbar im Unterrohr montiert. Zugunsten höherer Stabilität fixiert ihn dort nicht ein übliches Klickschloss, sondern eine 5-Millimeter-Inbusschraube. Das etwas geringere Gewicht des nur mittelgroßen Akkus und sein stabilerer Einbau sollen bei sportlicher Benutzung mit harten Impacts Vorteile bringen.

Das Cockpit wirkt sehr aufgeräumt, nahezu alle Komponenten lassen sich ohne großen Aufwand austauschen.

Zum Laden kann, muss man aber nicht den Akku ausbauen. Wer mehr Reichweite benötigt, kann einen Range Extender zukaufen, der, allerdings ausschließlich im sparsameren Range-Modus, weitere 250 Wattstunden beisteuert. Sram kündigt jedoch für die nähere Zukunft auch einen großen, fest verbauten Slide-in-Akku mit 720 Wattstunden an. Interessant ist, dass das AXS-Schaltwerk hier mit einem Kabel­adapter direkt von der Bordelektrik versorgt wird, und, im Gegensatz zu den batteriebetriebenen Pods und der AXS-Reverb-Stütze, keinen eigenen AXS-Akku nutzt. Falls der Hauptakku unterwegs leer wird, bleiben laut Sram etwa zwei Stunden Schaltkapazität und gegebenenfalls Lichtbetrieb übrig.
Natürlich lassen sich auch aktuelle GPS-Computer von Garmin, Wahoo, die Apple Watch und Srams Hammerhead ins Powertrain-System einbinden.
Daneben ist Eagle Powertrain selbst mit mechanischen Sram-Schaltungen kompatibel. Man verzichtet dabei allerdings auf die Auto- und Coast-Shift-Optionen.
Die Elemente Powertrain-Automatik mit Auto-Shift, Coast-Shift und vielfachen Individualisierungsmöglichkeiten auf markeneigener Antriebsplattform sowie Steuerung per App sind so ähnlich auch bei Shimanos Cues oder XT-Di2 zu finden. Dort sind sie vielleicht weniger strikt sportlich ausgelegt und stärker an freizeitorientierte Radler und Radlerinnen adressiert.

»Alles aus einer Hand« ist das Ziel

Zudem unterscheidet sich Sram Powertrain durch die breite Integrationsmöglichkeit verschiedenster Komponenten ab. Insbesondere die kabellose Systematik soll die Kommunikation der Komponenten untereinander sowie Aufbau, Setup und Komponententausch deutlich einfacher machen. Ein anderes Schaltwerk oder neuer Pod sind schnell montiert. Sie benötigen nur ein kurzes Pairing, um im Verbund zu funktionieren. Zudem sind viele Bauteile des Schaltwerks und auch die Tasten der Pods einfach und schnell austauschbar. Die XO- und XX-Serien der Transmission-AXS-Schaltung werden von der günstigeren GX-Serie ergänzt. Weitere Ableitungen in niedrigere Preisgruppen soll es dagegen definitiv nicht geben. »Dazu sind Komplexität und technischer Aufwand der Komponenten einfach zu anspruchsvoll. Eine Billigserie wäre ohne deutliche Funktionseinbußen nicht sinnvoll machbar«, sagt Sprecher Moritz Dittmar. Einen großen Vorteil für OE-Hersteller sieht Dittmar auch in der hohen Produktionstiefe und -vielfalt, die Sram bieten kann. Bis auf Reifen, Sattel, Motor, Steuersatz und Rahmen (in diesem Fall auch die Laufräder), besteht das rote Gasgas ECC6 vollständig aus Sram-Komponenten. »Wir sind stark an einem engen und partnerschaftlichen Verhältnis mit unseren OE-Kunden interessiert und haben extra dafür sogar die Stelle eines technischen Koordinators in Schweinfurt eingerichtet«, sagt Dittmar. OE-Schulungen haben bereits stattgefunden, Händler- und Werkstattschulungen laufen gerade an. Für den Handel werden Zeitaufwand und Erklärungsbedarf im Kundengespräch angesichts der hohen Komplexität dieser neuen Technik sicher nicht geringer. Der Werkstattaufwand wird sich dagegen in Grenzen halten. Hier sind kaum noch aufwendige mechanische Reparaturen oder Einstellarbeiten notwendig. Da geht es dann mehr um zutreffende Diagnostik und eine kundenspezifische Feinabstimmung des Systems. Doch durch das High-End-Preisniveau, in dem Sram die Eagle Powertrain-Technik ansiedelt, bleibt das System zunächst einer sportlichen und finanzkräftigen Klientel vorbehalten. //

1. Dezember 2023 von Jochen Donner

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